Im Jahr der Schlange
Kurt Hofmann
Zur Viennale 2019
21.10.2019
Als Fabelwesen seit je faszinierend, ziert nun eine Schlange auch das neue Viennale-Plakat. Und diese ist auch auf mehreren Bedeutungsebenen präsent: „Die Schlange symbolisiert das Streben nach Wissen, und demnach auch Nonkonformismus und einen kritischen Geist“ erläutert Viennale-Direktorin Eva Sangoirgi in ihrem Vorwort zur diesjährigen Ausgabe der Viennale im Katalog.
Klug, nonkonformistisch und kritisch: ein derartiges Profil erfüllen Viennale-Programme unter unterschiedlichen Intendanten wie Alexander Horwath und Hans Hurch ebenso wie jetzt unter Eva Sangiorgi (deren Vertrag erfreulicherweise vor kurzem verlängert wurde). Diesen Anspruch stets aufs Neue zu proklamieren, ist aber weder banal noch überflüssig, sondern notwendig in Zeiten des Vergessens der Selbstverständlichkeiten.
Im aktuellen Programm finden sich neue Werke „üblicher Verdächtiger“ wie Woody Allen, Olivier Assayas, Bruno Dumont, Abel Ferrara, der Dardennes … ebenso wie viel Entdeckenswertes.
Die Filme von Angela Schanalec verweigern konventionelle Erzählstrukturen und gehen eigene assoziative Wege. Von den zahlreichen Personalen sei daher insbesondere auf jene Schanalec zugeeignete verwiesen. Zu diesem Schwerpunkt ist auch eine Publikation erschienen.
Das Filmarchiv Austria hat die Werke der österreichischen Filmpionierin Kolm-Fleck wiederentdeckt. Und die zentrale Retro des Österreichischen Filmmuseums „O partigiano!“ thematisiert den Partisanenfilm – not to be missed!
Alle Infos zur Viennale: www.viennale.at
Aus dem vielfältigen Programm einige Vorschläge für dieses Viennale-Jahr:
Yokogao
(A Girl Missing)
Japan/Frankreich
2019
Regie: Koji Fukada
Ichiko ist Krankenschwester und betreut in einem Haushalt eine ältere, demente Frau. Als deren jüngste Enkeltochter entführt wird und ausgerechnet Ichikos Neffe sich als der Hauptverdächtige herausstellt, wird diese rasch von sensationslüsternen Medien als Mittäterin bezeichnet und sieht sich prompt einer Hetzjagd ausgesetzt.
Für Koji Fukadas „Yokogao“(A Girl Missing) ist es allerdings mit der Entlarvung eines dreifachen Massenprangers in TV, Print und Internet und der daraus folgenden Zerstörung der bürgerlichen Existenz von Ichiko nicht getan.
Vielmehr beschäftigt sich Fukada damit, was sich hinter dem Paravent von Höflichkeit und falscher Nähe verbirgt, wie familienähnliche Strukturen auch abseits der „eigentlichen“ Familien die japanische Gesellschaft prägen und dabei hinter einer Maske der Vertrautheit von einem Netz voller Intrigen durchzogen werden.
Alle Figuren in „Yokogao“ sind nach außen hin „supersauber“, doch keine/r, auch Ichiko, entspricht dem eitlen Selbstbild. Statt des offiziell beschworenen Zusammenhalts ein Kampf jede/r gegen jede/n, statt der inszenierten Harmonie eine Ellbogengesellschaft.
Synonymes
Frankreich/Israel/Deutschland 2018
Regie: Nadav Lapid
Nackt und bloß kommen wir zur Welt. Yoav, für den die Übersiedlung nach Paris einer Wiedergeburt gleicht, hat sich allerdings nicht vorgestellt, seine Grundidee gleich so wortwörtlich durchleben zu müssen. Als er in einer – zwar nicht ihm gehörenden, doch leeren - Wohnung ein Bad nimmt, werden ihm prompt seine Kleider ebenso wie seine übrige Habe gestohlen. Der nackte Yoav ruft vergeblich um Hilfe, auch sein Läuten an allen Türen wird scheinbar nicht gehört.
