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Ziegen suchen ihren Weg

Kurt Hofmann

Berlinale 2012: Forum, Panorama

03.03.2012

Vom Papstbesuch in Deutschland bis zu einer Veranstaltung wider das verordnete Einheitsdenken, von der verwirrenden Suche nach Geschlechtsidentität bis hin zum Vergessen all dessen, was war und ist: Ob im Dokumentarischen oder im Spielfilm, der weit gespannte thematische Bogen der Programme von Forum und Panorama im Rahmen der diesjährigen Berlinale ermöglichte Expeditionen durch den Dschungel der falschen Gewissheiten in der besten aller Welten.

Erfurt wartet auf den Pontifex Maximus: Das Ehrenspalier wird gebildet, die Limousinen-Flotte übt das korrekte Wegfahren, die deutsche Polizei wappnet sich für alle Eventualitäten, und die thüringische Ministerpräsidentin Lieberknecht memoriert auf dem Rollfeld mehrfach ihre Rolle, wenn der Papst unmittelbar auf seine wartenden Schäfchen zugehen sollte. "Ich halte mich zurück und stehe interessiert daneben!" wiederholt sie die Formel für ihren Part. Generalprobe. Noch dürfte etwas schiefgehen, aber naturgemäß verhindert das die legendäre deutsche Disziplin.

Thomas Heises "Die Lage" (D 2012; Forum) über die Vorbereitungen auf den Beginn der Reise des obersten Hirten der Christenheit in das Land seiner Geburt expliziert, wie dem Triumph der perfekten Simulation die Lächerlichkeit innewohnt. Wenn dann endlich das Papamobil vorbeifährt, herrscht immer noch Nervosität bei den Zeremonienmeistern des perfekten Räderwerks. Und ewig lauert die Fehlerquelle, die den idealen Ablauf stören könnte. Was, wenn der die Massen grüßende Papst nur ein schauspielender Doppelgänger wäre? Es würde, so weiß man nach Heises Film, keinen Unterschied machen. Das Ritual, der äußere Schein, sind alles. The show must go on.

Wie, wenn das Szenario noch nicht vorgegeben ist? In dieser Zeit des Ausprobierens, des Agierens "ohne Netz" spielt "Koi Ni Itaru Yamai" (The End of Puberty; Japan 2011; Regie: Kimura Shoko; Forum). Der Biologielehrer Madoko steht vor einer Klasse heftig pubertierender SchülerInnen, die ihm nicht zuhören. Bis auf eine, die ihm ihre ganze Aufmerksamkeit widmet, wenngleich sie weniger der Lehrstoff denn die Eigenheiten des Vortragenden interessieren. Tsubara kritzelt ihr Heft mit Karikaturen Madokas voll. Wie er sich ins Haar greift, wenn er nervös wird, und auf die Lippe beißt, wenn er verunsichert ist... Tsubara hat einen Plan, denn sie ist überzeugt, dass sie und Madoka füreinander geschaffen sind. Als sie ihm in dessen Arbeitszimmer überfällt, passiert etwas Seltsames und Unbegreifliches: wie durch einen Fluch belastet, tauschen Tsubara und Madoko ihre Geschlechtsorgane...Die beiden verstecken sich in Madokos Landhaus, doch werden sie bald von En, der besten Freundin Tsubaras und deren hartnäckigen Verehrer Maru gestört. Auch 'Tsubaras schier unerschöpfliche Energie stößt bald an ihre Grenzen: so war das nicht geplant, und eine gewisse, wenngleich fatalerweise stets vom Wissen um das "Seitenverkehrte" gestörte Nähe, die zwischen ihr und Madoko in Zeiten der gemeinsamen Wirrnis entsteht, bringt sie nicht weiter. Zumal En auch noch heimlich in Tsubara verliebt ist und Maru stets im ungünstigsten Moment auftaucht... Nichts ist wie es scheint.

