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Locarno 2016: Vom Verzug der Fragen

Kurt Hofmann

Worauf man sich in Locarno verlassen kann: dass keine Klischees bedient werden. Locarno ist ein A-Festival ohne Allüren, das sein Publikum nicht hofiert, sondern herausfordert.

18.08.2016

Wer sich Starrummel, Glamour“, Red Carpet etc. erwartet, wird hier nicht bedient. Carlo Catrians Locarno ist vielmehr ein Festival mit klarem Profil und Wiedererkennungswert, in welchem die Siebte Kunst im Mittelpunkt steht, Filmen ohne vorgefertigte Antworten, das Eindeutige verweigernd, dem Mehrdeutigen, Fragenden zugeneigt.

Wer ist Marija? Eine Diebin, die unser Vertrauen missbraucht hat, sagt das Hotel, das sie als Reinigungskraft entlässt. Eine Streunerin, die ihre Miete nicht mehr zahlen kann, meint ihr Hauswirt, der sie delogieren will. Eine, die man auf „ihren Platz“ in der Gesellschaft verweisen wird, vermuten diejenigen, deren Durchblick nicht angezweifelt werden darf... Aber Marija kümmert sich nicht um das Urteil der Anderen. Im Hotel hat sie eine denunziert, die selbst einen festen Job, ihren Job braucht. Marija zeigt, nachdem die Hoteldetektivin sie „entlarvt“ hat, keine Reue, zum einen sei das von ihr Entwendete nur eine Bagatelle gewesen, zum anderen wären die Arbeitsbedingungen im Hotel das viel schlimmere Verbrechen. Den auf Miete dringenden Wohnungsinhaber bezahlt sie bargeldlos durch sexuelle Dienstleistungen, ohne sich ihm darüber hinaus zu „verpflichten“ (was er gerne hätte... )

Marijas Ziel ist die Eröffnung eines Friseursalons. Was sie tun muss, um zu Geld zu kommen, tut sie. Als Begleiterin eines „Geschäftsmanns“, der Insiderinformationen über seine Verhandlungspartner benötigt, kann die gebürtige Ukrainerin ihre Russischkenntnisse produktiv nutzen. Der „Geschäftsmann“, ein kleiner Gauner mit illegaler Baustelle, verliebt sich in sie. Und sie investiert Gefühle, um ihn schließlich zu verraten. Denn Marija hat schon die erste Rate ihres Friseursalons abbezahlt und Moral ist immer die angemaßte Sittenlehre der Anderen...

Einer Frauenfigur wie Marija begegnet man selten im Film. Die Unbedingtheit, mit der sie ihre Ziele verfolgt, wird in Michael Kochs „Marija“ (Deutschland/Schweiz 2016; Wettbewerb) aber nicht als Skrupellosigkeit ausgelegt, denn wer kümmert sich in einer (skrupellosen) Gesellschaft wie dieser um eine wie Marija, wenn nicht sie? Solidarisch mit anderen, zumal „ihresgleichen“, zu sein, kann sie sich „eigentlich“ nicht leisten, dennoch hilft sie einer Freundin und deren illegal in Deutschland lebenden Freund mit einem Teil des von ihrem Liebhaber „geborgten“ Geldes, sich rechtzeitig abzusetzen. Marija ist weder gut noch böse. Sie agiert, wie es die Umstände eben erlauben. Ihren Weg geht sie unbeirrt, und das erhobenen Hauptes. Eine wie sie hat keine Wahl. Denn die Verhältnisse, die sind nicht so...

