Ohne Netz - Zum Filmfestival in Locarno
Kurt Hofmann
Anders als vergleichbare Großfestivals setzt Locarno nicht auf Stars und Glamour, erfüllt weder Traditionen noch Produzentenwünsche, vermeidet Selbstbespiegelung und Eitelkeiten. Der Star ist hier das Programm, gleichermaßen vielfältig wie herausfordernd.
18.08.2015
Wohl bei keinem anderen Festival findet man gleichrangig im Wettbewerb einen Experimentalfilm nach einem Text von Paul Bowles („The Sky Trembles and The Earth Is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers“) und eine ebenso vergnügliche wie „zugängige“ Auftragskiller-Komödie („Schneider vs. Bax“) vertreten, sowie die 317-minütige Geschichte einer wechselvollen Frauenfreundschaft („Happy Hour“) und eine 68-minütige Studie über Vater und Sohn, einander über die Jahre entfremdet, doch (vergeblich) hoffend, dass die Wiederbegegnung anlässlich der Fußball-WM in Brasilien eine Nähe herstellt, die nie vorhanden war… („O Futebol“) – der 317-minütige Film dabei wie im Flug vergehend, die 68-minütige Fußball-Familiengeschichte Anstrengung beim Zusehen abfordernd… usw., usf. … Doch nichts von alledem im folgenden: Fünf Filme aus dem diesjährigen Wettbewerb und die Wiederbegegnung mit einem Meisterwerk stehen im Mittelpunkt des Rückblicks auf ein Festival, das Unterschiedliches gleichrangig behandelte, gewissermaßen von den Rändern her, „Mittelpunkte" aller Art vermeidend, einem Seiltanz ohne Netz gleichend.
„Heimatland“ (Schweiz/D 2015): Ein Titel wie ein Klotz. Den Klotz bearbeitet man üblicherweise (jedenfalls dem Sprichwort nach… ) mit dem Keil und eben dies hatten dreizehn Regisseur/innen aus der Schweiz bei ihrer filmischen Landvermessung wohl im Sinn. Eine Wolke liegt über dem Land, bald wird sie sich zu einer unaufhaltsamen Flut (der Sintflut?) entladen. Schon herrscht Panik in einer profitverwöhnten Versicherung, nicht wegen der zu erwartenden Opfer, mehr wegen der zu erwartenden Kosten… Anders als bei vergleichbaren Projekten in der BRD (zu Zeiten von gesellschaftlicher Repression und Terrorhysterie – „Deutschland im Herbst“/1977) und Österreich (zu Zeiten der schwarzblauen Wende und ihren Auswirkungen – „Zur Lage“/2002) liegt hier den einzelnen Episoden ein verbindendes Motiv (die Wolke: die nahende Katastrophe – wie sich die handelnden Figuren dazu verhalten – wer sie „eigentlich“ verursacht hat) zugrunde. Gleichfalls unterschiedlich zu den beiden anderen Projekten werden die Regisseur/innen der jeweiligen Geschichte nicht namentlich ausgewiesen – es ist eine kollektive Kraftanstrengung, deren Teile freilich nicht immer zu einem Ganzen werden. Dramaturgische Schwächen und Oberflächlichkeiten fallen aber dennoch nicht ins Gewicht – was zählt, ist der gemeinsame Versuch einer Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Ist-Zustand.
