Roberto Rossellini (1906—1977): Neorealismus als moralischer Standpunkt
Laura Laufer
Vor 30 Jahren starb der italienische Filmregisseur Roberto Rossellini.
24.04.2007
Zu Beginn des Faschismus ist Rossellini 16 Jahre alt. Wie alle
Filmemacher seiner Generation beginnt er seine Karriere unter
Mussolini. Er dreht eine bissige antifaschistische Burleske, Il
tacchino prepotente (1939), und dann leider drei Propagandafilme, Un
pilota ritorna (1942), La nave bianca (1942) und L‘uomo dalla croce
(1943). Weit entfernt von der Ästhetik des faschistischen Pomps
enthüllen diese Filme simpler ideologischer Machart bereits seine
Neigung zum dokumentarischen Stil.
Nach dem Krieg drücken Roma, città aperta (Rom, offene Stadt) und Paisà
dem internationalen Kino bereits ihren Stempel auf — durch ihre
emotionale Wucht und ihre Fähigkeit, in einer natürlichen Szenerie den
Menschen auf der Straße das von den Schrecken des Krieges, dem
Schwarzmarkt und der Armut heimgesuchte Italien nahe zu bringen.
Rossellini bahnt auf diese Weise dem Neorealismus den Weg. Für den
Kritiker André Bazin "ist der Neorealismus eine globale Beschreibung
der Realität mittels eines globalen Bewusstseins … Er wendet sich gegen
die realistischen Ästhetiken, die ihm vorausgingen, insbesondere gegen
den Naturalismus und den Verismus, sein Realismus liegt nicht so sehr
in der Auswahl der Sujets, sondern in der Bewusstwerdung." Für
Rossellini ist der Neorealismus vor allem ein moralischer Standpunkt
gegenüber der Welt, diese Sichtweise bestimmt und schafft seine
Ästhetik.
Die Kargheit seiner materiellen Mittel beantwortet Rossellini mit einer
großzügigen Sicht und einer revolutionären Handschrift: eine
rätselhafte und synthetische Kunst der Darstellung von Ereignissen.
Die Trilogie Roma, città aperta (1945), Paisà (1946), Germania anno
zero (Deutschland im Jahre Null, 1948) stellt Personen und Kontext auf
dieselbe Ebene. In den Gesichtern der Menschen wie in den in Trümmern
liegenden Städten spiegelt sich die Zeit exakt wider.
In Roma, città aperta treten Mussolini und der italienische Faschismus,
obwohl noch gegenwärtig, zugunsten des Widerstands und Leidens des
italienischen Volkes gegen die Nazibesatzer in den Hintergrund. Dennoch
erweckt Rossellini den Eindruck, einen Film der Gegenwart zu drehen, so
intensiv und aufrührend ist er. Noch nie wurden bis dato der Krieg und
seine Schrecken so brutal und wahrhaftig geschildert (außer vielleicht
bei Dowshenko).
Diese Intensität steht nicht im Gegensatz zum Lyrismus seiner Filme,
der seinen Ausdruck in der schönen, von seinem Bruder Renzo Rossellini
komponierten Musik findet. So führen Bewegung und Musik in Paisà, einem
prachtvollen Fresko über die Befreiung Italiens, am Ende in die
Tragödie.
Edgar Morin inspiriert Rossellini zu Germania anno zero, der in den
Trümmern Berlins gedreht wird. Der Film zeigt ein Kind, das in einer
Gesellschaft ohne moralische Maßstäbe seinen Vater tötet: Edmund begeht
Selbstmord, als er sich des Chaos der Welt und des Horrors seiner
eigenen Taten bewusst wird. Dieses kraftvolle Werk beschreibt die
schrecklichen Wirkungen des Krieges auf die Kindheit.
Der schöne Film von 1960, Era notte a Roma (Es war Nacht in Rom),
behandelt das faschistische Italien; ebenso das verstörende Werk Il
Generale della Rovere (Der falsche General, 1959) mit einem großartigen
Vittorio De Sica in der Titelrolle.
Rossellini heiratet Ingrid Bergman, die daraufhin mit Hollywood bricht.
