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Zug um Zug – Berlinale 2011: Forum

Kurt Hofmann

„Eigentlich gibt es ihn ja gar nicht, den richtigen Ton. Aber den falschen Ton, den gibt es. Ich habe ihn jedenfalls schon oft gehört... Es gibt ihn in vielen Varianten. Aber er klingt immer gleich, immer falsch.“ Schreibt Josef Bierbichler (Josef Bierbichler/Verfluchtes Fleisch, S.123) und spricht dabei über das Theater. Aber diese vergebliche Suche nach der Wahrhaftigkeit ist auch dem Filmesehenden nur allzu vertraut - während der Berlinale 2011 registrierte man nur allzu oft den „falschen Ton“, im Wettbewerb sowieso, leider bisweilen auch beim einst vielgelobten Forum. Nur selten der unverfälschte Moment, meist bei Filmen gegen die Zeitläufe.

21.03.2011

Kann einer, dessen Leben nach landläufigem Verständnis als chaotisch zu bezeichnen wäre, anderen die „innere Ruhe“ vermitteln? Roger, der als Yoga-Lehrer arbeitet, und, zumindest oberflächlich betrachtet, sein Leben nicht „auf die Reihe bekommt“, ist berzeugt davon… Allerdings sind seine Erwartungen an die Teilnehmenden des Kurses zu hoch gesteckt. Während er eine Übung wiederholen möchte, um deren Wirkung zu vertiefen, schauen diese auf ihre Uhren und machen ihn darauf aufmerksam, dass die Zeit abgelaufen ist, weil er schon wieder zu spät gekommen sei… Aber was ist ihm schon Zeit und Raum? Daheim warten seine aus dem Militärdienst ausgeschiedene Tochter Zoe und deren schizophrene Tochter Maya, die ihn danach zu einem anderen Job begleiten. Er soll fr einen Bekannten dessen haus renovieren. Freilich unterscheiden sich Rogers Vorstellung einer Instandsetzung diametral von jener seines Auftraggebers, den er kurzerhand aus dessen eigenen Haus aussperrt, um seinen künstlerischen Impuls freien Lauf lassen zu können - die lustvoll-destruktiven Neigungen der beiden kaum dem Teenager-Alter entwachsenen jungen Frauen tuen ein Übriges… Roger gilt als lebensuntüchtig und ist eine Nervensäge. Wie er stur und durch alle Zurufe unbeirrt seine Bahnen zieht und sich zugleich listig in einer Parallelwelt verkriecht, als wäre das eine unschlagbare Strategie, gesellschaftliche Anforderungen zu unterlaufen: das kann man Scheitern nennen oder auch eine (auf Müßiggang abzielende) Utopie. Folgerichtig hat Zbigniew Bzymek seinen Langfilm-Erstling auch „Utopians“ (USA 2011) genannt. Habe ich schon erwähnt, dass all dies außerordentlich komisch ist? Wie da einer, assisstiert vom hoffnungsvollen Nachwuchs, Vorgaben wie Effektivität, Leistung und Pünktlichkeit zu ihm unbekannten Fremdwörtern erklärt, und, ver-rückt allemal, damit seine Umwelt in den Wahnsinn treibt? In „Utopians“ werden die heiligen Kühe  der Leistungsgesellschaft reihenweise geschlachtet. Durch einen wie Roger (kongenial verkörpert durch den New Yorker Avantgardetheater-Star Jim Fletcher), der Scheitern im Beckett’schen Sinn als Chance versteht…

 

Im Anfang ein Maskenspiel: Die Götterwelt, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, das längst festgelegte, unabänderliche Schicksal der Menschen. Das umstehende Publikum, Einverständnis mit dieser Sicht der Welt signalisierend…