Kimura Shoko verwendet in ihrem Regiedebut die Codes des japanischen SchülerInnenfilms, um diese gleichzeitig zu unterlaufen. Die komische Übersteigerung der sexuellen Nöte der Hauptfiguren von "The End of Puberty" ist dabei keineswegs denunziatorisch angelegt, sondern bedient (in verfremdender Form) lediglich die Regeln des Genres.

Experimente: Ein Geschwisterpaar ist mit dem Auto in einer Grenzregion des Iran unterwegs, den Kofferraum mit Plastiksäcken voller Geld gefüllt. Den Notleidenden soll geholfen werden, ein Foto mit den Empfängern der Wohltat wird jeweils an die unbekannte Auftraggeberin verschickt. Allerdings hat der Edelmut der beiden StädterInnen, die hier in the middle of nowhere angekommen sind, seine Grenzen. Denn bevor sie das Geld übergeben, müssen sich die von ihnen Beschenkten Demütigungsritualen stellen. So wird etwa ein LKW-Fahrer als Lottogewinner beglückwünscht, um dann eine Namensverwechslung festzustellen, und dessen Bruder, der die Fracht als Beifahrer begleitet, als den in Wahrheit Bedachten auszurufen. Vor der Aushändigung der Summe muss der aber erst unterschreiben und auf den Koran schwören, seinem Bruder ja nichts davon abzugeben... Einem anderen verstecken sie das Geld im Acker, um diesen dann, als er es ausgräbt, des Diebstahls zu verdächtigen, etc. Als sie allerdings dem gramgebeugten Vater eines totgeborenen Kindes mit immer höheren Angeboten davon abhalten, diesem in gefrorener Erde ein Grab zu schaufeln, wendet sich ihr Glück…

"Parizaie Sadeh" (Modest Reception; Iran 2012; Regie: Mani Haghini; Forum), der einzige iranische Film dieser Berlinale, ist eine virtuose Gratwanderung zwischen den Anforderungen einer mit Zynismus unterlegten Sitten- (und Gauner-)komödie und jenen der Moral des islamischen Gottesstaates. So viele gute Menschen, welche, wiewohl bettelarm, (zunächst…) kein Geld annehmen wollen, hat man schon lange nicht gesehen und auch die letztliche Beschämung der beiden Schandbaren darf nicht fehlen… Durch derartiges Düpieren der allgegenwärtigen Zensur gelingt es freilich, ein mit vielen "frechen" Dialogen gespicktes Drehbuch umzusetzen sowie ein prächtig unverschämtes Paar als Zentrum eines Filmes zu etablieren, der von Vorgängen erzählt, für die es in der Selbstdarstellung des Regimes nicht einmal einen Namen gibt und sich zudem unausgesetzt Pointen auf Kosten der frommen Landbevölkerung erlaubt...

Als Francine, aus der Haft entlassen, eine Bleibe in einem Kaff in der nordamerikanischen Provinz findet, klopft es an ihrer Tür. Eine wiedergeborene Christin will ihr die Freuden der Gemeinschaft näherbringen. Francine lässt sich zwar nicht bekehren, doch als ihr ein trockener Alkoholiker, ebenfalls auf den Spuren des Lords, einen Job vermittelt, sagt sie nicht nein und bedankt sich bei ihm wie bei der Missionarin mit Sex. Bloß kann Francine (Melissa Leo) keine dauerhaften Gefühle für andere mehr aufbringen, nur für die unzähligen Katzen und Hunde in ihrer Messi-Wohnung. Wen sie auch trifft, wo immer sie auch arbeitet, was auch immer man von ihr erwartet: all dies ist ihr fremd. Einem Alien gleich, der auf einem ihm fremden Planeten gelandet ist, irrt sie umher. Unnötig zu erwähnen, dass das  kein gutes Ende nehmen kann…