Bis… sich ein junges, begütertes Paar seiner annimmt… Yoav entdeckt rasch, dass sich seine neuen Freunde im Austausch für Gefälligkeiten und eine Wohngelegenheit von ihm Geschichten erwarten, denn Yoav ist ein begnadeter Erzähler. Er berichtet den Beiden von seiner Zeit beim israelischen Militär und seinen „Heldentaten“, hat aber auch kein Problem damit, neue Schwänke zu erfinden… Davon abgesehen will er vorrangig eines: Franzose werden. Im Einbürgerungskurs will er die an ihn gestellten Anforderungen, und seien diese noch so absurde Anmaßungen, doppelt und dreifach übertreffen. Überhaupt, Yoav, der sich vorgenommen hat, für den Rest seines Lebens kein Hebräisch mehr zu sprechen, will ein Superfranzose werden. Bald schon nervt er mit seiner Attitüde seine zukünftigen Landsleute gewaltig, denn die Französinnen sind ihm viel zu wenig französisch…
„Synonymes“ von Nadav Lapid hat bei der Berlinale 2019, durchaus nicht unverdient, den „Goldenen Bären“ gewonnen. Tom Mercier spielt den Yoav stets wie unter Strom stehend, eine hyperaktive Nervensäge, ein Kolumbus der Identitätsfindung, dessen Entdeckerwille, sein neues Land angehend, allemal zu weit geht … „Synonymes“ ist eine Satire über nationalistischen Wahn. Indem er die staatsoffiziellen Dogmen nicht nur einzuhalten, sondern überzuerfüllen bereit ist, macht ausgerechnet der anpassungswillige Wartesaal-Franzose aus Israel deren Absurdität sichtbar. Freiheit, Gleichheit, Brüder- und Schwesterlichkeit: wer wäre da nicht dafür? Aber immer neue Barrieren im Namen der Integration, die Neu-FranzösInnen dressieren sollen wie Tanzbären, das ist dort, wie bekanntermaßen auch anderswo im stolzen Europa leider Usus geworden. Erst ein Integrations-Clown wie Yoav macht das mit seinen Faxen deutlich…
Vitalina Varela
Portugal 2019
Regie: Pedro Costa
Drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes kommt Vitalina Varela in Lissabon an. Fünfundzwanzig Jahre lang konnte sie sich nach dessen Verschwinden aus dem heimatlichen Dorf auf den Kapverden kein Ticket leisten, da kommt es auf drei Tage nicht mehr an. Den Nachlass regeln: was, wenn der nur aus einer brüchigen Hütte in den Slums von Lissabon besteht? Vitalina Varela ist im Dunkeln angekommen, entsteigt bloßfüßig dem Flugzeug. Und sie wird ins Dunkel der Erniedrigten und Beleidigten gestoßen, die hier vergebens ihr Glück gesucht haben. Licht und Dunkel: Pedro Costas „Vitalina Varela“ (Concorso Internationale) handelt von Schattenexistenzen und setzt die Möglichkeiten, Licht und Dunkel im Film zu zeigen, auf intensive Weise um. Da sind auch Geräusche oft wichtiger als der Dialog, denn lange erklären muss man die Lage der ausgestoßenen kapverdischen Existenzen nicht, auch nicht, wer sie in diese Lage gebracht hat. In einem gespenstischen Ambiente bewegt sich Vitalina Varela ungebeugt, mit anhaltender Präsenz.
