Suchende und Verzweifelte: Anmerkungen zum Sarajevo Film Festival 2007 – Teil 1
Kurt Hofmann
In Zeiten, da offiziellerseits Abschottung gegen die „Anderen“ propagiert wird, ein Filmfestival zu begründen, das sich für das Weltkino interessiert, dazu gehört Courage. Ein Dutzend Jahre später kann das Sarajevo Film Festival angesichts der 13. Ausgabe auf stetig steigende internationale Reputation verweisen, die sich in der beachtlichen Gästeliste angereister RegisseurInnen und SchauspielerInnen von Weltrang wiederspiegelt.
20.09.2007
Zum einen (wie die Viennale) ein „Festival der Festivals“, bemüht, die Höhepunkte ebenso wie die beachtenswerten Raritäten der internationalen Festivalszene zu präsentieren, konzentrierte sich der Wettbewerb 2007 auf die „Balkanstaaten“ (deren filmische Geschichte und Gegenwart heuer immerhin gleich zwei Wiener Veranstalter zu mehrwöchigen Reihen animierte, ...) – eine bewusste Einschränkung, welche für die Mehrzahl der solchermaßen in den Focus geratenen Beiträge aus den exjugoslawischen Ländern unangenehme Folgen zeitigte, wurden doch Mittelmaß und (ästhetische) Stagnation noch deutlicher sichtbar als in der „Deckung“ eines transkontinentalen Vergleiches ...
Auf die türkische Autorenfilmszene, mit gleich drei Beiträgen im Wettbewerb vertreten, war hingegen Verlass: „Tavka“ (A Man´s Fear of God; Türkei/Deutschland 2006; Regie: Özer Kiziltan), den die internationale Jury unter der Leitung von Jeremy Irons zum Sieger erkoren hatte, zeigt den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität einer islamischen Sekte anhand des Zwiespalts eines Frommen. Muharrem, als Bürodiener eher geduldet denn unentbehrlich, gilt als Faktotum. Umso eifriger ist er hingegen bemüht, seinen religiösen Pflichten zu entsprechen. Regelmäßig besucht er die Moschee, penibel befolgt er die Glaubensvorschriften, ergeben lauscht er den Predigten seiner Glaubensoberen. Einer, der, wie diese befinden, leicht zu formen ist: Muharrem wird von ihnen aus seinem dreißigjährigen Alltagstrott gerissen und zu einem „wichtigen Mann“ gemacht. Ausgestattet mit neuem Gewand und einem Handy, soll er als bigotte Nervensäge die säumigen Zahler mahnen. Doch Muharrem muss entdecken, dass seine Mitbrüder die religiösen Pflichten keineswegs so ernst nehmen wie er. Mit Wohlleben, Alkoholkonsum, lockeren Sitten und ungebührlichen Reden wird er konfrontiert, fühlt sich hilflos, zumal auch seine Selbstkasteiung immer intensivere sexuelle Phantasien befördert ...
Der Tod seiner Mutter bringt Yusuf zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend. Längst schon ist er dem Landleben abhold. Was anlässlich der Beerdigung zu tun ist, wird er erledigen, danach möchte Yusuf auf schnellstem Wege zurück nach Istanbul, wo er eine Buchhandlung besitzt. Im Haus der Mutter findet er eine junge Frau vor, die ihn wie selbstverständlich dort begrüßt, obwohl er sich weder an sie erinnert noch erwartet hat, sein einstiges Zuhause bewohnt zu finden. Ayla, eine entfernte Verwandte, hat die letzten fünf Lebensjahre der Mutter Yusufs mit dieser verbracht, weiß mehr über sie als der ihr längst entfremdete Sohn. Aber auch über Yusuf ist sie bestens informiert, hat sein Leben durchgeforstet wie andere die Unterlagen für eine wissenschaftliche Arbeit ... Der Mutter letzter Wille sei es, dass er zu ihren Ehren ein rituelles Tieropfer, die Schlachtung eines Schafes, darbringe. Yusuf widerstrebt diese finale Anordnung, doch auf Drängen Aylas, lässt er sich dazu überreden. Sie erinnert ihn auch an seine hoffnungsvollen Anfänge als Schriftsteller und an den Bruch mit seiner Jugendliebe ... Unerledigtes, Unaufgearbeitetes zerrt wie ein Klotz am Bein nach Yusufs Heimkehr an ihm und harrt der Erledigung ... Die Zeit scheint hier wie angehalten, dröge und langsam ist der Tagesablauf. Je mehr Yusuf zur Abreise nach Istanbul drängt, desto mehr muss er erkennen, dass er sich sowohl der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit als auch der zunehmenden Faszination , welche die unscheinbare, doch omnipräsente Ayla auf ihn ausübt, stellen muss ...
„Yumurta“ (Egg, Türkei/Griechenland 2007; Regie: Semit Kaplanoglu) erzählt von der Überrumpelung eines Intellektuellen durch „Naturgewalten“. Nach seinem Meisterwerk „Angels Fall“ (Türkei 2004) interessiert sich Kaplanoglu in „Yumurta“ erneut für das Nicht-Gesagte, doch Unüberhörbare, die Zwischentöne, den Subtext. Wie einem, der vermeint, alles im Griff zu haben, der Boden unter den Füßen weggezogen wird und er erst wieder lernen muss, zu leben ...
