Locarno 2019: Falsche Gewissheiten
Kurt Hofmann
Vorab: auch unter der neuen Direktorin Lili Hinstin ist Locarno ein wichtiges Festival geblieben, das faule Kompromisse (weiterhin) meidet. Im Wettbewerb, den diversen „Nebenreihen“ sowie in der Retro war viel Anregendes zu sehen. Eine gelungene erste Saison.
01.09.2019
Lise ist schuldig. Oder richtiger: Die ihr vorgeworfene Tat wäre ihr zuzutrauen. Was im Gerichtssaaldrama „La Fille au bracelet“ (The Girl with a Bracelet/Piazza Grande) zu sehen ist, ist die Geschichte einer Vorverurteilung. Da steht die 18-jährige Angeklagte „vor den Schranken des Gerichts“ und spielt den Geschworenen keine tränenreiche Show vor. Auf Fragen antwortet sie häufig nicht oder anders, als man es von ihr erwartet. Und als die Staatsanwältin Lise auf deren Sexualleben anspricht, reagiert diese weder schamhaft noch trotzig, vielmehr gelassen. Längst spielen da schon die schwachen Indizien, welche die Anklage gegen Lise zur Hand hat, keine Rolle mehr. Verhandelt wird vielmehr das „Vorleben“ der jugendlichen Angeklagten im Verhältnis zu der ihr vorgeworfenen kaltblütigen Tat, der Tötung einer Schulfreundin.
Stéphane Demoustiers „La Fille au bracelet“ wurde für das populäre „Piazza Grande“ – Format ausgewählt, ohne dabei in populistischer Manier ZuschauerInnen-Erwartungen zu bedienen. Keine wohlfeilen Anwaltsduelle stehen da im Mittelpunkt, vielmehr das Zweifel-säen an einer anmaßenden „öffentlichen Moral“. Dies alles: schnörkellos inszeniert, falsches Pathos ebenso vermeidend wie „Primadonnen“-Auftritte. Aus dem exzellent gecasteten SchauspielerInnen-Ensemble sticht die Debütantin Anais Demoustier als Lise hervor. „La Fille au bracelet“ spricht für die Qualität des Festivals nicht nur „an der Spitze“ (im Wettbewerb) sondern auch „in der Breite“. Kein „Ereignis“, vielmehr ein Film, der sich für einen baldigen Kinoeinsatz empfiehlt.
Noch einmal zum Thema der vorab behaupteten Schuld: Ichiko ist Krankenschwester und betreut in einem Haushalt eine ältere, demente Frau. Als deren jüngste Enkeltochter entführt wird und ausgerechnet Ichikos Neffe sich als der Hauptverdächtige herausstellt, wird diese rasch von sensationslüsternen Medien als Mittäterin bezeichnet und sieht sich prompt einer Hetzjagd ausgesetzt.
Für Koji Fukadas „Yokogao“(A Girl Missing; Concorso Internazionale) ist es allerdings mit der Entlarvung eines dreifachen Massenprangers im TV, Print und Internet und der daraus folgenden Zerstörung der bürgerlichen Existenz von Ichiko nicht getan.
Vielmehr beschäftigt sich Fukada damit, was sich hinter dem Paravent von Höflichkeit und falscher Nähe verbirgt, wie familienähnliche Strukturen auch abseits der „eigentlichen“ Familien die japanische Gesellschaft prägen und dabei hinter einer Maske der Vertrautheit von einem Netz voller Intrigen durchzogen werden.
Alle Figuren in „Yokogao“ sind nach außen hin „supersauber“, doch keine/r, auch Ichiko, entspricht dem eitlen Selbstbild. Statt des offiziell beschworenen Zusammenhalts ein Kampf jede/r gegen jede/n, statt der inszenierten Harmonie eine Ellbogengesellschaft.
Sitzt einer in der U-Bahn und fragt sein Gegenüber nach der Uhrzeit: Das antwortet, indem es die Frage wiederholt… „Sitzt einer“… :So beginnt kein Witz, es folgt auch keine Pointe (sondern derer mehrere) in Yorgos Lanthimos neuem Film „Nimic“ (Fuori Concorso Shorts), vielmehr wird der von Matt Dillon gespielte Auskunft heischende von der Frau, die ihn imitiert hat, statt ihm zu antworten, bis in die Wohnung verfolgt. Sie ist adjustiert wie er, denn sie ist er, wie sie feststellt. Ein anderes Ich, ein Fall von Identitätsdiebstahl? Auch die in der Wohnung versammelte Familie vermag sich nicht zu entscheiden, wer vorhanden ist und wer nicht … „Nimic“, eine surreale Parabel über Sein und Schein, dauert zwölf Minuten, nicht mehr und nicht weniger. Yorgos Lanthimos hat für seinen Kurzfilm Maß genommen und erzählt in der vorhandenen Zeit eine zeitlose Geschichte über die menschliche Existenz mit souveränem Witz.
