Unterschiedliche Wahrnehmung
Kurt Hofmann
Zur Diagonale 2013 in Graz
20.03.2013
Das war, nehmt alles nur in allem, ein gutes Jahr für den österreichischen Film: 2012 reüssierten die „üblichen Verdächtigen“, Haneke mit „Amour“, Seidl mit der „Paradies-Trilogie“ auf internationalen Festivals, sammelten Preise sonder Zahl. Durch Haneke wurden wir“ sogar „Oscar“ (wenn auch nur dank Produktions- und Förderanteil), wohl aus Freude darüber ging im Diagonale-Katalog sogar der Originaltitel des Filmes verlustig und wurde durch den deutschen Verleihtitel ersetzt… Dazu kam ein Überraschungserfolg mit Daniel Hoesls „Soldat Jeanette“ beim Festival in Rotterdam sowie eine anhaltende internationale Präsenz jener Werke, die auf Grund ihrer komplexen Struktur die feierlaunige zuständige Ministerin nicht zu einer Festival-Anreise animierten…
Und die Premieren der Diagonale 2013? Den relevanten unter ihnen war (möglicherweise)eines gemein: der Widerspruch zwischen Selbstbild und Außensicht auf ihre ProtagonistInnen – die unterschiedliche Wahrnehmung.
So könnte die Hölle aussehen: ewig schunkelnde Menschen, die auf Befehl ihrer Bühnenidole dümmliche Sprüche skandieren und danach, während deren Auftritt, sehnsüchtig auf den Refrain warten, in den sie einfallen können, dies alles als Endlosschleife. Einen Vorgeschmack auf derlei Qualen bietet „Schlagerstar“(AT 2013; Regie: Marco Antoniazzi, Gregor Stadlober) . Der Schlagerstar, bekannt aus Funk und Fernsehen, auf allen „Stadln“ und in allen Bierzelten zu bewundern, heißt Marc Pircher und ist stolz darauf, jedes Jahr die „Goldene Schallplatte“ zu erhalten. Die Bierzelt-VeranstalterInnen mahnen ihn, nicht nur, wie von ihm vorgeschlagen, sechs Mal, sondern mindestens zwölf Mal im Lauf des Abends „Ein Prosit der Gemütlichkeit!“ anzustimmen, sonst rechne sich der Abend in Sachen Bierverkauf nicht für sie. Zu Beginn des Auftritts, wo immer dieser auch stattfindet, übergibt Pircher an einen seiner Bühnenpartner, dessen Hauptaufgabe es ist, die Fans mit („tiafn“) Witzen in Stimmung zu bringen. Danach Pircher: „Zicke, Zacke!“. Das Publikum, pflichtschuldig: „Hoi, Hoi, Hoi!“ . Solchermassen eingestimmt, ist Pirchers Gemeinde bereit für dessen beliebteste Hits. Jetzt ist Herz und Schmerz dran, das Volk darf tümlich sein, und erhält dazwischen (bisweilen), in kleinen Dosen, denn „man darf das Publikum nicht überfordern“ (Pircher), Patriotismus-Lektionen in Form von Anti-EU-Sprücherln, der Tonfall klingt bekannt… „Schlagerstar“ porträtiert einen, der sich durchaus über seinen künstlerischen Stellenwert im klaren ist, aber KritikerInnen triumphierend auf sein Bankkonto verweist. „Mit meiner Musik kann man wenigstens überleben!“ hält er diesen öffentlich entgegen. Mögen andere die Nase rümpfen, Pircher hält durch und macht trotz gelegentlichen Wurstigkeits-Anfällen weiter, die Fans und das eigenen Ego wollen es so… Was „Schlagerstar“ aber auch zeigt: Pirchers Erfolg entsteht nicht nur, weil er mit seinen Schlagern die Erwartungen erfüllt, sondern ist das Produkt einer perfekten Vorbereitung. Marc Pircher ist ein Professional, und das „durch und durch“, wie er es vielleicht formulieren würde. Selbst die nervigste Fananfrage wird von ihm erfüllt, auch der geringste Zweifel anderer während der Studioarbeit wird von ihm ernstgenommen. Was er am Abend bei seinem Auftritt abliefert, ist ein Produkt, dessen Formel keinerlei Abweichung duldet.
Einen wie Pircher, auch das machen Antoniazzi/Stadlober in „Schlagerstar“ deutlich, kann man in seinem musikalischen Tun ablehnen, aber nicht ignorieren, was er repräsentiert: Zehntausende, die hören, was sie hören, wohl auch… wählen, was sie wählen, und ihr Biotop ängstlich vor jeder Veränderung schützen.
