Was wir voneinander wissen
Kurt Hofmann
Berlinale 2016/Teil 1: Forum, Panorama, Berlinale Special
26.02.2016
So lange Menschen leben, machen sie Pläne. Bisweilen deren mögliches Scheitern ahnend, lassen sie dennoch nicht locker. Oder: sind selbst Teil eines Planes von anderen… Manches allerdings erweist sich als nicht planbar: was wir voneinander zu wissen vermeinen, ist oft nur Schimäre…
Kann ein Mensch, ähnlich einem fehlgeleiteten Weihnachtsgeschenk, zurückgegeben werden? Maggie, die ihren Ehemann loswerden will, zu ihrem, aber vor allem, so meint sie, zu seinem Besten, möchte diesen seiner vormaligen „Besitzerin“, dessen Ehefrau, als Präsent überreichen. Aber so einfach ist das nicht. Da muss ein Plan her. Und Maggie plant gerne… Lange hatte sie gebraucht, um einen geeigneten Spermienspender für ein Wunschkind - ohne weitere Verpflichtungen beiderseits – zu finden, bis ihr ein Jugendfreund, einst hochbegabter Mathematiker, aktuell Gurkenverkäufer und -kreator, über den Weg läuft, genetisch bestens geeignet… Doch dann trifft sie auf John, der am selben College unterrichtet und an einem Roman schreibt – prompt ist der vorherige Plan obsolet. Maggie gründet eine Familie mit John und betreut gleich Johns alte Familie mit, holt dessen Kinder aus erster Ehe von der Schule, organisiert deren Alltag… Manche nennen Maggie einen Kontrollfreak, Georgette, Johns Ex, eine begnadete Wissenschaftlerin mit ebenso beachtlichem Ego, die von ihren Kindern bestenfalls die Namen kennt, hält Maggie für „reizend, aber auch ein bisschen dumm“… Aber das ist ungerecht, denn dumm ist Maggie nicht, allenfalls raumgreifend und unaufhaltsam, und zunehmend unglücklich über den Verlauf ihrer Pläne. Denn John ist doch kein verkapptes Genie, eher ein akademischer Schmarotzer, der sich von ihr bedienen lässt und Georgette ist zwar scharfzüngig, arrogant und auch oft ignorant, doch wird sie für Maggie zur Verbündeten in deren neuen Plan… „Maggies Plan“ (USA 2015; Regie: Rebecca Miller; Panorama) ist zum einen eine urbane Komödie (angesiedelt in New York) mit blendenden Dialogen, ausgefeilten Pointen und exzellenter Besetzung (neben Greta Gerwig als schräge Hauptfigur Maggie brillieren Julianne Moore und Ethan Hawke), zum anderen entgeht der Film der Gefahr nicht, ein „Greta Gerwig-Film“ zu sein, ein Vehikel für deren mittlerweile bekannten Marotten.
Danae Elon ist die Tochter von Amos Elon, der über Jahrzehnte hinweg als Journalist die israelische Politik beobachtet und kritisch hinterfragt hat. Er, der in seinen späten Jahren Israel verlässt, weil er eine Grenze zur Politik der Ausgrenzung ziehen will und dafür eine Grenze überschreiten muss, trägt der Tochter auf, nie wieder in das Land ihrer Geburt zurückzukehren. Doch kaum ist der Vater tot, zieht es die Tochter nach Israel. Wohl auch aus später Opposition, doch vor allem aus der Erinnerung an eine Kindheit in Geborgenheit und einem vagen Gefühl für Identität, verlässt sie New York. Und: weil ihr dritter Sohn in Israel zur Welt kommen soll… Weder ihr Mann noch ihre Kinder können ihre Entscheidung nachvollziehen. Danae Elon wiederum ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr spontaner Entschluss, zum Plan gereift, wie „P.S. Jerusalem“(Kanada 2015; Forum) erzählt, nur eine traurige Episode bleiben wird… Allerdings hat sie, eben angekommen, nicht vor, sich anzupassen und wird prompt bei Recherchen in Ostjerusalem angepöbelt und bedroht. Ein ultrarechter Aktivist schreit sie an, sie wäre wohl die Tochter eines KZ-Aufsehers, weil sie sich so sehr für die PalästinenserInnen interessiere… Schon bald müssen sich Dreharbeiten auf die private Seite ihres Umzugs beschränken, da an ein geregeltes journalistisches Arbeiten nicht mehr zu denken ist… Die Söhne hat sie auf die einzige Schule des Landes, in der palästinensische und jüdische Kinder gemeinsam lernen, geschickt. Für Danae Elon eine Selbstverständlichkeit, für andere eine befremdliche Entscheidung… Ihr Mann, ein Photograph, findet keine Arbeit, wird gemobbt, und Danae Elon fühlt sich als Fremde im Land ihrer Geburt. Am Ende von „P.S. Jerusalem“ werden wieder die Koffer gepackt, diesmal heißt das Ziel Kanada. Abermals sind es die Kinder, welche an der Schule Freunde gefunden haben, die leiden, aber es bleibt keine andere Wahl…
