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Mythos und Realität

Kurt Hofmann

Zu Ruth Beckermanns Film „American Passages“

29.12.2011

In Amerika kann bekanntlich jeder Tellerwäscher jederzeit Millionär werden und jede/r alles erreichen, wenn er/sie es nur will. Oder, wie der aktuelle Präsident in der Wahlkampfphase zu sagen pflegte: “Yes, we can!“. Ruth Beckermanns neuer Film „American Passages“, eine Bestandsaufnahme des unübersehbaren Auseinanderklaffens zwischen Arm und Reich, vermeidet  alle Klischees und interessiert sich für den Istzustand der Lebensqualität im „land of the free“.

„Yes, we can!“: Mit dem Wahlsieg des amtierenden Präsidenten und den Hoffnungen, die dieser auslöste, beginnt Beckermanns Film. Ein afroamerikanischer Präsident – wer hätte  das gedacht? Stoff für Geschichte(n), das zum mindesten. Überhaupt, die Historie. Meist gilt für die offizielle Selbstdarstellung der USA ja noch das „Liberty Valance“ - Prinzip, doch  lieber auf die Legende, denn  auf die Wahrheit zu  setzen. Aber selbst dort, wo man/frau sich anhand von Dokumenten zurückerinnert, beginnt irgendwann die Erzählung ihr Gleichgewicht zu verlieren und kippt ins Legendenhafte, wie in dem Moment, in dem in „American Passages“ bei einer  Veteranenfeier die Lady aus der Oberschicht, die ber Hymne, Befreiungskrieg und dergleichen erzählt, in Tränen  ausbricht. Fraglos hat sie diese Rede schon dutzende Male gehalten und ist wohl stets an  der gleichen Stelle punktgenau  in Tränen  ausgebrochen – Hollywood ist überall.

Es gibt aber auch  lehrreiche Laienspiele zur immer  wieder bemühten US-Geschichte. Etwa, wenn afroamerikanische Jugendliche in einem Museum die Geschichte ihrer Ahnen mimisch  nachempfinden und einer Dreizehnjährigen von ihrer Lehrerin erklärt  wird, jetzt wäre sie im idealen Alter für eine weibliche Sklavin, sie würde auf dem Sklavenmarkt den Höchstpreis erzielen, weil sie ab nun regelmäßig und sozusagen zeitgerecht  alle eineinhalb Jahre für Nachschub an zu versklavenden Menschenmaterial sorgen könne…

Eine  Momentaufnahme kennzeichnet jedoch mehr als alle anderen das Bild von „America as it is“: Da ist die gut ausgebildete weiße Frau, die ihr Hab und Gut zur Versteigerung freigeben muß, um ihre Schulden zahlen zu können. Am College, erzählt sie, habe sie noch gegen ihren Professor opponiert, als ihr dieser erklärte, in den USA werde es bald nur noch ganz  reich und ganz arm geben, dazwischen nichts mehr, nun wisse sie, es  sei der Istzustand.  Und da ist die andere  weiße Frau, die ersteigert, was die erste zurückgelassen hat aus ihrem frheren Leben. Die Dame in den besten Jahren jubiliert über das Schnäppchen, das sie  nun mit ordentlichem Profit weiterverkaufen könne. Das  macht Spaß, meint sie und schafft im Nu ein trauriges Gesicht, als ihr Beckermann von der Vorbesitzerin und deren zerstörter Existenz erzählt. „So sad“ sei das, aber irgendeine müsse den Krempel ja kaufen, wenn nicht  sie, dann eine andere.

 In  elf  Bundesstaaten hat Ruth Beckermann für „American  Passages“ gedreht, GewinnerInnen und VerliererInnen zu Wort  kommen lassen und ihre Geschichten gegeneinander abgewogen – eine unvoreingenommene Spurensuche, die schließlich mehr und mehr zu einem Sittenbild  der USA der Gegenwart gerät. Möglicherweise ein Film der Stunde, jedenfalls einer für all jene, die das Sehen noch nicht verlernt haben und diesen Sinn zu gebrauchen wissen.

Zum Ausklang des Films ein Casinobesuch in Las Vegas. Machen Sie ihr Spiel. Nichts geht mehr. Die Bank gewinnt – immer.