Andrej ist aus Frankfurt dorthin zurückgekehrt, wo er aufgewachsen ist: aus der Anonymität der Großstadt an einen Ort, wo jede/r jede/n kennt. Der Aufenthalt ist dem Tod des Vaters geschuldet und soll zeitlich limitiert sein. Eine Schulfreundin, die ihn schon erwartet, um mit ihm gemeinsam Haus und Anwesen des Vaters zu inspizieren, sieht das anders. Für sie ist, seit den Kinder- und Jugendtagen, kaum ein Tag vergangen, sie vermeint, dort anknüpfen zu können, wo sie den Freund aus den Augen verloren hat. Andrej spielt das Spiel mit, entsinnt sich anhand von Gegenständen, Gängen, Wortgebäuden. Man kommt einander näher, aber nie über Gegenwärtiges, ein „Wir“ kann es nicht geben, weil es einzig aus der Erinnerung gespeist wäre und selbst die stimmt zwischen Andrej und der frau nicht überein.
Ludwig Wüsts „Das Haus meines Vaters“ (AT 2012) ist geprägt durch die unterschiedlichen Perspektiven seiner Figuren. Der „Heimkehrer“ kann die Beschädigungen der Daheimgebliebenen nicht ungeschehen machen, ihr nicht gelebtes Leben ist nicht löschbar und neu überspielbar wie eine Aufnahme , an der man sich sattgesehen und -gehört hat. Andrejs Erinnerungen an die Kindheit und Jugend im Dorf sind (auch) die des Zugereisten,, des Außenseiters, durch die erst zu erlernende und - selbst in den Augen der einstigen Freundin - nie vollends erlernte – Sprache der Einheimischen. Wenn Andrej das Innere des väterlichen Hauses betritt, ist es dunkel, die Taschenlampe gibt nur Schemen frei. Das Vergangene bleibt in „Das Haus meines Vaters“ im Dunkel einer disparaten Erinnerung , die Andrej und die Frau trennen. Im Augenblick, da sie vermeint, ihn zurückgewonnen zu haben, ist er schon zum Gehen entschlossen. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.
Der Schauspieler Philipp Hochmair ist ein neugieriger Künstler. Während seiner Zeit am Burgtheater war er stets Teil der ambitionierten Projekte abseits des Routinierten. In „Der Glanz des Tages“ (AT 2012; Regie Tizzi Covi, Rainer Frimmel) hat er eine schwierige Rolle übernommen: er spielt sich selbst. Mitten in Theaterproben erhält er Besuch von seinem ihm bislang unbekannten Onkel, einem ehemaligen Zirkusartisten und Bärenringer. Jener quartiert sich ungeniert bei ihm ein, als sei er schon immer Teil von Hochmairs Leben gewesen. Zur Premiere des „Woyzeck“ verspricht er, zu kommen, und betrinkt sich doch lieber in einer Hamburger Hafenkneipe. Hochmair, zwischen Hamburg und Wien pendelnd, wird den onkel nicht mehr los. Der will sich - angeblich – mit dem Bruder, Hochmairs Vater, versöhnen, dessen Verachtung seiner Entscheidung für das vagabundierende Zirkusleben ihn immer noch kränkt, und setzt dessen Nachfahren, seinem Neffen, dem hochkonzentrierten Schauspieler, seine Gelassenheit und sein In-den-Tag-hinein-leben entgegen. Die Kinder von Hochmairs Nachbarn, einer migrantischen Familie, betreut er liebevoll, und beschränkt sich nicht nur auf die Babysitter-Rolle, sondern versucht auch, diesen bei einem scheinbar unlösbaren Problem zu helfen. Derlei Hilfsbereitschaft verträgt sich für den Onkel mühelos mit der rücksichtslosen Einmengung in Hochmairs geordnetes Leben. Eine dem Schauspieler nachgebildete Pappfigur bentzt der Onkel, um seine Künste im Messerwerfen aufzufrischen… Zwei Lebensentwürfe, gegenübergestellt in Covi/Frimmels Spiel mit „Dichtung und Wahrheit“: jenen des Schauspielers, der sich immer neuen Herausforderungen stellt, aber dabei im dafür vorgesehenen „Rahmen“ bleibt, und jenen des Lebenskünstlers, der dem Auftritt in einer Zirkusarena ebenso viel abgewinnen kann wie der selbstverordneten „Pause“, in der er sich durchschnorrt, aus dem Rahmen fällt, wann immer es ihm passt. Den langen „Atem“ des Neffen hat der Onkel nicht, anders als dieser denkt er nicht über den Tag hinaus.
Einmal wird die Frage gestellt, was für den jeweils anderen der „Glanz des Tages“ sei – die Antworten fallen naturgemäß höchst unterschiedlich aus. Tizzi Covi und Rainer Frimmel bewerten nicht, stellen die beiden Lebensentwürfe in „Der Glanz des Tages“ vielmehr paradigmatisch gegenüber, dabei vorzeigend, dass es darauf ankommt, der eigenen Vorstellung vom Leben gerecht zu werden und - zu bleiben.