Fünfzehn Jahre, nachdem er Warwick, eine Arbeiterstadt „in the middle of nowhere“ verlassen hat, kehrt Peter dorthin zurück, um die Verlassenschaft seiner Großmutter zu regeln. Mittlerweile hat er an der Wall Street Karriere gemacht, doch ohne die auf der Heimreise verlorene Brieftasche hilft ihm dieser Status in Warwick nicht weiter. Er entschließt sich, Donald, den „Jungen von nebenan“, einst sein Freund, immer noch eine Nervensäge, anzupumpen. Aber der will sich nicht mit der zu gewährenden Gefälligkeit begnügen, er will die Zeit zurückdrehen. Wo immer er gemeinsam mit Peter auftaucht, blamiert er diesen. Schließlich wird Peter sogar von der Security des Altenheimes, in dem seine Oma gelebt hat, festgesetzt, weil sich Donald in den Jahren seiner Abwesenheit dort als Peter ausgegeben hat... So zweckgerichtet Peter geworden ist, so ziellos ist Donald. Peter findet sich in einem Zeittunnel wieder, doch auch Donald weiss, dass er Peter nur für kurze Zeit festhalten kann... „Donald Cried“ (USA 2016, Regie: Kris Avedsian; Concorso Cineasti del presente) ist ein independent film, der auf vergnügliche Weise die Ambivalenz seiner Protagonisten hervorkehrt: Ja, Donald ist ein „pain in the ass“, aber durch seine wahnwitzigen Aktionen gelingt es ihm auch, den geldverhärteten (wenn auch kurzzeitig bargeldlosen... ) Peter ein wenig zu „humanisieren“. Nein, Peter wird nicht in Warwick bleiben, es gab gute Gründe, dass er einst dieses Kaff verlassen hat, vermutlich wird er nach seiner Abreise diesen Ort nie mehr besuchen, auch nicht für ein schließlich versprochenes Wiedersehen mit Donald, einmal buddy, immer buddy. In einem Städtchen wie Warwick leben Menschen wie Donald, der die Ohrfeigen seines Stiefvaters und Arbeitgebers schon für Zuneigung hält. Ein Freund wäre für Donald der Hauptgewinn, da kommt Peter als Kurzzeitgeisel zur rechten Zeit... Nur im Märchen kommen seltsame Freundschaften wie jene von Donald und Peter auch zu einem guten Ende, das zeigt „Donald Cried“ unmißverständlich, aber Donald, das große Kind, glaubt noch an fairy tales und kann eben deswegen in Warwick überleben...

Tairos Talisman, ein Stück gebogenen Eisens, ist verschwunden, von einem mißgünstigen Konkurrenten im Zirkus entwendet. Ohne seinen Glücksbringer trittt Tairo, der Löwendompteur, nicht auf. Er heftet sich auf die Spur dessen, welcher ihm einst dieses Utensil geschenkt hat: dem „Mister Universum“. Aber der ist alt geworden und muss Tairos Wunsch nach einer Wiederherstellung des Vermissten ablehnen. Doch längst schon hat sich Tairos Freundin auf die Suche nach dem Sohn des Mister Universum begeben, auch dieser ein Eisenverbieger: ein Liebesbeweis...

„Mister Universo“ (Österreich/Italien 2016), der österreichische Wettbewerbsbeitrag von Tizza Covi und Rainer Frimmel, spielt „abermals“ im Zirkusmilieu, „echte“ Artisten erzählen eine Geschichte entlang der stringenten dramaturgischen Vorgaben von Covi und Frimmel. „Mister Universo“ ist ein Spielfilm von beträchtlichem Charme, der seine „realen“ Versatzstücke wie ein ungelöstes Puzzle neu zusammensetzt. Wer glaubt, dass ihn das Glück verlassen hat, kann keinen Fuß mehr vor den anderen setzen (geschweige denn: die Löwen bändigen... ). So gesehen ist die Geschichte von „Mister Universo“, im Artistenmilieu angesiedelt und auch dort ihren Zauber entfaltend, eine universelle. Wie es dem Regieduo gelingt, die „sich selbst“ spielenden Laien in fabulierende ArtistInnen des vazierenden Zirkusses Covi/Frimmel zu verwandeln, das ist, frei nach Brecht, das Einfache, das schwer zu machen ist...