Wie gut, wenn einer weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält. Victor, das Oberhaupt einer Großfamilie, ist so einer, der vermeint, sein Wort sei über jeden Einwand erhaben, seine Sicht der Dinge die einzig vorstellbare, und seine Pläne für die bereits erwachsenen, doch noch unter seinem Dach lebenden Kinder wären verbindlich. Doch nach und nach haben jene die Vorträge des Alten satt und als Victor bei einem Familienessen einmal mehr über Gott und die Welt referiert, unterbricht ihn sein Sohn Cosma mit der Information, dass Tochter Sasha an einem Buch über Spitzel des einstigen Regimes schreibe. Das findet der Vater erst sehr lobenswert, bis er erfährt, dass er selbst in einem Kapitel vorkommt… Victor hat in Zeiten strikter Abtreibungsverbote Frauen denunziert, die dennoch einen Abbruch wagen wollten… „Ilegitim“ (Rumänien 2016; Regie: Adrian Sitaru; Forum) zeigt die Familie als Keimzelle des Staates. Nichts bleibt unbemerkt. Will eines der „Kinder“ für sich sein oder Intimes besprechen, rütteln schon andere an der versperrten Tür. Besorgnis wird vorgeschützt. Dennoch blühen gerade in der Familie die Geheimnisse. Der Vater dementiert nicht, was in der Vergangenheit geschehen sei, er habe vielmehr Leben gerettet, nicht zuletzt auch das seiner Kinder, da deren Mutter auch abtreiben wollte… Das sagt er so dahin und entfacht einen Streit, an dessen Ende er Sasha des Hauses verweist. Widerspruch ist in Victors Welt ebenso wenig vorgesehen wie „moralische Abweichungen“. Als er erfährt, wer wirklich der Vater des Kindes der schwangeren Sasha ist und dass er diesen im eigenen Haus finden wird, bricht für Victor eine Welt zusammen… „Ilegitim“ zeigt den scheinbaren Zusammenhalt, die überlegene Moral des Familienclans als brüchiges Gebilde, mühsam zusammengehalten durch Lügen. Irgendwann findet man wieder zusammen – der Alte schwadroniert über Gott und die Welt - es muss weitergehen, in der Familie wie im Staat:..
Über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten, zwischen 1948 und 1967, schreiben zwei ebenso Liebende wie Fordernde einander: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Manchmal liegen Monate und Jahre zwischen den Briefen. Bisweilen beantwortet Bachmann einen Brief Celans, schickt ihn aber nicht ab. Später sendet Celan einen Brief an Bachmanns aktuellen Liebhaber Max Frisch, zur Weiterleitung an Ingeborg Bachmann, die er nicht erreicht. Sie wieder empfiehlt Celan, sich ja nicht von dessen Frau zu trennen. Reisen zum/zur entfernten Geliebten werden angekündigt, manchmal trifft man einander, spekuliert danach lange über Ausgebliebenes oder Angedeutetes… Nie wieder der Furor der frühen Jahre, aber auch kein Ende, Selbstverständliches Begehren, selbstverständliche Zurechtweisungen des/der Anderen… Ruth Beckermann hat sich in ihrem neuen Film „Die Geträumten“ (Österreich 2016; Forum) etwas schier Unmögliches vorgenommen: den jeweiligen Standort zweier, die nicht voneinander loslassen, wie weit sie sich über die Jahre auch voneinander entfernt haben mögen, zu lokalisieren. Da ist nicht nur die stets behauptete (und auch stets vorhandene) Liebe in den Briefen, sondern auch Taktik, Tarnen und Täuschen. Durch das Gestrüpp der Emotionen schneiden zwei Stimmen: jene von Anja Pflaschg, Sängerin der Gruppe „Soap and Skin“, die Bachmanns Part liest und jene des Schauspielers Laurence Rupp, der Celans Worten nachspürt. Zwei in einem Studio des Funkhauses Wien, vor Mikrophonen, aus einer Distanz von fast vier Jahrzehnten, reagieren auf das Echo der Briefe Bachmanns und Celans, reagieren aufeinander. Die RaucherInnen Bachmann (sie stirbt später in Italien an den Folgen eines durch eine brennende Zigarette ausgelösten Brandes…) sowie Celan, die Reflektionen von Plaschg und Rupp in deren Rauchpause, mitgefilmt von Beckermann... Erst die gemeinsamen Pläne Bachmanns und Celans, dann die Planspiele, wie man sich gegenüber dem jeweils anderen in den Vorteil setzt… Was ist das? Ein Schritt nach vor, zwei Schritte zurück. Wie zwei nicht voneinander lassen können. Beckermann hat den Ort, ein Studio im Funkhaus, nicht zufällig gewählt. Abseits eines banalen Nachspielens einer Liebesbeziehung entsteht hier eine Brechung durch das scheinbar Statische, die Distanz schafft und dadurch wieder das Hinhören ermöglicht. Zum anderen ist das Radio ein aktuelles Medium für die junge Bachmann, das ihr (durch das Verfassen von Texten für eine Familien-Soap) dringend benötigte Einnahmen bringt… Und, nicht zuletzt, ist das Funkhaus Wien aktuell durch einen geplanten Verkauf bedroht, den zahlreiche KünstlerInnen und Intellektuelle, darunter Beckermann, bekämpfen… Was ist das? Ein Spielfilm ist „Die Geträumten“ - erfreulicherweise – nicht. Am ehesten: ein verfilmter Briefroman, eine Korrespondenz, die zum Korrespondieren einlädt, die SchauspielerInnen, das Publikum… jedenfalls aber: ein spannendes Projekt.
