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Wege und Irrwege

Kurt Hofmann

Zur Berlinale 2014

24.02.2014

Dass das Private politisch sei: Diese Erkenntnis spiegelte sich in den meisten der diesjährigen Festivalhöhepunkte  wider. Entgegen der offiziellen Ansage der „politischen“ Filme, die wie meist nur ästhetisch Gescheitertes (siehe Godard: nicht „politische“ Filme machen, sondern Filme politisch machen) bezeichnete,  werfen diese Projekte in ihrer scheinbaren Privatheit (oder auch: in ihrem  Operieren aus einer privaten Sphäre heraus) einen  kritischen Blick auf erstarrte Gesellschaftsformen und interessierten sich für Wege ins Freie.

Wie jedes Jahr war die Juryentscheidung umstritten, zumal die Wahrnehmung betreffend den überragenden Film des Wettbewerbs selten so einmütig war. Doch nicht Richard Linklaters „Boyhood“ gewann, sondern „Bai Ri Yan Huo“ (Black Coal, Thin Ice; VR China 2014, Regie Diao Yinan; WB) – dennoch keine schlechte Wahl.  Die erste Überraschung: zwei der drei chinesischen Wettbewerbsfilme waren Genre-Filme. Die zweite: wie dieser, „Black Coal, Thin Ice“, einen Gescheiterten, Ausrangierten als Protagonisten wählt. Zang Zili ist einer der Ermittler,  als zerstückelte Leichenteile in mehreren Fabriken in  Kohlehaufen gefunden  werden.  Ein Serientäter wäre vorstellbar, doch die Polizei verfolgt die Spur einer Gruppe von Kriminellen, die als Hauptverdächtige gelten. Zang Zili nimmt mit zwei Kollegen deren Verfolgung auf, als es zu einer Schießerei kommt, sterben diese bei der taktisch schlecht vorbereiteten Operation. Dem Überlebenden, dessen Alkoholismus ein  offenes Geheimnis ist, wird die Schuld am missglückten Einsatz gegeben. Man suspendiert Zang Zili vom  Dienst, dessen sozialer Abstieg beginnt… Fünf Jahre später: Zang Zili hat einen Job als Wachmann in einer Fabrik gefunden. Ein Deja-vu: Zang Zili entdeckt den ersten einer neuen Serie von Morden, die frappant an die fünf Jahre zurück liegenden Verbrechen erinnern. Er kontaktiert einen ehemaligen Kollegen und beschließt, under cover  einer viel versprechenden Spur nachzugehen…  Wenn die Angehörige eines Opfers von den Polizeibeamten angeherrscht wird, weil sie „immer noch“ angesichts der Todesnachricht weint, statt deren  Fragen zu beantworten, und solchermaßen doch die Ermittlungen behindere, so wirft dies nicht nur ein bezeichnendes Bild auf die Kälte im Land, sondern legt auch nahe, warum Zang Zili, der stets abseits der vorgegebenen Schemata agiert, zum Trinker geworden ist… Wie Zang Zili ermittelt, wie Regisseur Diao  Yinan dabei immer wieder Bezugspunkte zum  Film  noir findet (der „Malteser Falke“ und Bogart lassen grüßen…), das ist von schwarzem Humor  und Mut zum Schrägen unterlegt, auch, dass die Frau, in die sich sich Zang Zili verliebt, durchaus zu den Hauptverdächtigen zählt, passt da ins Bild… Zang Zili entspricht in allem,  was er tut (oder  noch häufiger: läßt), nicht den gesellschaftlichen Vorbildern in China, ist weit davon entfernt, zum „Helden der Arbeit“ ernannt zu werden.

