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Gestählte Körper für den Kapitalismus

Katja Grote

Wie der moderne Fußball Disziplin und Männlichkeit ins Feld führte

24.04.2007

Befragt nach den "wahren" Ursprüngen des Fußballs beginnen heute so manchem Fan die Augen zu leuchten. Ja früher, da war der Fußball noch ein Spiel der Straße, wild und ungezähmt. Und natürlich "ein Spiel des kleinen Mannes".
Diese romantisch verklärte Sicht auf den Fußball lässt sich mit einem etwas genaueren Blick in seine Geschichte leicht widerlegen. So wurde Fußball, wie wir ihn heute kennen, erstmals an den elitären britischen "Public Schools", gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gespielt. Dort formte das mit der Industrialisierung aufstrebende Bürgertum seinen Nachwuchs ganz im Geist der neuen Zeit. Die populäre Idee des Sozialdarwinismus entsprach der sich verschärfenden Konkurrenz im Kapitalismus und fand sich in der Idee des reglementierten Wettbewerbs im Fußball wieder. Beim Fußballspielen sollten die Jungen auf das "echte" Leben vorbereitet werden. Und da waren Härte, gestählte, kontrollierte Körper und potente Männlichkeit gefragt. All das versprach der Fußball. Im Spiel ließ sich lernen, Niederlagen einzustecken, Hierarchien zu akzeptieren oder Führungsqualitäten zu entwickeln. "Fair Play" lautete die entsprechende Losung. Ein Gentleman spielt emotionslos, hält sich strikt an die Regeln und lässt sich nicht fürs Spielen bezahlen.
Die neu entstandene gesellschaftliche Elite nutzte den Fußball auf diese Weise zur Abgrenzung gegen untere soziale Schichten, denen die angestrebte rationale Kontrolle von Körper und Gefühlen als Fähigkeit gänzlich abgesprochen wurde — genau wie Frauen, Juden, Homosexuellen oder der Bevölkerung in den Kolonien. Der Fußball wurde zum Vehikel für die Konstruktion einer bürgerlichen weißen heterosexuellen Männlichkeit und zur Legitimation ihrer Vorherrschaft. Diese manifestierte sich in Ausschlusspraxen wie der "Gentleman-Klausel" von 1866, die Mechanikern, Handwerkern und Industriearbeitern die Teilnahme an Wettkämpfen untersagte. Und auch die Gegenwehr gegen die Bezahlung von Spielern diente der Ausgrenzung derjenigen, die sich einen Verdienstausfall aufgrund eines Wettkampfs nicht leisten konnten.
Als mit den neu erkämpften kürzeren Arbeitszeiten und der geregelten Fabrikarbeit ein klar abgrenzbarer Freizeitbereich entstand, ließ sich eine Entwicklung des Fußballs zum Massensport nicht länger aufhalten. Während das männliche Industrieproletariat in den rasant entstehenden Großstädten im Fußball einen billigen Sport der Straßen und Hinterhöfe fand, den Wetten und lokale Wettkämpfe attraktiv machten, entdeckten Kirchen und große Unternehmen im neuen Massensport Disziplinierungspotenzial. Sie förderten die Gründung von Fußballvereinen, die für die Arbeiter einerseits sinn- und identitätsstiftend wirkten, andererseits ihr Freizeitverhalten in geordnete Bahnen lenken sollten und die Identifizierung mit dem Unternehmen über den eigenen Verein voran trieben.
Der Fußball trat gegen Ende des 19.Jahrhunderts seinen Siegeszug auch in Kontinentaleuropa an, in Deutschland ebenfalls zunächst über die Höheren Schulen. Die dortigen Lehrkräfte hofften, so den Saufgelagen in den Schülerverbindungen Einhalt gebieten zu können. Auch hier stand die Erziehung zur Selbstdisziplin im Vordergrund. Mit der Initiierung einer massenhaften Spielbewegung hoffte man außerdem, den sozialdemokratischen Arbeitersportvereinen das Wasser abgraben zu können. Die starke nationalistische Turnerbewegung behinderte zunächst die schnelle Durchsetzung des Fußballs als Volkssport. Die an der militärischen Erziehung der Jugend orientierten Turnvereine geißelten das Bolzen gar als "englische Krankheit".
Mit der Gründung des Deutschen Fußballbunds (DFB) 1900 und der ersten deutschen Fußballmeisterschaft 1902/03 war der Durchbruch schließlich gelungen. Als sich im DFB spätestens mit dem Beitritt zum paramilitärischen Jugenddeutschlandbund 1911 der nationalistische Flügel durchsetzte, wurde aus dem Fußball hierzulande "deutsche Arbeit". Für den sich abzeichnenden Weltkrieg wollte auch der DFB kriegstaugliche junge Männer ausbilden. Belohnt wurde er mit einer breiten Anerkennung des Fußballs. Selbst der preußische Kriegsminister lobte das Mannschaftsspiel als Erziehung "zur selbstlosen Opferwilligkeit des Einzelnen und zur Zurückstellung persönlichen Ehrgeizes im Interesse des gemeinschaftlichen Erfolgs".
Die Parallelen zum Militärischen sind nicht nur sprachlicher Natur. 2005 nannte auch Michael Ballack "Leidenschaft, Siegeswille, Aggressivität" "deutsche Tugenden", die er bei der WM "ins Spiel werfen" wolle.
Diese Eigenschaften erweisen sich auch im tagtäglichen kapitalistischen Konkurrenzkampf als nützlich. Das Spiel, die Vereine und der mediale Rummel, der bei einem Wettkampf von 22 Männern Millionen Menschen mitreißt, sorgen für gesellschaftliche Integration. Die Frage von Auf- oder Abstieg wird zum zentralen Thema. Und alles bleibt, wie es ist.

(aus: SOZ, Juli 2006; www.soz-plus.de)