Vom Schrecken des Vetrauten
Kurt Hofmann
Zum Filmfestival Crossing Europe in Linz
09.05.2014
Und wieder ein vielfältiges Programm trotz enger finanzieller Grenzen: Auch in der Ausgabe 11 wurde Crossing Europe seinem Ruf als Gegenentwurf zum sterilen Einheitsbrei des “Eurofilms” gerecht. Anstelle des Ausrechenbaren, Glattpolierten war den in Linz gezeigten Arbeiten bei aller Unterschiedlichkeit gemein, dass sie vorschnellen Gewissheiten misstrauten und statt einem anbiedernden Komplizentum mit ihrem Publikum auf dessen Neugierde setzten.
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle: Die Idee, nach Jahren der Absenz für einen Monat an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, bereut die Filmemacherin Lili bald. Denn ihre Mutter hat ein ausgiebiges Besuchsprogramm für sie ausgearbeitet. Nach den Großeltern müssen die Tanten und Cousinen bedient werden, das geht von Gesichtsbad zu Gesichtsbad, die obligatorischen Gastgeschenke inklusive. Man mag es – auf den ersten Blick - hyperrealistisch nennen, wie Liliana Torres in ihrem Spielfilmdebut die Rollen des so unübersichtlichen wie lästigen Clans besetzt hat, denn bis auf ihr von der von der Schauspielerin Nuria Gago verkörpertes alter ego Lili darf sie alles, was der Regisseurin verwandt ist, sich auch „selbst“ darstellen. Naturgemäß geht es Liliana Torres in „Family Tour“ nicht um semidokumentarische, voyeuristisch geprägte Einblicke, sondern um (von ihr) abverlangte und (ihr gegenüber) verweigerte Akzeptanz unter Berufung auf lebenslange Verpflichtung durch Abstammung. Die „Familienbande“ (Karl Kraus) nimmt Lili als Geisel und erwartet Zuwendung. Obgleich das Sehvermögen von Lilis Mutter vorsichtig formuliert als eingeschränkt zu bezeichnen ist, besteht sie darauf, Lili zu allen Terminen zu chauffieren. Erwartet wird: blindes Vertrauen. Ob der Tochter während ihres Heimaturlaubes nach Anderem der Sinn stehen könnte, steht nicht zur Debatte. Deren Lebens – und Arbeitsverhältnisse sind allenfalls als Wurmfortsatz familiärer Selbstdarstellung von kurzfristigem (und oberflächlichem) Interesse. Lilis Status ist jener des ewigen, nur eben nun etwas zu groß geratenen Kindes. Als sie dies in einem Musikvideo für eine „außer Programm“ auf der Straße wieder getroffenen Freundin thematisiert und den Vater zur Präsentation einlädt, stößt sie auf Unverständnis… Zu sehen ist: wie Lili sich des „Erwachsenengewands“ entledigt, um die Kinderkleider wieder anzulegen, denen sie längst entwachsen ist… Dem Vater erschließt sich das Bild nicht, er empfindet bloß die öffentliche Selbstdarstellung der Tochter als genant. Wie in einem Science-Fiction-Film, wo eine Zeitreisende „retour“ fährt, um von ihren Ahnen als irritierendes Wesen „from outer space“ ausgrenzt, wenn nicht bedroht zu werden, ist auch Lili, sobald sie darauf besteht, nicht die Wiedergängerin des allseits bekannten Kindes zu sein, für die ihren ein Alien. So bald wird sie sich nach ihrem mehrwöchigen Besuch nicht mehr in Spanien blicken lassen, das „Blut ist nur insoferne dickflüssiger als Wasser, als es für eine gewisse soziale Dummheit der lebensspendende Quell ist“ schrieb einst David Cooper in „Der Tod der Familie“ (Rowohlt, 1972). Diese Erkenntnis vermittelt „Family Tour“ auf exemplarische Weise – nicht zuletzt dieser schonungslosen Analyse wegen hat die Internationale Jury wohl den Hauptpreis von Crossing Europe an den Film der spanischen Regisseurin Liliana Torres vergeben.