Soviel steht fest: es ist kalt in der Schweiz. Selbst wenn die Wolke wieder wegzöge, prognostiziert der künstlerisch-politische Wetterbericht die kommende Eiszeit…
Chantal Akermans neuer Film „No Home Movie“ (Belgien/Frankreich 2015) hinterließ bei vielen Ratlosigkeit. Was sollte das, „nur“ ein Porträt ihrer Mutter anzubieten, deren oft belanglose Kommentare zu Familie und Alltagsgeschehen als „abendfüllend zu betrachten? Wer so argumentierte, hatte nicht genau hingesehen, ja nicht einmal das Statement der Regisseurin im Festivalkatalog gelesen: „Das ist vor allem ein Film über meine Mutter - meine Mutter, die nicht mehr da ist. Über diese Frau, die 1938 nach Belgien kam, auf der Flucht vor Polen, den Pogromen, den Ausschreitungen. Diese Frau, die man nur in ihrer Wohnung sieht. Einem Appartement in Brüssel. Ein Film über eine Welt in Bewegung, die meine Mutter aber nicht sieht.“ (C.A) Diese „Welt in Bewegung“ manifestiert sich im ständigen Vorhandensein von Kameras. Jede Regung der Mutter wird festgehalten, selbst dann, wenn Akerman per Skype mit dieser telefoniert, filmt sie die Mutter. Deren Bedürfnis nach Privatheit abseits der Beobachtung und der „Welt in Bewegung“ ist, so zeigt Akerman, in einer Welt, die jede Lebensregung dokumentiert (und im Internet auch sogleich kommentiert), eine Illusion. Gefilmt wird auch, wenn die Mutter nicht im Bild ist, durch eine Türritze wird das Eindringen der „Welt in Bewegung“ dokumentiert. Jetzt hört man nur die Stimme der Mutter. „Das ist vor allem ein Film über meine Mutter - meine Mutter, die nicht mehr da ist.“ : „No Home Movie“ ist auch ein Dokument des Abschieds, der letzten Gelegenheit, (auf) zu bewahren, was war. Zum einen macht „No Home Movie“ bewusst, weshalb primitive Gesellschaften abseits der Zivilisation auf einem Bildverbot bestehen, zum anderen, weshalb das nicht möglich ist in dieser „Welt in Bewegung“, und, aus anderen Gründen, auch nicht wünschenswert. Wer, wie die NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald, dem Film und seiner Protagonistin, „himmelschreiende Banalität“ (NZZ, 12.8.2015, S.41) vorhält, übersieht nicht nur Akermans konzeptuelle Überlegungen, sondern auch, dass die Mutter, eine KZ-Überlebende, zwar nicht über ihre Erfahrungen im Todeslager der Nazis spricht (und wohl alles Recht der Welt hat, dies zu verweigern), wohl aber über Flucht und Vertreibung aus Polen. Doch dies, so Ostwald, sei auch nur ein Trick der Regisseurin: „Diese (die Mutter - K.H.)erzählt alte Familiengeschichten, doch allein die Tatsache, dass sie en passent immer wieder ein jüdisches Flüchtlingsschicksal streift, wertet Letzteres geradezu ab. Akerman scheint dennoch auf einen Empathie-Bonus zu vertrauen, der ihre ganze Motivation in ein sehr zweifelhaftes Licht stellt.“ (Ostwald, a.a.O) Das ist nicht allein sprachlich („zweifelhaft“ bedarf nicht der Verstärkung durch „sehr“), sondern auch inhaltlich bedenklich. Was heißt es, wenn trotz (oder gar wegen?) des familiären Hintergrunds der Akermans diesen vorgehalten wird, sich durch die Erzählung von Flüchtlingsschicksalen einen „Empathie-Bonus“ verschaffen zu wollen? Da klingt ein Unterton mit, welcher ungewollt den Nachweis für Akermans Film führt, „No Home Movie“ zu sein…
Out of the desert: Freiwillig ziehen Stand Up Comedians nicht auf Tournee durch die kalifornische Wüste. Aber der Spaß-Macher in „Entertainment“(USA 2015; Regie: Rick Alverson) hat wohl keine Wahl. Mit wirr in die Stirn gekämmten Haaren und einer Brille, die man in anderen Gesundheitssystemen als den USA als Krankenkassenbrille bezeichnen würde, tingelt er von Lokal zu Lokal, mit den ewiggleichen Witzen über Prominente und Frauen, abgeschmackt, sexistisch, „tief“. Irgendwer hat ihm vor geraumer Zeit vage ein Engagement in Hollywood in Aussicht gestellt, irgendwann wird seine Tochter auf seine Anrufe reagieren und zurückrufen… In vielen Clubs und Bars reagiert das Publikum nicht einmal ansatzweise auf die Pointen. Man trinkt und unterhält sich weiter. Einmal greift der Entertainer eine desinteressierte Zuschauerin an, beleidigt sie, wird hinausgeschmissen. Doch das interessiert den fernen Verwandten von Osbornes Archie Rice („The Entertainer“, 1957) nicht, er macht weiter, steigt tiefer und tiefer ab, um am nächsten Abend wieder seine ewiggleichen abgeschmackten Witze zu reißen - that’s Entertainment…
Rick Alverson wirft einen mitleidlosen Blick auf seine Hauptfigur, versucht weder Sympathie noch Verständnis für diesen zu erwecken. Ein Egozentriker und Misanthrop, aber auch… ein Besessener: so spielt ihn der großartige Gregg Turkington, der bei der Wahl des Schauspielerpreises in Locarno unverdientermaßen übersehen wurde.