So einer ist nicht einmal ein  Verweigerer,  dazu fehlt ihm  die Energie – Zang Zili ist auf seltsame Weise ebenso müde und mürrisch wie hartnäckig und schlau. „Nur“ ein Genrefilm ohne „politischen“ Bezug? Doch die Wahl einer Hauptfigur wie Zang Zili, die in einem  China weitab der Hochhäuser und des Wachstums agiert, ist auch ein Statement. „Black Coal, Thin Ice“ stellt einen gesellschaftlichen „Versager“ ins Rampenlicht – ein Gegenpol zum proklamierten schneller, weiter,  besser…

Für zwei Tage erklärt Mehran Tamadon das Landhaus seiner Familie zum exterritorialen Gebiet: hier trifft er, der sonst im französischen Exil lebende Regisseur, vier geistlich geschulte Befürworter des iranischen Regimes, die er überredet hat, mit ihm über ein bestmögliches System des Zusammenlebens zu diskutieren. Zwei Tage lang sollen idealerweise Pluralismus und Toleranz simuliert werden – zumindest in der Theorie könne man  sich doch untereinander austauschen, wenn es schon  in der alltäglichen Praxis bekannterweise unmöglich sei…

Schwer vorstellbar von Anfang  an, dass da einer die Anderen oder diese ihn  überzeugen. Dennoch  entwickelt sich dieses von Tamadon über zwei Jahre vorbereitete Experiment auf eigenartige Weise: angekommen in „Iranien“ (Frankreich/Schweiz 2014; Regie Mehran Tamadon; Forum) nehmen die vier Kleriker den entschiedenen Vertreter einer säkularen Gesellschaft nicht in ein inquisitorisches Verhör, sie entwickeln vielmehr einen sportlichen Ehrgeiz, ihn – wie in einem  Schachspiel – mit Worten zu besiegen. Ein geschickter (Winkel-) Zug folgt dem anderen, aber schachmatt ist Tamadon nach dem zweitägigen Austausch der Argumente dennoch nicht. Hat  er doch die Prediger  von  der Kanzel geholt  und für die Dauer ihrer Anwesenheit in entspannte, intellektuell konzentrierte Gäste verwandelt. Abends, wenn gemeinsam gegrillt wird, ist so etwas wie ein privater Austausch möglich, es  wird sogar miteinander (und nicht: übereinander) gelacht. Danach: Zurück zur Tagesordnung. Mehr war keineswegs zu erwarten. Immerhin: Die Mullahs sind zu Beginn  des Experiments im „Feindesland“ eingetroffen und gehen nach zwei Tagen nicht unversöhnt, sondern bloß als Rivalen: das ist ein feiner Unterschied, auch wenn „Iranien“ danach aufgelöst wird…

Die Präsentation eines „vergessenen“  Meisters der japanischen Filmkunst ist mittlerweile ein fixer Bestandteil  des Forum-Programmes. Von Noboru  Nakamura, einem  der wichtigsten Regisseure des Shochiku-Studios, stammt „Doshaburi“ (When it rains, it pours; Japan 1957; Regie: Noboru Nakamura; Forum).

Matsuko liebt ihren Kollegen Kazuo. Deren Chef, an  „Vorzeigepaaren“ ebenso wie an geordneten Verhältnissen interessiert, ermuntert die beiden, sich zu verloben. Der Arbeitsplatz soll als „Ersatzfamilie“ gelten,  eine in Japan bis heute beliebte Verkleisterung von Abhängigkeitsverhältnissen. Doch die verordnete Harmonie hält nicht lange, denn Kazuos dominante Mutter entdeckt, dass Tane, Matsukos Mutter, eine kleine  Herberge führt, deren  Gäste sich neugierigen Nachstellungen wie dem gängigen Moralcode entziehen möchten. Und: Tane ist noch dazu allein erziehend, bezieht den Vater ihrer Kinder, der  mit einer anderen Frau verheiratet ist, bei seinen regelmäßigen Besuchen  aber wie selbstverständlich als Familienmitglied ein. Skandal! Die Verlobung wird gelöst und Matsuko verliert ihren Arbeitsplatz. Jahre später ist Matsuko, die ihre Familie ebenso wie ihren Wohnort bei Nacht und Nebel verlassen hat, in einer anderen Stadt in einem Nachtclub – also in dem Job, den ihr die Gesellschaft „zugewiesen“ hat - , tätig und trifft dabei zufällig auf Kazuo, welcher, nun ebenfalls als Ausgestoßener, wegen eines Bestechungsskandals von  der Polizei gesucht wird.  Matsuko kehrt heim, will den immer noch Geliebten in der Herberge verstecken, doch die Gespenster der Vergangenheit lassen sich nicht bannen…

