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Jonglieren mit Zahlen - Berlinale 1: Forum, Panorama, Encounters, Perspektive Deutsches Kino

Kurt Hofmann

Ungeachtet dessen, dass der Wettbewerb im siebzigsten Jahr der Berlinale dank der Direktionsübernahme durch Chatrian/Rissenbeck im Zentrum des Interesses stand, hatten auch die sogenannten „Nebenbewerbe“ – wie stets – einiges zu bieten.

03.03.2020

Eine Kleinstadt in Ost-Texas: Neue Jobs gibt es da längst keine mehr, in die Infrastruktur des Ortes investiert auch niemand, da gibt es nichts zu erben, und so hoffnungslos heruntergekommen, wie sich die Umgebung präsentiert, ist auch die Stimmungslage. Inmitten dieses durch Arbeitslosigkeit und Frustration geprägten anhaltenden Desasters gibt es für die BewohnerInnen ein alljährliches Highlight: den „Hands-On“–Wettbewerb des örtlichen Autohändlers, an dem zwanzig durch das Los bestimmte TeilnehmerInnen einen fabriksneuen Pick-Up-Truck gewinnen können. Wer als Letzter der Hitze und den langen Nächten getrotzt hat und sich immer noch mit beiden Händen am Wagen festhält, Witterung und Schlafbedürfnis trotzend, hat den begehrten Preis gewonnen. Ein Spektakel, für das sich der Lokalsender ebenso interessiert wie die zahlreichen Fans, die ihre Favoriten anfeuern. Das geht über Tage und dabeisein ist hier längst nicht alles. Jede/r für sich selbst gegen die Anderen, da wird nicht kommuniziert, allenfalls fällt ein Blick auf die benachbarten KonkurrentInnen, ob sie endlich schlappmachen. Aufgeben ist aber keine Option, solange die Hände noch das Objekt der Begierde, das Goldene Kalb in Form einer Karosserie, berühren. Doch das Scheitern ist unvermeidlich: im besseren Fall ist es nur die nachlassende Physis, im schlechteren Fall liegen die Nerven blank, im worst case richten sich die Aggressionen allumfassend gegen die „Anderen“.

Derlei Marathonwettbewerbe waren in den USA insbesondere in Krisenzeiten und –gebieten stets beliebt, ein Lob des Wettbewerbes, in dem jede/r seines/ihres Schicksals SchmiedIn sei ebenso wie das Spiegelbild eines gnadenlosen Systems, das sich als alternativlos sieht. Sydney Pollack hat das in Form eines Dauertanzwettbewerbes bereits 1969 in „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ vorgezeigt. Der deutsche Regisseur Bastian Günther interessiert sich in seinem penibel recherchierten Film „One Of These Days“ (Deutschland/USA 2020; Panorama) für die Zu-kurz-Gekommenen, deren Hoffnungen manipuliert werden, die niemals aktiv ins Spiel eingreifen können, stets Spielball bleiben, in dieser besten aller Welten.

Wo kommt das Geld her und wo fließt es hin? Derlei Fragen mit scheinbar naivem Unterton stellt Carmen Losmann in ihrem neuen Film „Oeconomia“ (Deutschland 2020; Forum) Bankern, „Wirtschaftsgurus“ sowie anderen EinflussträgerInnen und ihre Neugier reicht noch weiter – so will sie etwa mehr über das Verhältnis von Schulden und Wachstum erfahren und darüber, wie man mit Zahlen so lange jonglieren kann, bis eine veritable Varieté-Veranstaltung daraus wird … Derlei Hartnäckigkeit wird selbstverständlich nicht allseits goutiert: werden Interviews überhaupt  „gewährt“, so unterliegen sie meist strengen Vorab-Kontrollen, eine Vorstandssitzung darf nur durch die Glasscheibe gefilmt werden, ein Kundengespräch in der Bank wird – immerhin mit einem „echten“ Kunden - simuliert. Viele Gespräche müssen nachgespielt  werden, manche Wortmeldungen sind nur im Off zu hören. Jenen aber, die sich „trauen“, auf Losmanns Fragen einzugehen, verschlägt es bisweilen die Sprache … In einer Fußgängerzone ist ein Tisch aufgestellt: Dort kommentieren KritikerInnen der ZahlenjongleurInnen wie einst im griechischen Drama der Chor als Kontrollinstanz das Gesagte …

Nach „Work Hard – Play Hard“ (2011) dringt Losmann mit  „Oeconomia“ erneut in üblicherweise geschützte Bereiche vor, sie steckt sprichwörtlich ihre Nase in Dinge, „die sie nichts angehen“ – und das ist gut so.