Die 43jährige Schauspielerin Louise übt ihren Beruf nicht mehr aus. Es ist ihr nicht danach.. Sie fühlt sich leer, ohne nach neuen Zielen zu suchen. Als der um einige Jahre jüngere Nathan sich in ihr Leben „drängt“, reagiert sie abweisend. Ein Spieler zuviel – sie hat doch schon eine Familie, ein Geliebter wäre da zwar wünschenswert, doch zu anstrengend. Louise lebt in Paris, doch der althergebrachte Hauptsitz der Familie liegt in Italien. Auf dem Anwesen steht ein Schloss, das – irgendwann, da legt man sich nicht fest (obwohl man „eigentlich“ pleite ist…) – den Besitzer wechseln sollte, an der Wand hängt ein Breughel, der keineswegs verkauft werden darf, obwohl das Bild die einzige relevante Wertanlage wäre, in einem Zimmer stirbt Louises an Aids erkrankter Bruder Ludovic so vor sich hin, doch wie der andere Teil der Familie deren einstigen Status, so simuliert Ludovic Leben. Diese Form der Realitätsverweigerung, dieses Beharren, diese… Konstellation erinnert an Tschechows „Der Kirschgarten“, nicht zufällig, denn ein Kernsatz von Lion Feuchtwangers Kritik einer Aufführung im Jahr 1916: „Und alle die schönen Phrasen sind nur dazu da, sich selber und anderen Sand in die Augen zu streuen.“ (Lion Feuchtwanger, Die Weltbühne) trifft ebenso auf die Wortproduktion im Schloss der gegenwärtigen Verwalter des Gestern zu. Die Gewissheit, dass der Bruder durch seine Krankheit zum Tode verurteilt ist, wird von Louise, welche sich dem Unvermeidlichen, anders als ihre Mutter, nicht völlig verschließt, durch einen hysterisch vorgetragenen Kinderwunsch kompensiert (die Familie: dann wieder „vollständig“, die Lücke geschlossen…) Hier kommt Nathan wieder ins Spiel, erhält seine „Chance“ von Louise, obwohl er von deren Idee alles andere als begeistert ist… Und wieder: (die) Familien-Bande, verstärkt durch den Schrecken des Vertrauten, auf den Valeria Bruni-Tedeschi, die Regisseurin und Hauptdarstellerin von „Un Chateau en Italie“ (Ein Schloss in Italien; Frankreich 2012) mit der Besetzung der Rolle der Mutter durch ihre leibliche Mutter Maria Borini, gewissermaßen „gedoppelt“ hinweist… Louise ist aber auch nicht nur teil einer zeitgenössischen Tschechow-Variante sowie der Familien-Bande, sondern repräsentiert auch wieder jenen ebenso verletzlichen, wie obstinaten Frauentypus, den Valeria Bruni Tedeschi, empathisch und ironisch zugleich, für die (meisten) von ihr verkörperten Filmfiguren geprägt hat. All dies: äußerst vergnüglich als wahre Lebensgeschichte.
Louise erweist sich als nervöse Protagonistin, die sich stetig selbst in die Bredouille bringt. Sie stolpert, aber fällt nicht…
Jesse muß mitansehen, wie sein Freund Jonas in einer Einkaufspassage erstochen wird: ein plötzlicher Ausbruch von Gewalt durch eine undefinierte Gruppe von jugendlichen, die nach der Tat flüchten. Jesse kann weder ein- noch begreifen. Was ist geschehen? Was man „weiterführende Hinweise“ nennt – Jesse vermag sie nicht zu liefern. Unklar bleibt, was das Massaker ausgelöst hat, unübersehbar ist, was es bei Jesse bewirkt hat. Wie in einer Zeitschleife wieder und wieder auf dieses Ereignis zurückgeworfen. Einer ist tot, doch der andere lebt nicht mehr…
„Violet“ (Belgien/Niederlande 2014; Regie Bas Devos) ist ein Film über das Danach. Die üblichen Erklärungsversuche unterbleiben ebenso wie eine moralisierende oder sentimentalisierende Sicht der Ereignisse. Kaum Dialog. Die Welt des traumatisierten fünfzehnjährigen Jesse wird fast ausschließlich visuell beschrieben: wie ihm das Vertraute plötzlich bedrohlich erscheint, einzelne Gegenstände, fatale Assoziationen bei ihm auslösen, der Versuch, die Wohnung zu verlassen, Panik bei ihm auslöst. Jesse ist ein Biker, seine ersten Versuche, sich in der Außenwelt zurechtzufinden, sind innerhalb der Gruppe im park. Wie Kunststücke mit dem Fahrrad zu vollführen sind, weiß er immer noch, wie Kommunikation mit den anderen möglich wäre, weiß er nicht mehr. Eine „Tatortbesichtigung“: Jesse betritt erstmals wieder das Einkaufscenter und sieht nur ein bedrohliches Nichts, alles verschwimmt vor seinen Augen, Farben, Blutspritzer, eine Atmosphäre der Angst. Im Park läuft Jesse ein Kind nach, von etwa neun bis zehn Jahren. Auf seinem Smartphone hat er Bilder der Überwachungskamera, die im Internet zu sehen waren, heruntergeladen und konfrontiert Jesse damit: ob er das sei, inmitten der „Action“? Das Kind ist kein frühreifer Sadist, nur so grausam, wie Kinder sein können. Und die Täter? Man sieht Hände, von Handschellen zusammengehalten, einen Hinterkopf: Monstren? Wohl kaum, vielmehr mitten unter uns lebend. Auch hier: keine Erklärungsversuche, keine Schuldzuweisungen. Gegen Ende des Filmes eine lange Kamerafahrt über eine leere Strasse. In deren Mitte wird ein auf seltsame Weise umgestülptes Fahrrad sichtbar, wie „geköpft“, ein Symbol der Gewalt, so abstrahierend wie eindringlich. Eine filmische Installation, die noch einmal deutlich macht, wie sehr „Violet“ sich vom üblichen Entrüstungsarsenal wie auch von der voyeuristischen „Ausschlachtung“ absetzt Anstelle von Geschwätzigkeit der Blick durch das Kameraauge. Da ist kein Wort, da ist vielleicht ein Bild.