Ein einfaches Symbol mit vielseitigen Bedeutungsebenen: Wenn die Leuchtreklame über der Herberge aufflackert, signalisiert dies sowohl die „verwerfliche“ Überschreitung moralischer Grenzen aus der Sicht von Kazuos Mutter und anderen „guten BürgerInnen“, sondern verweist auch auf die unüberwindlichen Schranken, gegen die Matsuko stößt. So auch die Geräusche der vorbeifahrenden Züge: Zum einen die gesellschaftlichen Vorurteile, die unüberwindbar scheinen, da „fährt die Eisenbahn drüber“, zum anderen: wie Matsuko stets die „Abfahrt“ versäumt, immer zu spät kommt, wenn sie versucht aufzubrechen…

„When it rains, it pours“ zeigt eine erbarmungslose Gesellschaft mit ebenso rigiden wie verlogenen Moralvorstellungen. Vor den Eltern sterben die Kinder: Als Ausweg und finaler Ausstieg bleibt Matsuko und Kazuo nur der Tod…

Ein Ort religiöser Ertüchtigung: Der junge Priester hat eine Gemeinde von vierzehnjährigen SchülerInnen um sich versammelt,  die er zu GlaubenskriegerInnen machen will. Alles, was in der Pubertät interessant und wichtig sein könnte, will er aus  den  Köpfen seiner Schützlinge verbannen. Vielmehr sollen sie die Gleichaltrigen anagitieren,  ihnen deren sündhaftes  und sinnloses Leben aufzuzeigen… Maria ist Teil dieser Gruppe und eifrig bemüht,  den Forderungen des Priesters und ihrer Eltern,  die Teil der  „Priesterbruderschaft“, einer ultrakonservativen katholischen Sekte, sind, zu genügen. Einerseits. Andererseits ist Maria ein normaler  Teenager, und es gibt auch einen  Jungen  in ihrer Klasse, der ihr  Interesse geweckt hat.  Maria leidet unter dem  Zwiespalt zwischen ihrer „Bestimmung“ (als Sektenmitglied) und ihren Bedürfnissen. Bei einer Notlüge ertappt, bricht Maria unter dem Druck ihrer bigotten Mutter und des Priesters, beide Hardliner Gottes, zusammen. Von  nun an will sie die eigenen Wünsche aus ihrem Gedächtnis streichen und sich dem  Opfertum widmen.

Den „Kreuzweg“ (Deutschland/Frankreich 2014; Regie: Dietrich Brüggemann; WB) gehen: das wird von Maria und ihren gleichaltrigen LeidensgenossInnen seitens der Sekte erwartet. Unterteilt von Zwischentiteln, die den vierzehn Bildern des Kreuzweges entsprechen, von  „Jesus wird zum  Tode verurteilt“, bis „Der heilige Leichnam  Jesu wird ins Grab gelegt“ wird die langsame Auslöschung eines  Mädchens durch den religiösen Wahn in allen  Konsequenzen, deren letzte der Tod ist, vorgeführt. Wenn die abgemagerte und völlig entkräftete, aber „beseelte“ Marie im Spital die Hostie nicht mehr aufnehmen kann, und die Ärztin das mit einem ärgerlichen „Keine feste Nahrung bitte!“ kommentiert, ist das  im  Kino ein Lacher – wohl die adäquate Reaktion auf das  wirre Gedankengebäude der fanatischen GlaubenskriegerInnen. Das hilft  freilich den in  einer  Parallelwelt lebenden Opfern von derlei Sekten auch nicht weiter… Brüggemanns „Kreuzweg“ besticht in seiner  formalen Stringenz,  gleicht aber darüber hinaus, anders als Hans- Christian Schmids „Requiem“, der eine ähnliche Thematik verfolgte, aber  die „besessene“ Hauptfigur seines Filmes in den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen der späten sechziger Jahre (des zwanzigsten Jahrhunderts) in der BRD stellte, eher einem  Laborversuch: „Womit bewiesen wäre…“  .