Eine Seltenheit auf Festivals: dass eine Juryentscheidung nicht den faden Beigeschmack des Kompromisses hat. „Godless“ (Bulgarien/Dänemark/Frankreich 2016; Regie: Railitza Petrova; Wettbewerb), den diesjährigen Siegerfilm, konnte man im Rahmen eines ausgeglichenen Wettbewerbs durchaus prämieren. Wieder steht eine bemerkenswerte Frauengestalt im Mittelpunkt: Gana ist Altenpflegerin und bestiehlt ihre PatientInnen. Im Auftrag einer Bande, deren Aktivitäten von korrupten PolizistInnen gedeckt werden, entwendet sie den Betagten deren Identitätskarten. Für einen ihrer „Schützlinge“, einen ehemaligen Dirigenten, der sie zur Teilnahme zu einem Laienchor überredet, entwickelt Gana sogar Sympathie. Als er von ihren Kumpanen ermordet wird, geht sie zur Polizei. Leider spricht sie den falschen Freund und Helfer an...

Irgendwann wird erwähnt, dass Gana als Kind missbraucht wurde und deshalb keine Liebe mehr empfinden kann. Aha, daher ihre Morphiumsucht und ihr asoziales Verhalten: aber so billig gibt es „Godless“ nicht. Der Film ist vielmehr Sittenbild (eines Teils) der bulgarischen Gesellschaft, das von jenen erzählt, die in einer Umgebung der tief verwurzelten Korruption „nicht anders können“, weil sie nichts anderes kennen. Gana steht in der Hackordnung ganz unten, eine Handlangerin, die zu funktionieren hat. Zu Beginn des Films sieht man zwei Gangster in einem Auto, dem ein Hund nachläuft. „Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein dummer Hund“, sagt einer der Kriminellen zum anderen. ...denn er hat immer noch nicht kapiert, dass sich sein Herrchen nicht mehr im Kofferraum befindet!“ … Am Ende des Films sehen wir Gana in diesem Wagen sitzen, neben ihr der Polizist, den sie um Hilfe gebeten hat...

2014: Dreißig Jahre, nachdem Kenneth und Theres, die sich einst in Griechenland als Straßenmusikanten versucht hatten,als Paar gescheitert sind, bemerkt Theres en passent eine jämmerliche, heruntergekommene Gestalt, auf dem Gehsteig sitzend, neben sich ein Instrument. Sie geht an ihm vorbei, obgleich sie ihn erkannt hat... Als nächstes sieht man ein Bahngleis. Oben auf der Bahnsteigkante noch der letzte Rest eines Menschen: ein Schuh. Ja, Kenneth hat Selbstmord begangen, aber das auszubuchstabieren hat ein Film wie „Der traumhafte Weg“ von Angela Schanalec (Concorso Internationale/Wettbewerb) nicht nötig. Entlang eines dünnen Handlungsfadens wird ein Gewebe von Andeutungen und Zeichen in „Bressonesker“ Manier gesponnen. Da ist weniger mehr. „Der traumhafte Weg“ hat polarisiert und bei manchen sogar Empörung ausgelöst. Schön, das das im Kino noch möglich ist...