Zeki Demirkubuz ist, spätestens seit der ihm vor einigen Jahren bei der Viennale gewidmeten Hommage auch heimischen Cinephilen und Cineasten wohlvertraut. Das zentrale Thema des „türkischen Haneke“ ist die Kommunikationslosigkeit, das Aneinander-Vorbeileben. Dass sich ausgerechnet er, dem oft das Kalte und „Anämische“ seiner Werke vorgehalten wird, mit seinem neuen Film „Kader“ (Destiny, Türkei 2006) nun der Amour Fou zuwendet, scheint auf den ersten Blick überraschend. Bekir hat sich „rettungslos“ in Ugur verliebt, seit sie einst seinen Laden betreten hat und so anders war als die Frauen, die er bis dahin kannte. Bekirs Liebe wird nicht erwidert, weil Ugur dem gewalttätigen Zagor verfallen ist. Eine doppelte Amour Fou: immer mehr entfremden sich die beiden ihren Familien und Freunden, immer tiefer sinken sie in der sozialen Rangordnung, weil sie von den Objekten ihrer Begierde nicht lassen können. Ugur folgt Zagor in die entlegensten Orte, um nahe genug am jeweiligen Gefängnis, in dem dieser untergebracht ist, zu wohnen. Ugur wird schließlich zur Prostituierten, um ihr Kind, Produkt einer Vergewaltigung, und den Mann im Bau durchbringen zu können. Bekir ist zum Säufer geworden, landet lieber im Rinnsal, als Ugur aus den Augen zu verlieren, erreicht schließlich, dass er bei ihr wohnen darf – eine seltsame Wohngemeinschaft. Die ebenso verrückte wie aussichtslose Hoffnung, wiedergeliebt zu werden, treibt ihn an und verleiht ihm neue Lebenskraft ... Rund um Bekir und Ugur eine latente Atmosphäre der Gewalt, in Familien, Lokalen, an Straßenecken, jederzeit kann die Lunte entzündet werden ... Worte erweisen sich als gefährliche Waffe, nichts ist so „dahingesagt“, ebenso ist nichts mit Bedacht ausgesprochen. Man redet türkisch miteinander und würde doch ständig einen Dolmetsch benötigen: Da ist es wieder, das alte Generalthema von Demirkubuz, im Analphabetismus der Gefühle der auseinanderstrebend Liebenden gleichsam wie im Alltag der Menschen, denen sie begegnen: es gibt keine Hinweistafel, die vor Kommunikationsstau warnt ...
Iszka, zwölf, ist im Waisenhaus gelandet, obgleich sie keineswegs elternlos ist. Wenn die Mutter auftaucht, um sie abzuholen, wäre die Heimleiterin bereit, sie weiterhin als Waise einzustufen, aber Iszka hat gelernt, zu überleben. Ein Kind zu sein, ist ihr selten vergönnt. Täglich arbeiten, das Geld „daheim“ abliefern, bisweilen notgedrungen zur Diebin werden, Schläge, die im Haus und außer Haus auf sie warten ... Da sind die gleichaltrigen Leidensgenossen, deren Nähe sie sucht, da ist das Mädchen, mit dem gemeinsam sie autostoppt, um in ein nicht genanntes, doch zweifellos Hoffnung spendendes Land zu gelangen. Ein Schiff wird kommen ... Auf hoher See, endlich auf dem Weg, bemerkt Iszka, dass sie lediglich das Festland verlassen hat: sie und ihre Freundin sind in die Gewalt von Mädchenhändlern geraten ... „Iszka utaza´sa“ (Iszka´s Journey; Ungarn 2007; Regie: Csaba Boolók) zeichnet, fernab von Sozialkitsch und Mitleidsgehabe, das Bild eines aufstrebenden Landes, in dem Armut und Verelendung eines Teils der Bevölkerung offenbar als Preis für den Einstieg nach Europa gesehen werden. Der Osten leuchtet: Jedenfalls aber durch das Spiel der Maria Varga, die ihre Iszka in die Nähe der einige Jahre älteren Dardenn´schen Rosetta rückt: eine, die trotzig und unbeeindruckt vom „Schicksal“ ihren Weg geht, selbst wenn er sie zum Abgrund führt ... Mit Maria Varga ist (im auch sonst exzellent gecasteten Film Boolóks) ein außerordentliches Talent zum ersten Mal auf der Leinwand zu sehen – ob das Mädchen, wie das Festival sich beeilt, mitzuteilen, ein ähnliches Schicksal hatte, ist in diesem Zusammenhang zweitrangig.
Bemerkenswerte, zumindest erwähnenswerte Wettbewerbsbeiträge waren zudem (als einziger Beitrag aus den exjugoslawischen Ländern) der serbische Beitrag „Huddersfield“ (Serbien 2007; Regie: Ivan Zivkovic) über einen „zornigen jungen Mann“, der, anders als seine emigrierten Freunde, die ihn besuchen, im Lande geblieben, dabei folgerichtig zum Zyniker geworden ist und einen geistig behinderten Nachbarn „stellvertretend“ demütigt, sowie „Razsledvane“ (Investigation; Bulgarien 2006; Regie: Igilka Triffonova) über eine Ermittlerin, die einen verstockten Verdächtigen zum Sprechen bringen soll. Doch erst das Eingeständnis ihrer eigenen Schwächen, des privaten Desasters bringt ihr Verhör weiter, lässt sie begreifen, wie sie eine gemeinsame Sprache mit dem sich Sperrenden des Mordes Beschuldigten finden kann ... Ein feiner Genre-Film, auch hier eine Suchende an der Weggabelung, die eine Entscheidung treffen muss.
Kurt Hofmann