Gut und Böse, das wäre demnach unverwechselbar: Ebendies zieht Zeze Takahisa in seinem 4 ½ -Stunden Projekt „Heaven’s Story“ (Japan 2010) in Zweifel. Da ist die achtjährige Sato, welche als einzige den Mordanschlag eines Psychopathen auf ihre Familie überlebt hat. Sie sieht im Fernsehen den Bericht über einen ähnlichen Fall: da ist eine Familie, in der Mutter und Kind durch einen Jugendlichen umgebracht wurden. Der überlebende Vater namens Tomoki schwört vor den TV-Kameras Rache, beklagt, dass man den Jungen in die Psychiatrie und nicht sofort in die Todeszelle gebracht hat, will die Sache selbst in die Hand nehmen, wenn die Behörden nicht helfen… Ein Auftritt, wie ihn das Privat-TV und die Sensationspresse lieben. Sato aber, „deren“ Mörder sich durch Selbstmord entzogen hat, starrt auf das Gerät. Diesen Tomoki will sie kennenlernen…

Acht Jahre später: Da ist eine Kunstpädagogin, die erfahren hat, dass sie an Alzheimer erkrankt ist. Schon lange hat sie den in Therapie befindlichen Mörder besucht, nun will sie ihn adoptieren. Man entlässt ihn vorzeitig. Er beginnt, seine „Mutter“ hingebungsvoll zu pflegen… Da ist Tomoki, dem die Rache nicht mehr wichtig ist, weil er eine neue Familie gegründet hat und nicht mehr unter dem Albdruck leiden will. Und da ist die nun 16-jährige Sato, die ihn aufspürt und auf ihrer Ersatzrache besteht, erneut Hass schürt…

Zeze Takahisa erzählt in „Heaven’s Story“ nicht allein diese Geschichten, bringt auch anderes Personal ins Spiel. Bisweilen hat man in den 4 !/2 Stunden Filmdauer die „eigentlichen“ ProtagonistInnen aus den Augen verloren, so wie auch deren Leben Spuren verwischt, welche die rachgierige Sato wieder aufwühlt, die auf dem Stellvertretermord besteht. Aus dem Opfer Sato ist eine Täterin geworden, aus dem einstigen Mörder ein Opfer. War dieses Ende vorbestimmtes Schicksal oder bewirkt „Auge um Auge“ doch nur den Verlust der Sehkraft? Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles fügt sich in Takahisas Film eins ins andere. Wäre da nicht die letzte halbe Stunde, ein Epilog, der in Pathos und Kitsch versinkt. Schade, doch dieses jahrelang vorbereitete Filmprojekt ist dennoch nicht gescheitert, es ist nur nicht perfekt, ebenso wenig wie die von Takahisa vom Himmel geholten Götter…

 

Alle Jahre wieder entdeckt das Forum „unbekannte“ japanische Meister, so wie heuer den 1980 verstorbenen einstigen Naruse- und Ozu-Assistenten Shibuya Minoru, der mit einer Retrospektive geehrt wurde. Und abermals ein Gewinn: Shibuya Minoru erweist sich in seinem Werk als Menschenfreund - und  -Kenner gleichermaßen, der Schwächen und Laster als integralen Teil einer hinter dem Paravent des „Üb immer Treu und Redlichkeit!“ zutiefst korrupten Gesellschaft begreift. Etwa im Sozialdrama „Yopparai tengoku“(„Drunkard’s Paradise“; Japan 1962), das den Abstieg des Oberbuchhalters Atsumi durch Trunksucht zeigt, vorführend, wie sich dieser nach „Vermittlung“ seines Chefs von einem Reichen kaufen lässt, dessen Sohn den seinen im Streit erschlagen hat. Auf die Strafverfolgung soll er verzichten. Atsumi Kozo willigt ein, letztlich, um sich das Weitertrinken leisten zu können. Als es ihn reut, erschlägt er im Suff, vermeintlich Rache für den Tod seines Sohnes übend, den Falschen…

Oder in der Komödie „Akujo no kisetsu“ (The Days odf Evil Women; Japan 1958), welche die Gier als Antriebskraft menschlichen Handelns thematisiert. Eine Burleske, irgendwo zwischen Molieres „Der Geizige“ und den Louis de Funes-Komödien angesiedelt. Shibuya Minoru zögert nicht, auch die Mittel der Klamotte zu bedienen, wenn es ihm nötig erscheint. Der alte Yashiro hat genug Geld, um sich das ewige Leben zu leisten. Vor allem eine Schatulle mit Diamanten hat es aber seiner langjährigen Geliebten, der unehelichen Tochter und dem Neffen, den er ums Erbe betrogen hat, angetan. Am Ende werden, trotz einfallsreicher Mordversuche, die alle kläglich scheitern, sich weder der Alte noch seine potentiellen KillerInnen am Vermögen erfreuen können… Da reiht sich Gag an Gag, da wird im Tempo nichts verschleppt und die komödiantischen „Wuchteln“ sind wahrlich nicht von schlechten Eltern… Um der alten Spruchweisheit „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein!“ Genüge zu tun, lässt Shibuya Minoru gewissermaßen Grube um Grube ausheben, bis alle Opfer der Gier geworden sind und selbst darin liegen…