Schlafen, vielleicht auch träumen: Wenn Marlene aufwacht, hat sie Angst davor, erneut in Morpheus Arme zu sinken. Sie führt, verstreut auf hastig bekritzelte Zettel, ein (Alb-)Traum-Tagebuch. Immer wieder taucht da ein Hotel im Wald auf, welches ihr vertraut scheint, doch was dort passiert, löst Ängste in ihr aus. Sie will diesen nächtlichen Andeutungen auf den Grund gehen. Nun ist Marlene seit Jahren eine treue Kundin der Pharmaindustrie, die Tabletten scheinen auch notwendig, weshalb ihre Tochter Mona die Idee ihrer Mutter, dem Hotel, das real zu sein scheint, einen Besuch abzustatten, für keine gute hält. Doch Marlene läßt sich nicht davon abhalten. Kurz danach erfährt Mona, dass Marlene in eine Form des Starrkrampfes verfallen ist und im Spital als lebende Tote liegt. Nun will Mona selbst erkunden, was es mit dem Hotel der Albträume auf sich hat und stößt auf den Schrecken verdrängter Erinnerungen ... 

„Schlaf“ (Deutschland 2020; Perspektive Deutsches Kino), der erste (Lang-)Film von Michael Venus ist zunächst ein origineller Genre-Mix aus Horror– und Heimatfilm (der Wald - vor lauter Bäumen). Je beängstigender die Familiengeheimnisse, desto undurchsichtiger der Schleier der Verdrängung, je schöner die Gegend, umso häufiger die alten Nazis, Verdrängung spielt auch hier die Hauptrolle. Die Schachtel in der Schachtel: das Private, das politisch ist, das Vergangene, das nicht tot ist. 

Michael Venus hat in „Schlaf“ einen Film über ein (langsames) Erwachen gedreht und Familie, Heimat, Gesellschaft mit impliziten Schrecken zu einem Ganzen verwoben, ein gleichermaßen düsterer wie einfalls- und wendungsreicher Erstlingsfilm. 

Endlich steht der Lehrer Bakhtiyar nach Jahren der Versetzungen von Schule zu Schule vor einer Festanstellung. Nicht allein seine kurdischen Wurzeln, auch die (drei Jahrzehnte zurückliegenden) politischen Aktivitäten seines Vaters, welche diesen ins Gefängnis brachten, hatten Bakhtiyars Fortkommen behindert. Doch nun scheint er, mit seiner Familie in einer kurdischsprachigen Stadt des Iran lebend, endlich beruflich wie privat Fuß zu fassen. Aber der gute Kontakt zu seinen Nachbarn wird brüchig, als ein Wagen in seiner Straße parkt und dort tagelang, samt Fahrer und Beifahrer – beobachtend? - stehen bleibt. Naturgemäß blühen die Vermutungen, was denn die Insassen dieses mysteriösen Autos, mutmaßlich Geheimdienst-Agenten, in dieser abgelegenen Gegend suchen würden und vor allem – nach wem sie Ausschau halten. Jede/r verdächtigt jede/n, doch idealerweise bietet sich Bakhtiyar, der „Zugereiste“, als „Täter“ an - schuldig per Verdacht. Nader Saeivars Erstlingsfilm „Namo“ (The Alien; Iran 2020; Forum) zeigt, wie in einem Klima der Angst Opportunismus, Denunziation und Ausgrenzung gedeihen. Was die „Agenten“ im geparktem Auto wirklich wollen: man will es gar nicht so genau wissen, wichtig ist die Absicherung für den „Fall der Fälle“ und – einen Schuldigen zu finden … 

 

Jane ist die Assistentin eines Medienmoguls. Sie organisiert dessen Terminkalender, muss wissen, wen sie am Telefon abzuwimmeln und wen sie zu hofieren hat, Launen des Chefs (der nur am Telefon präsent ist) widerspruchslos ertragen und - ungeachtet ihres hervorragenden Universitätsabschlusses – für ihre männlichen Kollegen die Zuträgerin und Putzfrau spielen. Als sie beobachtet, wie eine jugendliche Geliebte des Bosses trotz mangelnder Qualifikation ein- und ihr gleichgestellt wird, beschwert sie sich und wird prompt beim Chef angepatzt … 

„The Assistant“ (USA 2020; Regie: Kitty Green; Panorama) erweckte nicht zuletzt im Zusammenhang mit „Me too“ großes Interesse, doch die Belästigung, der Jane in „The Assistant“ ausgesetzt ist, geht weit über sexuelle Übergriffe hinaus. Sie ist einer ebenso omnipräsenten wie arroganten Männerdomäne ausgesetzt und als Person (weil weiblichen Geschlechts) im Büro „nicht vorhanden“ ... Begeht sie „Fehler“, muss sie dem Chef ein unterwürfiges Entschuldigungsmail schicken (eine Art „elektronischer Stalinismus“, aber bereits in der demokratisch-kapitalistischen Praxis etabliert). „The Assistant“ erzählt explizit von den Unterwerfungsritualen, die (männliche) Macht einfordert. 

