Wie der Mensch zur Ware wird – Zu: “It’s a Free World” von Ken Loach
Ken Loach wählt diesmal nicht das Opfer zur Hauptfigur sondern den Ausbeuter. Eine ungewöhnliche, aber sorgfältig angelegte und ausgearbeitete Wahl, wobei uns die Hauptfigur noch nicht einmal unsympathisch daherkommt: Sie ist kein Ungeheuer, sondern kämpft nur um eine bessere Existenz. Eigentlich ist sie ja nur das perfekte Erzeugnis der aktuellen Verhältnisse. Um Kundschaft zu kriegen, muss sie konkurrenzfähig sein, und um konkurrenzfähig zu sein, glaubt sie Dinge tun zu müssen, die sie verabscheut...
25.04.2008
Nach seinem letzten Film (The Wind that Shakes the Barley), der vom Widerstand der Iren gegen die englische Besatzung in den 1920er Jahren erzählt, greift Ken Loach wieder ein aktuelles Problem auf, den Liberalismus der Gegenwart, den er einer schonungslosen Kritik unterzieht.
Katowitz in Polen. Angie, Angestellte in einer Zeitarbeitsvermittlung, wirbt EmigrantInnen an. Sie vermittelt Krankenschwestern als Putzfrauen und Au-pair-Mädchen. Aber Angie ist auch alleinerziehende Mutter, die verzweifelt versucht, das Aufsichtsrecht über ihren Sohn, das den Großeltern zugesprochen wurde, wiederzuerlangen. Sie verliert ihre Stelle, nachdem sie einen Vorgesetzten hat abblitzen lassen, und muss wieder um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Schließlich ringt sie sich dazu durch, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, gemeinsam mit ihrer Mitbewohnerin und Freundin Rose. Anfangs noch sympathisch, großzügig und anziehend, arrangiert sich Angie immer mehr mit den Verhältnissen, deren Opfer sie noch kurz zuvor war, und verkauft sich scheinbar mit Leib und Seele. Um immer mehr Geld in immer kürzerer Zeit zu verdienen, entschließt sie sich, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis auszubeuten, und geht sogar so weit, sie zu denunzieren, um an ihre Wohnungen ranzukommen. Um dem Elend um jeden Preis zu entrinnen, verrät sie schließlich diejenigen, denen sie eigentlich helfen wollte.
Die Logik des Systems…
Ken Loach wählt diesmal nicht das Opfer zur Hauptfigur sondern den Ausbeuter. Eine ungewöhnliche, aber sorgfältig angelegte und ausgearbeitete Wahl, wobei uns Angie noch nicht einmal unsympathisch daherkommt: Sie ist kein Ungeheuer, sondern kämpft nur um eine bessere Existenz. Eigentlich ist sie ja nur das perfekte Erzeugnis der aktuellen Verhältnisse. Um Kundschaft zu kriegen, muss sie konkurrenzfähig sein, und um konkurrenzfähig zu sein, glaubt sie Dinge tun zu müssen, die sie verabscheut. Sie kassiert die Steuern von den ArbeiterInnen, ohne sie an den Staat abzuführen, sie bringt die ArbeiterInnen in Elendsquartieren unter, für die sie horrende Mieten kassiert, sie stellt Leute ein, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben etc. Ihre Herangehensweise ist ganz einfach und entspricht im Grunde den Regeln des Warenaustauschs: Kaufe so billig als möglich und verkaufe so teuer als möglich.
Ken Loach über seine Protagonistin: “Ich denke, dass sich das Publikum mit Angie identifizieren kann. (…) Man kann sie nicht einfach ablehnen und behaupten, es gäbe keine Gemeinsamkeiten zwischen ihr und uns. Denn das System funktioniert nur dank solcher Angies – Leuten also wie Sie und mich.”
Angies Welt ist nicht die der skrupellosen Vorarbeiter und Schichtführer oder der mafiösen Clans, die bedenkenlos Gewalt anwenden. Sie umgeht das Gesetz eher, als dass sie es herausfordert. Diese “gemäßigte” Version der Ausbeutung der FremdarbeiterInnen ist hinterhältiger, weil sie weiter verbreitet ist und eher toleriert – oder besser: ignoriert – wird. Angie stellt eine moderne und mutige Frau dar, die in der Not fähig ist, von der Seite der Unterdrückten auf die der Unterdrücker zu wechseln.