Eine junge Lehrerin aus Teheran arbeitet an einer Grundschule in einem trostlosen Vorort und will in die Hauptstadt versetzt werden: das ist die Ausgangssituation in Sina Ataeian Denas „Ma dar Behesht“ (Paradise; Iran/D 2015). Doch das stößt auf Schwierigkeiten. Nicht allein, weil die Mühlen der iranischen (Schul-)Bürokratie langsam mahlen, sondern auch, weil man ihr, wie ein den Film einleitendes Gespräch im Off ergibt, die vorgetäuschte Linientreue nicht abnimmt. Zu Recht, denn Hanieh, 25, ist ein Chamäleon. Tagsüber mahnt sie eine Schülerin wegen Verwendens von Nagellack ab und verpetzt sie bei der Schulleitung, abends zieht sie durch Lokale und schert sich nicht um Gebote und Verbote… Die Opportunistin als Prototyp einer Gesellschaft, in der es auf das Durchlavieren ankommt. In Haniehs Gesichtszügen spiegelt sich ein Wechsel aus Teilnahmslosigkeit und Verachtung. Gelebt wird nach Dienstschluss, offener Widerspruch ist ein No Go. Denn um Karriere zu machen, muss sich eine wie Hanieh an das Mikado-Prinzip halten: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren... There is no way to „Paradise“: daran lässt Sina Ataeian Denas Sittenbild einer Generation, die dem Gottesstaat nicht traut, sich aber dennoch nicht aus der Deckung hervorwagt, keinen Zweifel.
Haim-Aaron ist ein ultraorthodoxer Student, dessen fanatische Auslegung des jüdischen Glaubens ihn sogar unter seinen gleichgesinnten Kommilitonen isoliert. Er kasteit sich, um jeden Fehl zu vermeiden, doch die selbstauferlegte Fastenzeit schwächt seinen Körper dermaßen, dass er bewusstlos zusammenbricht und von den herbeigerufenen Notärzten für tot erklärt wird. Sein Vater, dessen Autorität in der Familie nicht angezweifelt werden darf, zweifelt die Autorität der Mediziner an. Tatsächlich gelingt es ihm, Haim-Aaron ins Leben zurückzuholen, doch der ist wie neugeboren. Nichts, was ihm zuvor wichtig war, will er nun weiterverfolgen. Er entwickelt vielmehr eine Gier nach Leben, auch wenn er nicht so genau weiß, wie er dieses ihm neue Bedürfnis befriedigen soll. Wie mit Frauen in Kontakt treten, wie dem Vater erklären, dass er lieber faulenzen will, als sich seinen Exerzitien zu widmen? Haim-Aaron streift durch die Nacht, sucht als Anhalter den Kontakt mit einer Autofahrerin, die sein Interesse weckt, kann sich ihr aber nicht erklären, flüchtet, findet sich später in einem Bordell wieder, flüchtet erneut… Wenn Haim-Aaron früher von seinen Kommilitonen wegen seiner radikalen Talmud-Auslegung gemieden wurde, ist er nun isoliert, weil er an seinem Pult einschläft… Es folgt die Relegation, für den Vater ist dies die ultimative Schande. Und der beginnt nachzudenken: War es etwa gegen „Gottes Willen“, als er seinen Sohn wieder belebt hat? … „Tikkum“ (Israel 2015; Regie Avishai Sivan) taucht tief in die Wahnwelten des religiösen Fanatismus ein. Längst ist