Philippinische Hausangestellte werden überall hin vermittelt – und dann vor Ort häufig gedemütigt und missbraucht. Um dies zu vermeiden, bereitet eine Agentur die arbeitswilligen Frauen auf Situationen, die sie in Ländern wie Saudi Arabien oder Dubai zu gewärtigen haben, in spielerischer Weise vor. Sie übernehmen Rollen – Herr(in) und Magd – was ihnen unterlaufen kann, wenn sie einmal in der „Falle“ sind. Es ist Re-Enactment, denn alle haben bei ihren Engagements schon Ähnliches erlebt. Nun sollen sie unter Anleitung lernen, wie sie sich gegen die Übergriffe wehren können. Vieles, was ihnen geraten wird, mag dabei an den Unterschieden zwischen Theorie und Praxis scheitern. Doch der wichtigste Lernprozess für die Frauen ist jener des sich mit anderen Austauschens, der Solidarität als Gegengift zum Ausgeliefertsein, das ist die Conclusio von Yoon Sung-a’s Doku „Overseas“ (Concorso Cineasti de presente).
Jimmie und Mont streifen gemeinsam durch San Francisco, ihre Stadt, die mehr und mehr Touristen anzieht und quasi zum Verkauf steht. Black Life matters: Sie suchen nach Spuren afroamerikanischer Präsenz in der belebten Metropole, nicht nur in ihrem Viertel, vielmehr zieht es Jimmie zu einem Haus in „viktorianischen“ Stil, in das er und Mont kurzfristig einziehen. Ein leerstehendes Gebäude, für Spekulationszwecke ausersehen wie so viele andere in der Stadt, aber eines mit besonderer Bedeutung für Jimmie. Hier ist er einst aufgewachsen und es wurde, davon ist er überzeugt und das schreit er auch einem „Auskenner“, der einem Bus voll Gaffern etwas über die lange zurückliegenden historischen Wurzeln des imposanten Hauses erzählen will, entgegen, von seinem Großvater 1946 erbaut. Zwar kann das schon von der Bausubstanz her nicht stimmen, doch hier gibt es sie, die von Trump so oft als Deckung für dessen Lügen beschworenen „alternativen Fakten“, denn Jimmies Behauptung, von der er fest überzeugt ist, obwohl er es besser wissen müsste, zielt weiter als auf die Feststellung eines Fakts, sie stellt vielmehr die Frage, wem die Stadt gehört, den Spekulanten und Resteverwertern, oder jenen, welche, wie es Joe Talbot, der Regisseur von „The Last Black Man in San Francisco“ (Concorso Internationale) in der Pressekonferenz formulierte, eine Stadt wie San Francisco ausmachen; den Kreativen und den Außenseitern. Als Mont im alten Haus eine Performance zeigt, ist davon, von den Neugierigen, Unkontrollierbaren die Rede, aber auch von einem täglichen Miteinander, das nichts von Quadratmeterpreisen weiß. In „The Last Black Man in San Francisco“ wird miteinander gesprochen, es werden Erfahrungen ausgetauscht, Erinnerungen aufgefrischt (und bisweilen wieder verworfen) und Pläne geschmiedet (ohne Garantie auf Verwirklichung).
Profitorientierte Spekulanten aber sind wie Tatortreiniger: Sie verwischen Spuren. Diese sichtbar zu erhalten: davon lebt die pulsierende Stadt.
Auf dem Weg zum Flughafen verfahren sich Jette und deren Freund Mario mit dem Auto. Jette entschließt sich darauf hin spontan, nicht, wie geplant, zu einem freiwilligen sozialen Jahr nach Costa Rica aufzubrechen, sondern vor Ort, in vertrauter Umgebung zu bleiben. Jette lebt mit ihrem Vater Urs, einem Arzt, in einem Dorf. Anders als sie leidet Urs unter dessen Enge und hat Pläne mit Jette, welche die Provinz hinter sich lassen soll. Urs ist nicht autoritär, aber stets und in allen Lebenslagen (nicht nur im Verhältnis zu seiner Tochter) überzeugt davon, es besser zu wissen. Notfalls überschreitet er auch Grenzen und missachtet geschützte Lebensräume. Jette entscheidet sich intuitiv gegen Costa Rica und könnte sich später auch wieder anders entscheiden. Urs hingegen hat Pläne, die er durchziehen will, komme, was wolle.
Was Ulrich Köhler und Henner Winckler in „Das freiwillige Jahr“ (Concorso Internationale) beschreiben, ist im Kern kein Generationskonflikt, sondern einer der unterschiedlichen Lebensauffassungen. In den Tag hinein lebend oder über den Tag hinaus: wer vermeint, es besser zu wissen, hat wenig verstanden, schließen Köhler/Winckler in ihrem reduziert erzählten, allen Ballast weglassenden Film im Stil der „Berliner Schule“.