In der neuen Abteilung „Encounters“, dem ästhetisch Außergewöhnlichen gewidmet, war (endlich) wieder ein fürs Kino geschaffener Film von Alexander Kluge zu sehen. „Orphea“ (Deutschland 2020; Encounters), gemeinsam mit dem philippinischen Regisseur Khavn entwickelt, widmet sich dem Orpheus-Mythos, den Kluge einer Geschlechtsumkehr unterzieht. Orphea, als Engel der Geschichte, will nicht nur „ihren“ Toten Euridiko zurückholen, sondern dem Tod den Kampf ansagen. Von den Biokosmisten (ein Unsterblichkeitsprojekt der Sowjets) bis zur Afterlife-Forschung im Sillicon Valley, von der Flucht aus dem Totenreich bis zu den Migrationsbewegungen der Gegenwart: der Bogen, auch der musikalische rund um den Orpheus–Mythos ist wie immer bei Kluge weit gespannt, eine Tour d’Horizon, so kenntnis- wie variantenreich.

Als Abschluss des Jubiläumsprogramms des Forums  (fünfzig Jahre) war der Film zu sehen, dessen „Skandal“-Wirkung  die Gründung des „Internationalen Forums des Jungen Films“ beförderte, wenn nicht initiierte: Michael Verhoevens „O.K.“ (BRD 1970).

Vietnam: Ein junges Mädchen wird von US-Soldaten brutal vergewaltigt und danach ermordet. Michael Verhoeven greift in „O.K.“ die Geschichte dieses (realen) Verbrechens auf und lässt sie im  bayrischen Wald nachspielen. Die SchauspielerInnen  sprechen im breiten bayrischen Dialekt, es wird sichtbar, dass der Vietnam-Krieg nicht (nur) viele tausende Kilometer entfernt stattfindet, sondern hier - vor Ort. Das ist nicht der einzige Verfremdungseffekt, den Verhoeven in „O.K.“ anwendet. SchauspielerInnen treten aus ihrer Rolle, kommentierte Zwischentitel gliedern das Geschehen (unverkennbar: der Einfluss der Nouvelle Vague auf den jungen Verhoeven), die banal-„kabarettistisch“ ausgespielten Vorgänge während einer Waffenruhe werden durch Erniedrigungen Einzelner und schließlich die demütigende Kontrolle einer vorbeiradelnden Zivilistin (die fünfzehnjährige Eva Mattes), welche in Vergewaltigung und Mord mündet, konterkariert. Die zynischen Kommentare der GIs erinnern im verfremdeten Idiom nicht zufällig an Horvath und Brecht (siehe: V-Effekt), sie machen auch die Verbindung zum  erst ein Vierteljahrhundert Zurückliegenden deutlich, stellen  Kontinuitäten her – ohne  es platt auszusprechen. Alles ist möglich: immer noch … 

Diese Version eines US-Kriegsverbrechens in Vietnam provozierte Teile der  Jury, insbesondere den Jury-Vorsitzenden George Stevens, der verlangte, dass „O.K.“ aus dem Wettbewerb entfernt werden sollte. Das bewirkte eine Gegenbewegung zahlreicher RegisseurInnen, die ihre Filme zurückzogen und in der Folge das vorzeitige Ende der Berlinale des Jahres 1970. (die unrühmliche Rolle des damaligen Berlinale-Leiters Alfred Bauer, dessen Herumlavieren und Lügen erhält im Lichte von dessen erst kürzlich aufgedeckten Verstrickungen in die NS-Kulturpolitik eine besondere Duftnote…)

1971 war für die Berlinale ein  Neubeginn: Filme, die sich kritisch mit bisher nicht Hinterfragtem auseinandersetzten, Widerständisches, gar Revolutionäres, thematisierten, fanden nun im „Internationalen Forum des Jungen Films“ ihren Platz. Der Auslöser für diese Öffnung der Berlinale war aber der „Skandal“ um Verhoevens „O.K.“ (ein Film, der bis heute nicht in deutschen  Fernsehanstalten gezeigt wird) und dessen Folgen.