derlei in der israelischen Gesellschaft kein Randphänomen mehr, aus den selbst aufgestellten Gesetzmäßigkeiten gibt es für die Unerbittlichen kein Entrinnen, wehe, wenn einer die Herde verlassen will. Dass sich Avishai Sivan für schwarz-weiß und gegen Farbe entschieden hat, verstärkt die dichte Atmosphäre des Films, doch Sivan konterkariert das Pathos der Frommen bisweilen mit surrealen Szenen von ironischer Qualität: etwa, wenn dem Vater, der Kloschüssel entsteigend, ein (Plastik-) Krokodil erscheint, welches ihm den Ratschluss des „Herrn“ mitteilt…
„Tikkun“ war der Höhepunkt des diesjährigen Wettbewerbs in Locarno, dessen Konsequenz und Strenge, inhaltlich wie formal, überzeugten.
Einem Tribute für Michael Cimino, den das Festival als Gast begrüßen durfte, war die Wiederbegegnung mit dessen Meisterwerk „Heaven’s Gate“ (USA1979/80) zu verdanken. Von verantwortungslosen Produzenten bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, war Ciminos Film zu dessen Entstehungszeit ein Flop. Nur wenige erkannten damals die herausragende Qualität von „Heaven’s Gate“. Nach der Restaurierung, im „Director’s Cut“, scheint es völlig unverständlich, wie dieser Film, den man betrachten kann wie ein Gemälde, in dem man bei wiederholtem Besuch im Museum immer neue Details entdeckt, deren Deutungspotential unendlich scheint, so abgetan werden konnte. Doch „museal“ wirkt „Heaven’s Gate“ keinen Moment: Im späteren neunzehnten Jahrhundert angesiedelt, ist er nicht nur eine (kenntnisreiche) Abrechnung mit dem idealisierten Geschichtsbild der USA, er zeigt auch den Ursprung späterer Praktiken der Macht auf, und weist zudem in der Darstellung der Bekämpfung der armen Einwanderer aus Osteuropa durch die reichen Viehzüchter, welche eine Todesliste für „unnötige Esser, Tagediebe, Kriminelle“ erstellen, erschreckend aktuelle Bezüge zu aktuellen Vorgängen auf – selbst wenn man heutzutage auf Todeslisten und Auftragskiller verzichtet, die Mentalität gegenüber „Eindringlingen“ ist geblieben... Und dann ist „Heaven’s Gate“ auch noch die Liebesgeschichte zwischen Averil (Kris Kristofferson) und Ella (Isabelle Huppert), einem hochgebildeten Mitglied der Oberschicht und einer Bordellbesitzerin. Kein Klischee, kein „Pretty Woman“-Trallala, vielmehr die Erzählung über eine Beziehung auf „Augenhöhe“, leidenschaftlich, zärtlich, wütend, nicht irritierbar, selbst als ein Dritter, gleichrangig in Ellas Liebe und befreundet mit Averil, dazustößt, trennbar nur durch den Tod. Es gibt Sequenzen in „Heaven’s Gate“, die man nicht vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat, wie den Rollschuhtanz Ellas mit Averil auf einem Fest. Und es gibt das Gesamtbild, das „Gemälde“, das man nach der Wiederbegegnung mit „Heaven’s Gate“ immer wieder betrachten möchte, wie in einem Museum, doch wissend, dass das niemals „museal“ sein wird…
Kurt Hofmann