Ken Loach verdammt nicht Angie, sondern das System, das ihren Egoismus hervorruft und ihr Alibis und Rechtfertigungen für ihre Schandtaten liefert.
“It’s a Free World!” – ein ironischer Titel, der uns eine Gesellschaft vorführt, in der sich Freiheit auf freie Marktwirtschaft reimt. Die “Freiheit” der ArbeiterInnen besteht darin, ihre Familien zurückzulassen, um sich in anderen Ländern ausbeuten zu lassen. Die Freiheit der Unternehmer wiederum besteht darin, stehlen, betrügen und die Anderen reinlegen zu dürfen, ohne sich übermäßig Verdruss zu bereiten.
Angies Vater, der auch eine Hauptrolle in dem Film spielt, offenbart seiner Tochter seine Bestürzung: wie kann sie nur alle sozialen Errungenschaften negieren, die im 20. Jahrhundert so hart erkämpft wurden?! Angie gebraucht diese schrecklichen Worte, um sich von ihren Taten weißzuwaschen: “Wir leben in einer freien Welt …” Somit unterstreicht sie den Graben, der sich binnen kurzer Zeit zwischen zwei Generationen von ProletarierInnen aufgetan hat.
Was die Stärke des Films ausmacht, sind nicht nur die kraftvollen Dialoge, die nüchtern und eindrucksvoll daherkommen, sondern auch das ausgewogene Spiel der Darsteller. Um dies zu erzielen, blieb nur, sie in die Entstehung zu involvieren. Ken Loach sucht nicht nach berühmten Namen sondern nach Charakteren. Als er Kierston Wareing für die Rolle der Angie aufgabelte, stand sie zwei Monate vor der Prüfung als Rechtsanwaltsgehilfin, und er ließ sie in bestimmten Szenen mehr improvisieren, als dass sie das Drehbuch wiederkäuen musste. Ein anderes Beispiel ist Angies Vater, der von einem ehemaligen Gewerkschaftsvertreter der Werftarbeiter verkörpert wird und insofern glaubwürdig wirkt, wenn er seiner Tochter vorwirft, die Verhältnisse der Arbeiter zu verraten.
Um ein allzu einstudiertes Spiel zu vermeiden, wurden die DarstellerInnen täglich mit ihren Auftritten neu konfrontiert und die Dreharbeiten vollzogen sich in der chronologischen Abfolge, auch wenn dies kostentreibend war. Wenn Gewaltszenen gedreht werden mussten, konnte es sogar passieren, dass die DarstellerInnen gänzlich unvorbereitet waren.
BerufschauspielerInnen und LaiendastellerInnen gerieten auf diese Weise auf einer Ebene aneinander, die frei improvisiert und kaum ausgeleuchtet wurde, um somit die “geringstmögliche Distanz zwischen Kino und sonstiger Welt” zu erzielen.
Unter diesen Bedingungen erzielt man besonders authentische Schauspielergebnisse.
Die unsichtbare Ausbeutung
Das Ende des Films liefert uns keine Lösung, was wenig ausmacht. Bestehen bleibt, dass der Mensch zur Ware wird. Überlassen wir das Schlusswort Paul Laverty, dem Drehbuchautor: “Es sind viele Personen wie Angie erforderlich, um die komplexe Maschinerie am Laufen zu halten, die über outsourcing und weitere Untervergabe von Arbeit uns am Ende ermöglicht, unser frisch zubereitetes Sandwich zu kaufen, unser Tiefkühlhähnchen und unser Schälchen Erdbeeren. Diese in unserem Alltag unsichtbare und ausgebeutete Arbeitskraft spielt in allen Belangen unseres Lebens eine Rolle. Vielleicht brauchen wir die Unverfrorenheit dieser Angies, die den Drecksjob an unserer Stelle übernehmen und uns nicht konfrontieren mit den schmutzigen Details, die in den Umschlagplätzen außerhalb der Städte vor sich gehen …”
Quelle: SolidaritéS, Januar 2008 (Übersetzung: MiWe)