Diese Erkenntnis wird nicht überschritten, ebenso das  Zeitlose des filmischen Berichts betont. Eine Fallstudie, die über ihren Zweck hinaus an Weiterführendem nicht interessiert ist.

Die alleinerziehende Helena ist Sexarbeiterin in einer Agentur für Escort-Service, die ausschließlich von Frauen betrieben wird. Eigentlich ist Helena Schauspielerin, aber im Verlauf der vielen Castings,  zu denen sie geht, wird  sie entweder als nicht typgerecht abgelehnt, oder ärger gedemütigt, als es in ihrem „Zweitberuf“ jemals vorstellbar wäre. In Seminaren ihrer Agentur lernt sie, die Kontrolle über das bezahlte Geschehen zu behalten und kann (bisweilen) ihre schauspielerischen Vorstellungen in ihrem Job zu einer  Performance verdichten… So hat sich das Alice Schwarzer  mit der Prostitution gewiß nicht vorgestellt, aber Tanja Turanskyjs „Top Girl“ oder La Deformation Professionelle“ (Deutschland 2014; Forum) ist auch keine  Live-Reportage aus dem Rotlichtmilieu, sondern ein Planspiel über Arbeits- und Geschlechterverhältnisse. Zwei charakteristische Szenen verdeutlichen dabei Turanskyjs Intentionen: Als Helena in einem  Casting für einen Werbespot aufgefordert wird, sich „mal so richtig notgeil“ zu verhalten und dabei Sexismus als selbstverständlicher, nicht zu hinterfragender Teil der Medienindustrie sichtbar wird. Und in der Schlusssequenz, als Helena durch Vermittlung eines Stammkunden ihren Aus- und Aufstieg von der Sexarbeiterin zur selbstständigen „kreativen Produzentin“ feiert und dabei ein Szenario für ein  „Firmenwochenende“ entwickelt, als dessen Höhepunkt Helenas Frauenensemble, welches das „Wild“ in einer „Treibjagd“ quer durch einen Wald verkörpert, nackt und erlegt zu den Füßen ihrer  männlichen „Jäger“ liegt, die daraufhin feierlich „Ein  Jäger aus Kurpfalz“ anstimmen… Das ist zum  einen: eine ironische Volte. Helena hat auf den  Punkt gebracht, wie die männliche Jagdgesellschaft tickt. That’s the name of the game. Zum anderen: Indem  Helena (erniedrigende) Männerphantasien bedient, schafft sie es, auf einen höheren professionellen Level zu gelangen. Indem  sie ihren kreativen  Freiraum nur marginal (und letztlich:“systemkonform“) nutzt, schafft sie es , ihren persönlichen Freiraum zu erweitern. Anpassung und Verrat als Schlüssel für den Aufstieg statt der angestrebten Autonomie: es ist, wie es ist…

Zwölf Jahre im Leben eines US-Amerikaners: Was Richard Linklater mit „Boyhood“ (USA 2013; Regie: Richard Linklater; WB) unternommen hat, ist in der jüngeren  Filmgeschichte ohne  Beispiel. Über ein Dutzend Jahre hat er seine Geschichte des Aufwachsens vom Kind zum Mann mit seinem Protagonisten Ellar Coltrane gedreht. Jahr für Jahr standen dieser sowie seine  Filmeltern  Patricia Arquette und Ethan  Hawke für Aufnahmen betreffend ein neues Kapitel im Leben von Mason,  der Hauptfigur von „Boyhood“,  zur Verfügung. Jetzt ist das Werk vollendet und um keine der 164 Minuten zu lang.