 

Nach Dominik Grafs vielbeachteter Mafia-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ im Vorjahr nun abermals ein ambitioniertes Fernsehprojekt, dessen Präsentation die Berlinale 2011 bereicherte. „Drei Leben“ (Deutschland 2011) nennt sich ein für die ARD erarbeitetes Gemeinschaftsprojekt von Dominik Graf, Christian Petzold und Christoph Hochhäusler, bestehend aus drei etwa eineinhalbstündigen Fernsehfilmen, die miteinander korrespondieren. Sie verbindet ein (loser) roter Faden: die thüringische Provinz, der Wald (auch: in all seinen metaphorischen Ausformungen) und vor allem – die in allen drei Filmen präsente Figur des Frauenmörders Molesch.

In Petzolds „Etwas Besseres als der Tod“ ist es der Krankenpfleger Johannes, durch dessen Unaufmerksamkeit Molesch aus der Psychiatrie entweichen kann. Während eine aufgeregte Suche nach dem in der Sensationsberichterstattung zum Serienmörder aufgebauschten Serientäter Molesch beginnt, trifft der introvertierte Johannes auf die impulsive Hotelangestellte Ana und verliebt sich. Doch er kehrt schließlich zu seiner einstigen Verlobten, der Tochter des Chefarztes zurück, die ihm bessere Pespektiven bietet: Klassenverhältnisse.

Petzolds Film hat seine Momente: etwa, wenn Johannes auf seinem Zimmer Ana einen Song vorspielt, dessen Text sie nicht versteht. Sie bittet ihn, aus dem Englischen zu übersetzen. Das, meint er, würde den Song ruinieren, tut es aber dann doch und plötzlich wird daraus eine Improvisation in Sachen Liebe. Später, wider seinen Willen, wählt die Tochter des Chefarztes eben diese Nummer während einer Autofahrt aus. Johannes Erinnerung setzt ein…

In Dominik Grafs „Komm mir nicht nach“ wird die Polizeipsychologin Johanna zur Hilfe bei der Suche nach Molesch nach Thüringen geschickt. Sie wohnt bei ihrer Freundin Vera und deren Mann Bruno. Johanna und Vera, die einander lange nicht gesehen haben, erfahren, dass sie einst, bevor sie einander kennenlernten, zu gleicher Zeit in denselben Mann verliebt, und, ohne voneinander zu wissen, Konkurrentinnen waren. Alte Eifersucht keimt auf, Tricks werden ausgepackt, Geheimnisse enthüllt… Johanna aber, die einen Korruptionsfall bei der örtlichen Polizei aufdeckt und dem Frauenmörder Molesch eine Falle stellt, wird immer wieder von ihren beruflichen auf ihre privaten Verhältnisse zurückgeworfen…

In Christoph Hochhäuslers „Eine Minute Dunkel“ schließlich beobachtet eine subjektive Kamera Moleschs Flucht aus dessen Perspektive, durch die Wälder, wie ein gehetztes Tier. Ein schwerkranker alter Kommissar ist ihm auf der Spur, doch der wird von seinen Kollegen nicht ernstgenommen…

Grafs „Komm mir nicht nach“ wirkt in seiner Vielschichtigkeit, seiner souveränen Verknüpfung mehrerer Handlungsstränge am stärksten. Petzolds „Etwas Besseres als der Tod“ erweist sich als aufschlussreiche Spurensuche über provinzielle Enge und die stets unerfüllten Wünsche. In Hochhäuslers „Eine Minute Dunkel“ schließlich erinnert Stefan Kurt als gehetzter Frauenmörder Molesch an den von Peter Lorre verkörperten Kindermörder in Langs „M“. Anders als dieser versteckt er sich aber nicht im Großstadtdschungel, sondern im (mythenbeslasteten/deutschen) Wald. Jeder umgeknickte Ast könnte ihn verraten, jedes Rascheln im Gebüsch könnten seine Verfolger sein. Perspektivwechsel. Angst. Jagdsaison…