Ausgerechnet in die tiefste Provinz versetzt zu werden ist für die junge südkoreanische Polizistin Yeon-su samt minderjähriger Tochter nicht erfreulich, auch wenn sie sich dort des schönen Titels „Chefin“ erfreuen darf. Schon bald muss sie ohnedies feststellen, dass die Ortsansässigen wenig Interesse an einer Zusammenarbeit mit ihr zeigen. Insbesondere, als sich herausstellt, dass ein von der eifrigen Ermittlerin aufgedeckter Fall von Prostitution sich anders verhält als angenommen. Ye-aun, ein scheues junges Mädchen, deren Eltern bei einem Bootsunglück umgekommen sind, ist vielmehr durch „allgemeine Anregung“ zur Dorfhure abgerichtet worden. Nun, da Investoren vor der Türe stehen und von Infrastruktur die Rede ist, wo sonst nur tumber Alltag war, will man Ye-aun loswerden – egal wie … „Pa-go“ (Height of the Wave) ist kein Krimi, vielmehr das Sittenbild einer selbstgefälligen Dorfgemeinschaft, die ihr verlogenes Ideal der Zusammengehörigkeit als Waffe gegen eine (von den Ortsansässigen zuvor gedemütigte und missbrauchte) Außenseiterin einsetzt, als diese das Bild nach außen zu stören beginnt.
Ländliche Idylle? Weit gefehlt! Der Aggression gegen Ye-aun folgen Verdeckungsversuche und Schönreden des eigenen Fehlverhaltens: Und das ist bekanntermaßen kein südkoreanisches Spezifikum …
Drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes kommt Vitalina Varela in Lissabon an. Fünfundzwanzig Jahre lang konnte sie sich nach dessen Verschwinden aus dem heimatlichen Dorf auf den Kapverden kein Ticket leisten, da kommt es auf drei Tage nicht mehr an. Den Nachlass regeln: was, wenn der nur aus einer brüchigen Hütte in den Slums von Lissabon besteht? Vitalina Varela ist im Dunkeln angekommen, entsteigt bloßfüßig dem Flugzeug. Und sie wird ins Dunkel der Erniedrigten und Beleidigten gestoßen, die hier vergebens ihr Glück gesucht haben. Licht und Dunkel: Pedro Costas „Vitalina Varela“ (Concorso Internationale) handelt von Schattenexistenzen und setzt die Möglichkeiten, Licht und Dunkel im Film zu zeigen, auf intensive Weise um. Da sind auch Geräusche oft wichtiger als der Dialog, denn lange erklären muss man die Lage der ausgestoßenen kapverdischen Existenzen nicht, auch nicht, wer sie in diese Lage gebracht hat. In einem gespenstischen Ambiente bewegt sich Vitalina Varela ungebeugt, mit anhaltender Präsenz.
Pedro Costas Film war „outstanding“ im diesjährigen Festival, eine andere Juryentscheidung als den Hauptpreis für „Vitalina Varela“ sowie auch jenen für dessen Hauptdarstellerin - Vitalina Varela – wäre kaum vorstellbar gewesen.
„Black Light“: Das sollte zunächst eine „Retrospektive über das internationale Black Cinema“ sein. Deren Kurator Greg de Cuir jr, spannte den Bogen seines Programms allerdings weiter: “Ein weiteres wichtiges Ziel war es, die vorherrschende Definition des Black Cinema aufzubrechen und zu versuchen, etwas Unfassenderes und Gemeinschaftlicheres anzubieten.“ Sollte heißen: Auch Regisseure, die man aus nachvollziehbaren Gründen nicht in einer dem „Black Cinema“ gewidmeten Retro vermuten würde, wie etwa Dassin, Fuller, Mankiewicz, Wise waren (mit antirassistisch positionierten Filmen) vertreten – durchaus zur Freude aller FilmenthusiastInnen, aber wohl nicht im Sinne eines „Black Cinema“. Jedoch: “Die Tatsache, dass schwarze Regisseure normalerweise keine Plattform mit den Meistern des internationalen Kinos teilen konnten, gereicht der Filmgeschichte zum Nachteil.“ (alle Zitate: Greg de Cuir jr. im Geleittext des Katalogs) Also kann sogar Jim Jarmusch mit „Ghost Dog“ einen Beitrag zum „Black Cinema“ liefern. Alles dreht sich, alles bewegt sich.
Dessen ungeachtet war die von Greg de Cuir jr. kuratierte Retro „Black Light“ ein Fest für alle Cinephilen sowie insgesamt zweifellos klug und beziehungsreich zusammengestellt, doch es ist wohl kein beckmesserischer Einwand, darauf zu verweisen, dass es ihr, ungeachtet wortreicher Begründungen, bisweilen an der nötigen Stringenz fehlte, weshalb das „Black Cinema“ auch nicht den Protagonisten des „Black Cinema“ vorbehalten blieb