Sie dreht sechs Spielfilme mit ihm, darunter großartige Werke wie
Stromboli (1950), Europa ‘51 (1952), Viaggio in Italia (Reise in
Italien, 1954), La Paura (Angst, 1954).
Komplexe Themen
Diese Filme erlauben dem Regisseur, komplexe Themen zu vertiefen und
neue Wege zu gehen. Weit davon entfernt, die Darstellung der Welt
zugunsten des Porträts von Individuen aufzugeben, erweitert Rossellini
seine Suche. Er spürt der inneren Wahrheit nach, die er vor unseren
Augen als etwas Greifbares, Bewegendes und Tiefgründiges entstehen
lässt. Darin entsteht das Drama für das Individuum — im Konflikt mit
der äußeren Welt — aus seinem Streben nach Harmonie und
Selbstverwirklichung.
Unter dem Einfluss der Schriften Herbert Marcuses (Der eindimensionale
Mensch) und Simone Weils (La Condition ouvrière) interessiert sich
Rossellini für außergewöhnliche Gestalten, deklassierte Individuen am
Rande, die ihren Weg suchen. In Europa ‘51 nimmt Irène, eine Frau aus
dem Großbürgertum, aus Trauer um ihr Kind Kontakt zur Außenwelt auf und
bricht mit ihrer Klasse. Sie wird nach und nach frei und kommt zu
innerer Ruhe, während Familie, Psychiater, Gerichte und Polizei sie für
verrückt erklären und einsperren lassen.
Mit Francesco, giullare di Dio (Die Blumen des Hl.Franziskus, 1950),
einem pantheistischen, aber historisch strengen Film, sowie mit
Giovanna d‘Arco al rogo — nach dem Oratorium von Paul Claudel und
Arthur Honegger — bekräftigt Rossellini seinen Lyrismus. Der Regisseur
wendet sich auch großartigen satirischen Komödien zu wie La macchina
ammazzacattivi (1952) und Dov‘è la libertà (Wo ist die Freiheit?, 1954).
In den 60er Jahren macht Rossellini eine Krise durch, in der er zum
Schluss kommt, dass allein eine moralische Position der Wahrheit nahe
kommen könne. Er erklärt deshalb das Kino für tot und betrachtet das
Fernsehen als das Werkzeug, Erkenntnis zu fördern. Er entscheidet sich
für die Wissenschaft und beginnt ein enzyklopädisches Projekt über die
"Vorstellung von der Welt".
Er realisiert allgemeinbildende Filme, die für alle verständlich sein
sollen und in denen er Didaktik mit ungewöhnlichem Lyrismus verbindet.
Er dreht insgesamt mehrere hundert Stunden, darunter L‘età del ferro
(1964), La prise de pouvoir par Louis XIV (1966), La lotta dell‘uomo
per la sua sopravvivenza (1970), Socrate (1970), Blaise Pascal (1971),
Cartesius (1974) und Il Messia (Der Messias, 1976) (letzteren mit einer
eher historischen als religiösen Interpretation).
Ausgehend von Essays, Anekdoten und Texten schafft er eine neue
Technik, Geschichte zu erzählen. Rossellini realisiert Porträts
berühmter Persönlichkeiten. Er interviewt Allende in Chile (La forza e
la ragione, 1971) und nimmt Kontakt mit Mao Zedong auf, um mit Mao
selbst ein "Leben Maos" zu drehen. Das Projekt scheitert an der RAI.
Rossellini arbeitet mehrere Monate an seinem letzten großen Projekt:
einem Film über das Leben von Karl Marx, von seiner Jugend bis zum
Kommunistischen Manifest. Der Regisseur stirbt, bevor er das Werk
drehen kann.
Rossellini hat zahlreiche Filmemacher beeinflusst: Olmi, Lizzani,
Pasolini. Federico Fellini, sein früherer Assistent, sah in ihm einen
Meister, ebenso Truffaut, Rouch und Godard.
Rossellini, besessen von Neugier, nahm die Atmosphäre seiner Zeit ohne
vorgefasste Theorie, aber mit Leidenschaft auf. Mit Intelligenz und
einer lebhaften Sensibilität versuchte er beim Zuschauer ein
Bewusstsein von den Problemen der Gegenwart zu fördern.
(Übersetzung und Bearbeitung: Hans- Günter Mull)