Verwischte Spuren
Kurt Hofmann
Zu: Crossing Europe 2018
03.05.2018
Das Festival „Crossing Europe“ war auch in seinem 15.Jahr voller Entdeckungslust und präsentierte abermals Filme außerhalb des „Eurofilm“-Einheitsbreis, ästhetisch anspruchsvoll und nachfragend in gesellschaftspolitischen Angelegenheiten.
Lob des Subtextes: Da waren – insbesondere bei den herausragenden Filmen des Festivals – viele Spuren abseits der sichtbar gelegten zu entdecken, wenig ist (allein), was es scheint.
An einem Urlaubstag am Meer enthüllt Luis Marta, dass seine (weitere) Lebenszeit befristet ist. Die guten Werte einer kürzlich durchgeführten Untersuchung hat er erfunden, um eine unbeschwerte Zeit mit Marta verbringen zu können. Besser, als einen aussichtslosen Kampf gegen den konstatierten Hirntumor zu versuchen, sei es, eine letzte gemeinsame Reise zu unternehmen, um dann das Ende selbst zu bestimmen. Doch Marta lässt das nicht zu: einer Operation folgt erst Hoffnung – bei Marta, denn Luis ist nach dem Eingriff ein anderer geworden. Während Marta sich in Optimismus und Zukunftsszenarien versucht, kapselt sich Luis von der Umwelt ab. Kommen FreundInnen, muss Marta Luis verleugnen, seine Erkrankung bleibt ohnedies ein Tabu. Als klar wird, dass Medizin nicht mehr helfen kann, hat sich Martas Rolle in ihrer Beziehung endgültig gewandelt: sie ist Pflegerin, Dienerin, ja Gefangene geworden, jede außerhäusliche Aktivität, sei es privat oder beruflich, ist ihr im Grunde verwehrt, will sie nicht von Luis als Verräterin gebrandmarkt werden…
Dr,Jekyll und Mr.Hyde: „Morir“(Dying; Spanien 2017; Wb) nennt sich das Beziehungsdrama von Fernando Franco und reflektiert ebenso über die Orientierungslosigkeit in einer sich drastisch verändernden Lage, inkludierend die Unfähigkeit, loszulassen, wie es einen Blick auf ein Horrorszenario wirft – die Verwandlung eines geliebten Menschen in eine nahezu monströse Figur, welche alles zu „verschlingen“ droht. Marta wagt einen Fluchtversuch, doch sie kehrt mit gepackten Koffern zurück. Die Erinnerung obsiegt über eine Gegenwart, die bald Vergangenheit sein wird…
Als Folge eines Virus, dessen Ursprung gemäß offiziellen Bekundungen nicht erforscht werden konnte, ist ein Großteil der irischen Bevölkerung zu (mörderischen) Zombies geworden. Viele von ihnen können mittels eines rasch entwickelten Heilmittels „kuriert“ werden, sie tragen allerdings auch die Last der Erinnerung. Der nicht infizierte Teil der Bevölkerung traut mehrheitlich der Rückverwandlung nicht, selbst die mit allerlei Repressalien verbundene „Reintegration“ (die in Wahrheit keine ist), wird stark abgelehnt.
Die Regierung hat dafür gesorgt, dass die einen mit den anderen möglichst nicht in Kontakt kommen. Eine Rückkehr in ihre einstigen Berufe ist den „Geheilten“ untersagt, die Tätigkeiten, welche sie verrichten dürfen, werden ihnen zugeteilt.
Einer, der den Neuanfang versucht, ist Senan. Seine Familie hat es abgelehnt, ihn aufzunehmen, lediglich seine Schwägerin Abbie, eine Witwe mit Sohn, ist bereit, ihm Unterschlupf zu gewähren. Senan muss in einem Krankenhaus arbeiten, wo die Resistans, jene Gruppe der einst Infizierten, bei denen das Heilmittel (vorerst?) nicht geholfen hat, verwahrt und „behandelt“ werden. Die militärische Führung des im Ausnahmezustand befindlichen Landes hat allerdings längst deren Tötung beschlossen…
„The Cured“(Irl/Gb/F 2017; Regie: David Freyne) ist Teil der famosen Genre-Reihe „Nachtsicht“ und auf den ersten Blick naturgemäß ein Horrorfilm, in Wahrheit jedoch eine packende Studie über Ausgrenzung. Manche mag der Film auch als historische Reminiszenz an den „Irlandkonflikt“ erinnern, Freynes Film ist jedoch vielmehr eine düstere Parabel über ein Europa, das sich immer mehr abschottet, dabei vorzeigend, wie Bevölkerungsteile gegeneinander ausgespielt werden, um gewisse Folgewirkungen zu erzielen...