Mason wächst in Austin, Texas auf. Schon  der Sechsjährige ist ein aufgewecktes Kind. Wir werden ihn in  den darauffolgenden Jahren als  neugierig auf die ihn  umgebende Welt, aufnahmebereit für Einflüsse aller Art und musisch begabt, kennenlernen. Seine Mutter, die alleinerziehende und stets ein wenig überforderte Olivia hält (zumindest nach außen hin) Distanz zu ihrem geschiedenen Mann, einem liebenswerten Chaoten, der kommt und geht, wann  es ihm passt, und dennoch versucht, dem Kind und dann insbesondere dem Jugendlichen nahe zu sein, wenn es darum geht, sich weiterzuentwickeln. Da ist noch Masons ältere Schwester Samantha (gespielt von  Linklaters Tochter Lorelei), innerfamiliäre Konkurrentin und auch ebenso engste Verbündete (je nachdem…). Aber nach und nach treten „Ersatzväter“ in  Masons Leben, etwa ein brillianter Universitätsprofessor, der sich in der Familie als Säufer, Tyrann und Schläger entpuppt. Wenn er Mason die langen  Haare auf Bleistiftlänge kürzt, so ist dies in seiner für Mason entwürdigenden Konsequenz eine der erschreckendsten Szenen des Films. Später wird Olivia mit ihren  Kindern aus dem Haus vor diesem Mann, in  dem sie sich so getäuscht hat, flüchten. Mason  hat keinen bleibenden Schaden erlitten, er kommentiert und bilanziert sein Erlebtes, zieht seine Schlüsse nach allen Stationen seines jungen  Lebens. Vor dem Eintritt ins College stehend, ist Mason immer noch klug und talentiert, es ist weder ein Genie noch ein Versager aus ihm geworden, aber einer, der offen ist für neue Erfahrungen.

Linklaters „Boyhood“ ist  - auch – ein  coming-of-age-Film, erste Liebe und – Enttäuschung, beengte Welt, Rebellion, Experimente, all dies ist auch in  Masons Geschichte vorhanden. Doch sie wird, wie auch die Konflikte der Erwachsenen, in  Linklaters unvergleichlich entspannten Erzählfluss  eingebaut, der höher zielt,  je unangestrengter und durchschnittlicher er  wirkt. Er entwickelt einen spezifischen Klang, dem nichts Falsches oder Konstruiertes anhaftet. Masons Geschichte ist verwoben mit jener der USA seit 2002, kulturgeschichtlich wie politisch. Wenn  Mason zum siebzehnten  Geburtstag von seinen  Großeltern  beschenkt  wird, packt die Oma eine Bibel aus und  der Opa ein Gewehr:  Willkommen  in  Amerika! Vom Kind zum  Jugendlichen zum  (jungen) Mann, von  Bush zu Obama, vom Wort zum  Satz zum  Gedanken: Nicht allein die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte macht „Boyhood“ zu einem  besonderen  Film (und zum unbestrittenen  Höhepunkt der diesjährigen Berlinale), es ist insbesondere dessen Unverwechselbarkeit inmitten  einer Kinowelt voll Austauschbarem.

Wenn es  im Rahmen der diesjährigen Berlinale neben  Linklaters „Boyhood“ im Wettbewerb noch ein weiteres herausragendes Ereignis gegeben hat, so war dies die Wiederentdeckung und (Kino-)Uraufführung von Schlöndorffs 1969 entstandener und dann nach einer TV-Ausstrahlung prompt von  den Brecht-Erben für den  Kinoeinsatz gesperrter  Verfilmung von „Baal“ (BRD 1969; Regie: Volker Schlöndorff; Berlinale-Special). Rainer Werner Fassbinder als der von der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu zähmende Dichter Baal ist eine Idealbesetzung und es ist auch interessant zu beobachten, wie der charakteristische Duktus des  Fassbinderschen „Antitheaters“ auf die Sprache des jungen Brecht trifft – eine  durchaus reizvolle Symbiose.  Ob aus weiser Einsicht Schlöndorffs oder als Folge einer „feindlichen Übernahme“: das ist ein Fassbinderfilm geworden, nicht nur durch die Omnipräsenz des Protagonisten  (und das ist gut so). Der Fassbindersche Baal ist in seiner drögen Renitenz so sehr ein Fremdkörper, ein  Störfall, so verachtungsvoll, dass  man in jedem  Moment erwartet, die den Jungdichter erst umschwärmende Münchner Schickeria würde sich vor Wut, erkannt  worden zu sein, wie einst das Rumpelstilzchen, selbst in den Boden stampfen. Eine derartige Überlegung  wäre natürlich (auch: Brecht-fernes)  Wunschdenken, da könnten noch viele Baals kommen – aber schade ist es doch…