Bis zu seinem zwölftem Lebensjahr ist Paul-Julien Robert Teil der AAO-Kommune am Friedrichshof, in die ihn seine nun abwesende Mutter gebracht hat. Den Vater kennt er ohnedies nicht, Eltern sind unerwünscht im Erziehungskonzept der Kommune, die kleinbürgerliche Vorstellungen überwinden will. Einen Übervater gibt es allerdings, der als gottähnliche Figur über den Tagesverlauf entscheidet und ein nur von ihm zu regulierendes System der Belohnungen und Bestrafungen, des Aufstiegs und der Ausgrenzung aus der Gruppe errichtet hat: Otto Mühl.
Erkunden, was war: Der Filmemacher Paul-Julien Robert hat sich zu einer Expedition in die eigene Kindheit entschlossen, konfrontiert die Mutter mit seinen Erinnerungen und den nie beantworteten Fragen, sucht nach dem biologischen Vater und nähert sich dem Kommunenleben von einst nicht nicht als ein um seine Kindheit betrogener Ankläger, sondern als Dokumentarist. „Meine Keine Familie“ (AT 2012; Regie Paul-Julien Robert) fragt nach bei den damaligen Erwachsenen, was sie am Konzept der AAO-Kommune interessiert hat, zeigt deren Faszination am zusammenleben abseits des „Vater-Mutter-Kind“-Konzepts im Zusammenhang des gesellschaftlichen Aufbruchs, der Sehnsucht nach Alternativen abseits von Konventionen und verkrusteten Mustern. Aber auch: wie in der Kommune am Friedrichshof Theorie und Praxis auseinanderklaffen, statt eines Gegenmodells eine Sekte entsteht, deren Sektenführer keinen Widerspruch duldet. Jeder Tag wird - als beispielhaft - abgefilmt. Julien Robert sichtet das umfangreiche Material, sieht das Kind Paul-Julien wieder, aber auch andere Kinder, die zu „KünstlerInnen“ geformt werden sollen, Plastilinfiguren gleich. Wer nicht funktioniert, wird von Mühl vor allen anderen gedemütigt. Wie war das, mit den „richtigen“ Intentionen am falschen Ort, in einer Kommune, die eigentlich eine Sekte war: Der Regisseur Robert stellt stellvertretend für das Kind Paul-Julien Fragen an die einstigen Kommunarden und trifft dabei nicht auf BüßerInnen, sondern auf Reflektierende. Auch das Gespräch mit den Gleichaltrigen ist nicht von einem vereinfachenden Gut-Böse-Schema geprägt, sondern von einem Abwägen der gemeinsamen Erfahrungen. Peinlich und zugleich hochinteressant ist, wenn bei einem Treffen einstiger Kommunenmitglieder zwei ältere Frauen öffentlich Selbstkritik üben und dabei eben jene Verhaltensmuster reproduzieren, die anzuklagen sie behaupten - eine entlarvende Vorstellung.
„Meine Keine Familie“ überzeugt durch den dokumentarischen Blick seines Regisseurs, der den Gegenstand seiner Untersuchung so behandelt, als wäre er nicht Teil des Ganzen, sondern einer, der sich erst sein Bild machen muss, der Fragen, aber keine vorgefertigten Antworten hat - ein Versuch der Wahrnehmung anhand unterschiedlicher Perspektiven.
Was ist von dieser Frau zu halten, die zwei Männer - auf unterschiedliche Weise, aber aufrichtig und ohne Anwendung von Tricks – liebt? Gabi ist seit Jahren mit dem Musiker Peter verheiratet, die beiden haben einen spielerischen, beinahe kindlichen Umgang miteinander, zelebrieren ihre kleinen Szenen, deren Stichwörter sie der/dem anderen jederzeit soufflieren könnten, ein leichter, liebevoller Ton herrscht vor, nur Dur, kein Moll. Bis Gabi den gastierenden Geigenvirtuosen Michael Mardsen bei einem Konzert sieht und sofort von ihm fasziniert ist. Wie sich in Gabis Gesicht während des Auftritts von Mardsen erst gesteigerte Aufmerksamkeit, dann leidenschaftliche Anteilnahme, schließlich Begierde, widerspiegeln, das ist, auch einundachtzig Jahre nach der Entstehung von „Der träumende Mund“ (DE/FR 1932; Regie Paul Czinner) ein (schauspielerisches) Geheimnis der Bergner und ihres Regisseurs (wie Lebenspartners) Paul Czinner.
Fern des Moralisierenden entwirft dieser Film das Dilemma einer Gefühls-Zerrissenen. Noch ist das Spiel von Elisabeth Bergner (weitgehend) frei von Manierismen, vielmehr subtil und variantenreich. „Der träumende Mund“ ist ein Film der Andeutungen und der Zwischentöne: der Mund träumt, aber er gibt nichts preis.
„Der träumende Mund“ war Teil eines Paul Czinner-Tributes im Rahmen der für die Diagonale unentbehrlichen historischen Programme von Synema. Keine Wiederentdeckung, aber ein stets aus Neue zu entdeckender Film.