Überall Checkpoints/Zäune, an den Wänden hasserfüllte Graffitis gegen die „Anderen“: derartige Bilder haben „Wiedererkennungswert“…
Immer in der Logik des Horrorgenres bleibend, fragt „The Cured“, wem eine solche Situation denn nützen könnte und lässt offen, ob nicht Pharmaindustrie und jene politische Clique, deren Pläne in den „Schubladen“ stets schon mit autoritären Szenarien versehen waren, bereits vor den „Ereignissen“ ein unheilvolles Bündnis geschlossen hätten …
Wo ist Schuld, wo Verantwortung – ein Problem, vor dem einer wie Senan steht, insbesondre, als er sich entscheiden muss, ob er seiner neuen Familie oder Conor, auch ein „Geheilter“ (der einiges über Senans Zeit als Zombie weiß… ) beistehen soll, denn dieser, ein ehemaliger Politiker, ist der Anführer des geheimen Aufstands mit dem Ziel der Befreiung der Resistans…
Trautes Heim, Glück allein: Kurz vor Mananas 50.Geburtstag scheint – aus Sicht ihrer Familie – alles im Lot zu sein. Dass die Mutter zweier Kinder an einem Text schreibt, wird als Marotte abgetan. Nur ein (semiprofessioneller) Literaturagent und Lektor aus dem Viertel, der für ihr Buch einen Verlag finden will, weil er sie für zu entdeckendes Talent hält und ihr greiser Vater, ein Übersetzer, dem sie das Manuskript anonym zugesandt hat, kennen den Inhalt ihres Werkes. Obgleich ihr der Agent dringend rät, ihren Mann „schonend“ auf die anstehende familiäre Leseprobe vorzubereiten (und: diese nicht andauernd aufzuschieben), ignoriert Manana dessen Vorschlag. Als sich herausstellt, dass Mananas Roman ein Erotikthriller mit literarisch verfremdeten Veratzstücken aus ihrem Leben ist, kann es der Ehemann nicht fassen, spricht von Pornographie und vermag das Literarische vom „Realen“ nicht zu trennen. Doch Manana lässt sich nicht beirren, zieht aus und flüchtet, spätestens, nachdem auch ihr „weltmännischer“ Vater, der das anonyme Manuskript noch gelobt hatte, ihr „Outing“ bösartig kommentiert, in eine Welt, die zwischen ihrer feindseligen Umgebung und den Handlungen ihrer Romanfiguren liegt…
„Sashishi deda“ (Scary Mother; Georgien/Estland 2017; Regie: Ana Urushadze; Wb) zeigt ein Georgien, in dem so etwas wie eine weibliche Perspektive nicht vorgesehen ist. Ob als Autorin oder vor sich hinträumend (als Teil ihrer Phantasiewelt, die eine Gegenwelt zum Männlichkeitswahn ist): Verrücktheit wird Manana allemal attestiert. Wehe, wenn die Frau nicht „an ihrem Platz“ ist… „Scary Mother“ folgt Manana (Nato Murvanidze: eine herausragende schauspielerische Leistung!) auf deren Weg ins Freie mit surrealer Überhöhung, vieles bleibt in Schwebe, doch alles wird aus deren Perspektive erzählt.