Der traumhafte Weg
Deutschland 2016
Regie: Angela Schanelec
2014: Dreißig Jahre, nachdem Kenneth und Theres, die sich einst in Griechenland als Straßenmusikanten versucht hatten, als Paar gescheitert sind, bemerkt Theres en passant eine jämmerliche, heruntergekommene Gestalt, auf dem Gehsteig sitzend, neben sich ein Instrument. Sie geht an ihm vorbei, obgleich sie ihn erkannt hat… Als nächstes sieht man ein Bahngleis. Oben auf der Bahnsteigkante noch der letzte Rest eines Menschen: ein Schuh. Ja, Kenneth hat Selbstmord begangen, aber das auszubuchstabieren hat ein Film wie „Der traumhafte Weg“ von Angela Schanelec nicht nötig. Entlang eines dünnen Handlungsfadens wird ein Gewebe von Andeutungen und Zeichen „Bressonesker“ Manier gesponnen. Da ist weniger mehr.
Ein Zitat charakterisiert, was die Filme von Schanelec ausmacht: „Ich glaube, in unserer Gesellschaft entsteht der Mensch erst durch sein Gegenüber. Er entsteht im Blick des Anderen, und je nachdem, wer dieser Andere ist, wird er schön oder hässlich. Wir sind angewiesen auf diesen Anderen, wir hängen ab von seinem Blick, von seiner Hand.“ (Angela Schanelec, 2007)
Ich war zuhause, aber
Deutschland/Serbien 2019
Regie: Angela Schanelec
„Worum geht es?“ – das war die erste und wichtigste Frage der FreundInnen des Narrativen, der durcherzählten, dramaturgisch grundierten Handlung bei der Premiere von „Ich war zuhause, aber“ von Angela Schanelec. Vielleicht… um Wahrhaftigkeit? Dafür spricht die Titelreferenz an Ozus „Ich wurde geboren, aber“ ebenso wie jene durch einen unvermittelt auftauchenden Esel, der an Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ erinnert. Bresson, Ozu: Zwei Regisseure, die für Wahrhaftigkeit und Purismus stehen… Referenzen, Querverweise, lose Szenen: das sind Charakteristika im Werk von Schanelec. Wahrhaftigkeit: Astrid, die Hauptfigur in „Ich war zuhause, aber“, kongenial verkörpert von Schanelec’ Lieblingsdarstellerin Maren Eggert, ist (wie Schanelec) die Witwe eines Regisseurs und trifft auf der Straße einen Regisseur, der in seiner neuen Arbeit eine Tänzerin mit einem Sterbenskranken konfrontieren will - zwecks Originalität. Hier die perfekte körperbetonte Schräge, dort das hilflose Ausgeliefertsein an den eigenen Körper: welch ein Zynismus, befindet Astrid, so kunst - wie lebensfeindlich, und verachtet diese aufgesetzte Kunst-Lüge.
Oder: Der Fahrradkauf. Astrid kauft von einem alten, behinderten Mann, der durch ein Kehlkopfmikrophon (vermittelt) zu ihr spricht, ein gebrauchtes Fahrrad und wird bezüglich dessen Zustand betrogen. Er könne doch, meint der alte Mann, das Fahrrad reparieren. Aber Astrid will das Geld zurück: der Händler hat ihr Vertrauen gebrochen. Und schließlich: der verschwundene und wieder zurückgekehrte ältere ihrer beiden Söhne. Kaum zurückgekehrt, liegt er mit Blutvergiftung im Spital. Wenig später sieht man ihre Kinder in einer Schulaufführung des „Hamlet“ – der Giftmord an Hamlets Vater, eine durch und durch vergiftete Gesellschaft, die mit Täuschung agiert. So das Stück, doch seine kindlichen ProtagonistInnen, die mit tiefem Ernst, aber ohne tieferes Verständnis des Stückes agieren, sind eben (noch) ohne Trug, der Täuschung, der geplanten Unwahrhaftigkeit nicht fähig…
Solche wie beiläufig erzählte Szenen wechseln einander ab, legen eine Spur… möglicherweise. Denn das Kino von Angela Schanalec ist eines der Assoziationen, auch eines des genauen Blickes im Detail und der verschwommenen Ansicht auf das „große Ganze“. Im Kino der Behauptungen ist das eine Todsünde.