Die Leinwand bleibt schwarz. Eine intensive Stimme erzählt. Wie der Junge aus Litauen, 1922 geboren, flüchtet und auf dem Weg nach Wien von den Nazis in ein Arbeitslager gesteckt wird. Wie man ihn nach dem Krieg in Camps für „displaced persons“, Entwurzelte, verfrachtet hat. In „I had nowhere to go“ (D2016; Regie Douglas Gordon; Concorso Cineasti del Presente) spricht kein Geringerer als Jonas Mekas, erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, an die Wunden des 20.Jahrhunderts. Eine sehr persönliche, zeitlich genau eingegrenzte Geschichte, die nicht zur Einebnung und zur Verwechslung taugt, aber in Zeiten von Flucht und Vertreibung eben auch nicht im Gestern bleibt. Die erste Kamera des Jungen wird beschlagnahmt. Was immer er gedreht hat, verboten sei es allemal, meint der sowjetische Offizier, reißt den Film aus der Kamera, wirft diese zu Boden und trampelt darauf herum. Ein Schlüsselerlebnis für Mekas: Film ist subversiv – da muss er weitermachen... Die Leinwand bleibt schwarz in „I had nowhere to go“ und man bemerkt die enge Verwandtschaft zwischen Image und Imagination... Manchmal doch ein Bild: da ist ein Gorilla zu sehen. Was macht denn der da? Als die Leinwand wieder schwarz und der seltsame Menschenaffe gefühlte Ewigkeiten später schon fast vergessen ist, die Auflösung durch Mekas, der erzählt, wie er als junger Mann durch den zerbombten Hamburger Zoo flaniert, dessen Tiere, bis auf wenige wie eben den Gorilla, die Angriffe nicht überlebt haben... Überleben: ein wertvolles Geschenk, das man in bedrohlichen Zeiten erhält. Erinnern: ein wertvolles Geschenk für die Nachgeborenen.

Die diesjährige Retro „Geliebt und verdrängt – Das Kino der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1963“ barg Entdeckungen sonder Zahl. 1939 mit seiner Familie vor den Nazis aus Deutschland geflohen, lebte der Schriftsteller Peter Weiss seitdem in Schweden. 1956 dreht er dort den 13minütigen Kurzfilm „Ansikkten i skugga“ (Gesichter im Schatten). Es sind die Gesichter von alten Obdachlosen, deren Schlafplätze in der Unterkunft nur durch Vorhänge getrennt sind. Peter Weiss und sein Kameramann Christer Strömholm, der „schwedische Goya“, inszenieren das Verlassen der Bettstatt durch den Vorhang wie die Verbeugungen von Schauspielern bei der Premiere: Vor den Vorhang bitte! „Gesichter im Schatten“ zeigt die Utensilien, welche die Obdachlosen in Schachteln aufbewahren, zweifellos das Wichtigste, was diesen Erniedrigten und Beleidigten noch geblieben ist. Manche von ihnen haben nicht einmal einen Platz in der Unterkunft gefunden (oder wollen dort nicht leben) und liegen auf dem Gehsteig, so unbeachtet von den Anderen wie achtlos weggeworfener Müll. Weiss und Strömholm konzentrieren sich auf die Hände, die noch zum Kartenspielen und Gestikulieren taugen und vor allem auf die zerfurchten Antlitze der Obdachlosen. Sie geben ihnen, so wie sie diese zeigen, die Würde wieder, ohne zu verschweigen, dass diese alten Männer Trinker sind und deren Leben sich einem Ende zuneigt, das kein gutes sein wird.

Ein Höhepunkt der Retro und des Festivals insgesamt war der 1957 in der Regie von Ottomar Domnick entstandene Film „Jonas“. Ohne Dialoge, aber angeleitet durch den Off-Kommentar des damals 27jährigen Hans Magnus Enzensberger, wird das Porträt eines Konformisten namens Jonas entworfen, der sich so weit wie möglich anpassen und nicht auffallen möchte. Als Jonas einen Regelverstoß begeht, wirft ihn das komplett aus der Bahn. Der gute Deutsche, einer wie Jonas, das macht Enzensbergers ironischer Kommentar deutlich, muss die gesellschaftlichen Vorgaben einhalten, vor und nach 1945. Hinter den Kulissen des „Wirtschaftswunders“, der modernen Architektur, den neuen Geschäften voll der anlockenden Waren, existiert 1957 eine erzkonservative Gesellschaft, die Angst vor Veränderung wie auch vor den Fragen nach der Verantwortung für das nahe Gestern (des Hitlerfaschismus) hat. Diesen Widerspruch verkörpert Jonas, der so sein will wie alle, nur ja nicht wie er selbst. Er läuft in Ottomar Domnicks kafkaesker Reise durch das Adenauer-Deutschland der 50er-Jahre vor seinem eigenen Schatten davon.