Antonio wird von seinem Vater aus der Wohnung geschmissen, als dieser durch einen anonymen Hinweis herausfindet, dass Antonio, dessen Studiengebühr er immer noch zahlt, seit langem die Technische Uni meidet. Dreisterweise wendet sich Antonio in seiner Suche nach einer Wohngelegenheit ausgerechnet an seine Exfreundin, die noch dazu kurzfristig die brasilianische Studentin Debora beherbergt. Doch letztlich kann niemand dem Charme des sympathischen Schlitzohres und Lebenskünstlers widerstehen, selbst seine Ex ist davor nicht gefeit…
Soviel zu dem, was wir von „Antonio um dois tres“ (Antonio One Two Three; Portugal/Brasilien 2017; Regie: Leonardo Muramateus; Wb), dem diesjährigen Siegerfilm von „Crossing Europe“, gesichert wissen. Und, nicht zu vergessen: Antonio ist Teil einer Schauspielertruppe, deren Leiter Johnny, ein Nervenbündel, gemeinsam mit dem Ensemble eine Adaption von Dostojewskis „Weiße Nächte“ vorbereitet. Da ist Improvisation gefragt und eine Szene, die im Film eben noch Handlungselement war, entpuppt sich als spontaner Einfall Antonios…
Oder? Immer wieder wird an „Antonio One Two Three“ das eben Gesehene wieder in Frage gestellt. Das Kinopublikum ist Teil des „Stückes“, dessen Wahrnehmung eine der Improvisationen, die dieses benötigt.
Die Abenteuer des Lebenskünstlers und notorischen Aufschneiders Antonio, dessen Clique und deren Gefühlsskala zwischen aufgeregter Selbstdarstellung und Entspanntheit (zu der kurzfristig auch noch die von Antonio begehrte Debora stößt, von der man weder weiß, wann und wo Antonio sie erstmals getroffen hat, noch, ob man ihrer oder Antonios Version in so manchen Fragen trauen kann…), der Müßiggang in der „Weißen Stadt“ Lissabon, all dies erinnert bisweilen an Rivette und Rohmer, ohne diese zu kopieren.
Dieser leichte, immer in Schwebe gehaltene Film Leonardo Muramateus, der improvisiert und munter vor sich hin philosophiert, ist nicht nur unbedingt sehenswert, sondern vielmehr ein Höhepunkt dieses Kinojahres, den Cinephile beim regulären Kinoeinsatz (erst mal in Wien) keineswegs versäumen sollten.
Nola, Katja und Martina müssen raus aus ihrer Künstlerinnen-WG im Niemandsland hinter dem neuen Berliner Hauptbahnhof. Bald entsteht hier die „Europacity“, eines jener protzigen Wohnprojekte jenseits von Gut und Böse, die in den Großstädten so gedeihen wie sonst nur das Unkraut auf den (verbliebenen) Wiesen. Schnelles Wachstum nennt man das, im Kapitalismus ist das ja, auch abseits des Wohnbaus, stets sehr gefragt, bekanntermaßen, und überhaupt, speed kills, you know. Nola, Katja und Martina haben da was dagegen. Auch gegen die männliche Dominanz, nicht nur in der Kunst. Wenn einst eine antike Zauberin Männer in Schweine verwandeln konnte, können Nola, Katja und Martina nervige Machos allemal in formschöne und brauchbare Stehlampen verwandeln… Aber derart einfach geht es mit der besten aller Welten halt nicht und so interviewt Nola für ihren Film Soziologinnen, Historikerinnen, Kulturschaffende und Theoretikerinnen, die über die Nasenspitze hinaus denken und ersucht diese um Wortspenden für den stets aufzufüllenden Klingelbeutel der Theorie…
Fünfzig Jahre nach „68“ kommt Irene von Albertis „Der lange Sommer der Theorie“ (Deutschland 2017; Panorama Fiction) zu Festivals und in die Kinos.
Und die Fragen nach einer „anderen“ Gesellschaft sind immer noch da ebenso wie der Bedarf an Theorie und Utopie. „Der lange Sommer der Theorie“ ist ein filmischer Hybrid zwischen feministischer Komödie und Essayfilm. Denn die ExpertInnen, die „Nola“ interviewt, sind „echt“ und stehen für gesellschaftliche Gegenentwürfe. „Essayistisches Diskurstheater“ wurde „Der lange Sommer der Theorie“ in einer Kritik schon genannt. Nicht schlecht, diese Bezeichnung, denn dass Denken Vergnügen bereiten soll(te), hat schon einst Brecht gefordert.