''Francine'' (USA/Kanada 2012; Regie: Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky; Forum) profitiert von seiner Erzählhaltung ebenso wie von der Präsenz seiner Protagonistin. Nicht wie Francine  in die Malaise gekommen ist, sondern was sie (durch eine unbarmherzige Leistungsgesellschaft, die für Außenseiter keinen Platz vorgesehen hat, könnte man hier  ergänzen - oder auch nicht) geworden ist, wird hier verhandelt - eine Studie der Entfremdung. "Francine" ist ein intelligenter Independent-Film, über eine, deren Physis und Psyche Zeugen eines Verbrechens an ihr sind. ''Denn tralala, so ist das Leben, / Und dieser Schaden lässt sich schwer beheben:" textete der kürzlich verstorbene Georg Kreisler.

Eine Frau in mittleren Jahren lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem dementen Vater in einem Randbezirk einer lateinamerikanischen Metropole. Eine Pflegekraft kann sie sich nicht leisten, das Sozialamt verweigert die Unterstützung. Längst schon hat sie alle eigenen Ansprüche zurückgestellt, funktioniert nur noch. Wenn sie von der älteren Tochter ermutigt wird, eine Beziehung mit dem Nachbarn und regelmäßigen Besuchen zu beginnen, winkt sie nur ab. Gefühle zu investieren, würde zusätzlichen Stress bedeuten. Schwer genug, das Geld für den Schulausflug der Tochter zu besorgen, den ohne Begleitung hilflosen davon abzuhalten, alleine das Haus zu verlassen, und die ältere Tochter zu überreden, auf das Küken und den Großvater aufzupassen, wenn diese lieber ausgehen will. Eines Tages setzt sie ihren Vater mitten in der Stadt aus, hoffend, dass ihn einer aufnähme...

"La Demora" (The Delay; Uruguay/Mexiko/Frankreich 2012; Regie: Rodrigo Plá; Forum) widersteht, bei aller Tragik des Geschehens, dem Abgleiten in die Sozialschmonzette. Lakonisch erzählend, durchweht den Film gewissermaßen beständig ein kühler Wind. Was dieser Alleinerzieherin in den 1940ern passiert ist kein individuelles Schicksal, es handelt sich um keinen Ausnahmefall und keine Pechsträhne, das ist, und daran lässt "The Delay" keinen Zweifel, in vielen Vierteln lateinamerikanischer Städte bald der Regelfall. Leben von einem Tag auf den anderen. Immerhin, es gibt noch hilfreiche Nachbarn und erstaunlicherweise kennen einige auch noch das Wort Solidarität.

1992: In einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze findet man zwei Leichen. Jäger hätten die beiden Flüchtlinge aus Rumänien, Roma aus Rumänien, nächtens mit Wildschweinen verwechselt, heißt es. Der Fall endet mit einem Freispruch und wird zu den Akten gelegt. 20 Jahre später untersucht Philip Scheffner in seinem Film „Revision“ (D 2012; Forum) noch einmal die näheren Umstände. Da wurden Zeugen nicht gehört, weil man sie kurz nach ihrer Auffindung im Feld wieder abgeschoben hatte. Da ist die Rettung erst nach Stunden eingetroffen. Da war den beiden Jägern, ein Hobbyschütze und ein ehemaliger Polizist als dessen professioneller Begleiter, wohl bewusst, dass nächtens in der Grenzgegend häufig Flüchtlinge in den Feldern unterwegs waren. Da hat einer der zurückverfrachteten Zeugen im Rückblick die Erinnerung, es wäre ein Polizeiwagen am Rande des Feldes aufgetaucht… „Revision“ ist keine der im TV derzeit so beliebten cold case-Fälle, es wird kein Mörder gefunden und keine Vertuschung aufgedeckt. Aber, es wird die Spur zurückverfolgt, die bis in die Gegenwart reicht und über den „Fall“ hinaus relevant ist. Gewiss, Rumänien ist heute bei „uns“, in der EU, aber wie damals wie heute mit Opfern umgegangen wird, die keinen offiziellen Status haben, das ist gleichbleibend aktuell. Dass es im konkreten Fall aus dem Jahr 1992 keiner für nötig befand, die Angehörigen vom Tod der beiden Flüchtlinge zu benachrichtigen, obwohl deren Identität festgestellt wurde, dass die „Wildschwein-Verwechslung“ nie ernsthaft hinterfragt wurde und keine/r eine Entschuldigung für den „Vorfall“ in Erwägung gezogen hat, ist die eine Seite der Medaille. Wenn sich aber herausstellt, dass man auch noch das Geld aus der Unfallversicherung „gespart“ hat, indem man die Angehörigen über ihre Rechte nicht informierte, ist das eine Form der Bosheit, wie man sie aus Ödön von Horvaths Stücken nur allzu gut kennt. Die Spur ist also noch älter: Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.