Ein Ermittler, psychologisch geschult, wird von einem Psychopathen ausgekontert und lässt beinahe sein Leben. Danach übersiedelt er als Kriminologe an die Uni, doch immer noch fasziniert es ihn, dem (ungelösten) Verbrechen nachzuspüren… Ohne langes Zögern nimmt Takakura in „Creepy“(Japan 2016; Regie Kyoshi Kurosawa; Berlinale Special) das Angebot eines jüngeren, noch aktiven Polizisten an, ihm bei der Lösung eines „Cold Case“, dem unaufgeklärten, ja mysteriösen Verschwinden einer Familie zu helfen… Währenddessen backt Takakuras Frau, die beiden sind eben umgezogen, Kuchen für die neuen Nachbarn, läutet an jeder Türe… Da ist besonders einer, der sich scheinbar abschottet, ein seltsamer Geselle mit einer scheuen Tochter und einer Frau, die man nie zu Gesicht bekommt… So sehr ist Takakura mit seinem neuen Fall beschäftigt, dass er seine unmittelbare Umgebung vernachlässigt. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich herausstellt… Kyoshi Kurosawa hält mit „Creepy“ nicht nur das Interesse der ZuschauerIn wach, mehr noch, er schafft den Spagat zwischen Thriller, Horrorfilm und einem Abstecher in die Abgründe der menschlichen Seele… Sinnlos, den Schrecken anderswo zu suchen, er ist schon da und war immer, wenn auch unerkannt da: wenn der Spurensucher Takakura erkennt, dass seine schlauen Pläne längst durchkreuzt wurden, ist es (fast) zu spät… „Creepy“ entzieht sich simpler Effekthascherei – dem Genretypischen gerecht werdend, lässt Kurosawa doch stets Fragen offen, lüftet Geheimnisse, um unversehens neue zu schaffen…
Ariel, ein erfolgreicher Geschäftsmann, lebt in New York. Woher er stammt, dorthin will er nicht zurück, zumindest nicht dauerhaft. Also ein Besuch: in Buenos Aires, dem Ort seiner Kindheit, wartet sein Vater, den alle nur Usher nennen, auf ihn. Usher ist der König des jüdischen Stadtviertels Once: alles läuft dort über ihn, nichts passiert ohne sein Wissen oder Einverständnis. Den Vater zu treffen: als ob das so einfach wäre! Dafür ist Usher auf Ariels Handy dauerpräsent. Erst soll dieser einem kranken Jungen Schuhe kaufen und ins Spital bringen (der es Ariel nicht dankt, es sind nicht die gewünschten Markenschuhe…), dann einen Kunden Ushers vertrösten, später einen Streit schlichten… Als Botin des Vaters fungiert dessen Mitarbeiterin Eva, eine schöne junge Frau, scheinbar stumm… Bis Ariel in David Burmans „El Rey del Once“ (The Tenth Man; Argentinien 2015; Panorama) realisiert, das nichts, was ihm widerfährt, zufällig passiert, sondern Teil eines raffinierten Plans seines Vaters ist, der ihn zurücklocken will, auch mit Hilfe Evas, sitzt er schon in der Falle… Aber der Aufenthalt in Once hat Ariel verändert, und seinem Vater, einem herrlichen Schlitzohr, ist er ohnedies nicht gewachsen… Der wohlgeordneten Business-Existenz Ariels in New York setzt Burman das unentwirrbare Chaos in Once entgegen: keine Frage, was da sympathischer ist… „The Tenth Man“ kommt leichtfüßig daher und – da ist ein Hauch von Lubitsch bei Burman, immerhin.