Der ARD wäre anzuraten, den aufschlussreichen Mailwechsel über ästhetische Fragen zwischen Petzold, Graf und Hochhäusler, welcher der Überlegung zu einem gemeinsamen Projekt voranging, vor der Erstausstrahlung den ZuseherInnen in seinem Internetauftritt zugänglich zu machen, denn zweifellos ist dieser Gedankenaustausch eine Art Prolog und somit ein integraler Teil von „Drei Leben“.

 

Wer raucht, fällt der Feme anheim. Er/Sie ist der zeitgenössische Gottseibeiuns, der/die ausgetrieben werden muss. Aus dem puritanischen (Nord-)Amerika kommend, wo Genuß allemal mit Sünde gleichgesetzt wird, ist es auch anderswo längst zur Gewohnheit geworden, die Prohibition (ein bekanntermaßen äußerst erfolgreiches Modell aus den 20er-Jahren des 20.Jahrhunderts…) als finale Lösung zu propagieren.

Wer so argumentiert, hat keinen blauen Dunst von der Sache, wie James Benning (dem solche Debatten allerdings herzlich egal sein dürften), ein Nichtraucher, mit „Twenty Cigarettes“(USA 2011) expliziert. Da wird, zwanzigmal in Folge, das Rauchen einer Zigarette gezeigt. Einer quillt dabei weißer Rauch aus dem Mund, als wäre die Pabstwahl eben entschieden. Ein anderer setzt die Zigarette immer wieder ab: der braucht sie offenbar als Hilfsmittel während des Reflektierens. Ein dritter raucht hastig: dem bleibt nicht mehr viel Zeit, um wieder auf seinem Arbeitsplatz zu erscheinen, unübersehbar. Ein vierter legt die linke Hand auf den Mund beim Rauchen - der hat scheinbar sein eigenes Raucherritual… Man erinnert sich, dass es eine Kulturgeschichte des Rauchens gibt. Der Raucher raucht, einfach so? Mitnichten. „Denn in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied“, könnte man, Hofmannsthal paraphrasierend, dazu bemerken. Zug um Zug der Blick auf RaucherInnen, deren Mimik, deren Gestik Rückschlüsse zulässt, zumindest Interpretationsspielraum öffnet. Das Rauchen markiert eine Pause, nicht gerne gesehen in einer Gesellschaft, deren aktuelle Vorgaben Allzeitbereitsein sowie Jetztundsofort sind. Noch etwas: „Diese Stille war ja kaum auszuhalten!“ schreibt Detlef Kuhlbrodt, ein professioneller Betrachter, in der „TAZ“ über Bennings Film. Stille im Kino? Ein unverstellter Blick? Wo kommen wir denn da hin?

 

Soviel wurde im Kino wohl schon lange nicht mehr getrunken. Immer wieder wird eine Flasche geleert, ein Glas aufs Neue gefllt. New York, bei Nacht: Jonas Mekas führt uns in „Sleepless Night Stories“ (USA 2011) durch Galerien, Clubs und Wohnungen, trifft auf Freunde und Geistesverwandte, etlockt ihnen eine Geschichte oder erzählt selbst eine. Sein „Ensemble“ umfasst u.a. Patti Smith, Marina Abramovich, Ken Jacobs, Yoko Ono…, doch darauf kommt es gar nicht an. Nicht wer hier etwas sagt, vielmehr wie es gesagt wird, entspannt, by the way, zwischen zwei drinks, macht den unterschied zum handelsblichen Geschwätz. Anekdoten und Flunkereien, sich Zeit nehmen, als wäre die ín unbegrenztem Maße vorhanden… Irgendwann ist der Film zu Ende und könnte doch endlos so weitergehen: Bitte, noch eine Geschichte, Jonas Mekas!

 

Kurt Hofmann