Seit Zwickau wissen auch die Dümmsten, dass die Nazis nicht verschwunden sind. Natürlich kann (und soll) man bei Gelegenheit brauner Tiraden der Lächerlichkeit preisgeben, wie es der finnische Regisseur Timo Vuorensola in "Iron Sky" (Finnland/Niederlande/Australien 2011; Panorama), einer auf trashigen "Kultfilm" getrimmten Komödie tut. Dort haben die alten Nazis 1945 auf dem Mond eine Kolonie errichtet und wollen 2018 zurück auf die Erde. Da ist die Tea-Party-Führerin Präsidentin der USA und freut sich, weil der "Krieg" mit den Nazis mutmaßlich ihre Wiederwahl sichert. Wenn Udo Kier den Mond-Nazi-Führer Kotzfleisch gibt und Tilo Prückner einen verrückten Wissenschaftler, sind die Lacher ebenso garantiert wie durch diverse tagesaktuelle "Wuchteln" - allzuviel darf man sich aber nicht erwarten.

Freilich überholt die Realität oft die Satire, denn in der braunen Esoterik-Szene zählen die Nazis am Mond seit Jahr und Tag zu den beliebten braunen Gutenachtgeschichten… Und, noch einmal, es gibt sie immer noch, die Nazis, wie der Autor Thomas Kuban seit Jahren durch seine Undercover-Reportagen aus der Neonazi-Szene belegt. Peter Ohlendorf hat dessen Berichte aus der Rechtsrock-Szene in "Blut muss fließen - Undercover unter Nazis" (D 2012; Panorama) dokumentiert. Für Erstkontakte und die Finanzierung der "Bewegung" ist das florierende Musikgeschäft bestens geeignet. Hier werden Jugendliche radikalisiert und wenn "Blut muss Fließen!" erklingt, dann wird regelmäßig weggesehen und –gehört. Thomas Kuban, der trotz funktionierender Tarnung nicht mehr weiter macht, weil sich keine Fernsehanstalt für das Material interessiert.

Im Dezember 2011 lud das Berliner Haus der Kulturen der Welt zu einem Symposium über das demokratische Selbstverständnis in Zeiten des "Alternativlosen". KünstlerInnen und Intellektuelle wie Roger Willemsen, Harald Welzer, Franziska Augstein, Ingo Schulze u.a. argumentieren dort gegen die Diktatur des "Sachzwangs" und die Marktlogik. Dass Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität als entwicklungshemmend betrachtet und abgetan werden, sollte nicht länger hingenommen werden. Romuald Kamakar hat in seiner Dokumentation "Angriff auf die Demokratie - Eine Intervention" (D 2012; Panorama) das "found footage" montiert und durch einen eigenen Kurzfilm bereichert, der den Titel "Ralph N. Elliot entdeckte, dass die Bewegung der Märkte allein durch das psychische Verhalten der Marktteilnehmer wiedergegeben wird." trägt und eine Ziegenherde zeigt, die sich völlig unvorhersehbar bewegt... Die "Interventionisten" wider die offizielle Gehirnwäsche wollen es mit der einmaligen Veranstaltung im Haus der Kulturen nicht bewenden - ihre Stimmen sollten Gehör finden.