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Filmfestivals: Europareif und weltgewandt

Kurt Hofmann

Die Festivals Crossing Europe (Linz) und IFFI (Innsbruck) - Für die BesucherInnen der österreichischen Filmfestivals bietet das Frühjahr alljährlich „entlang der Westbahn“ in loser Aufeinanderfolge zwei „Schmankerl“: das an Jahren noch junge, doch schon international renommierte Festival des jungen europäischen Films „Crossing Europe“ in Linz, sowie mit dem Internationalen Film Festival Innsbruck (IFFI) das „dienstälteste“ Festival in den Bundesländern, welches sich längst von einer Schau lateinamerikanischer Filme (America Film Festival) zu einem vielbeachteten Wettbewerbsfestival mit Schwerpunkt Süden entwickelt hat und heuer seine 16. Ausgabe verbuchen konnte.

09.07.2007

Crossing Europe

Nach der Reihe werden die Namen der Besucherinnen aufgerufen. Die junge Frau wartet geduldig, bis endlich ihr Name verlesen wird, denn die Gelegenheiten, mit den Inhaftierten zu sprechen, sind rar.
Ein unscheinbarer Mann drängt sich hinter sie in die Schlange der Wartenden. Mehrfach sieht sie ihn in den Wochen danach wieder, bis er sie schließlich nach einem Besuch anspricht.
Scheinbar LeidensgenossInnen, weiss sie doch nichts über ihn, während er vieles über sie weiss (was ihr verborgen bleibt).
Der sexuelle Notstand bringt die beiden zusammen – Gefühle zu investieren, wäre Verrat, sagt sie.
Maite liebt Vincent, der zu sieben langen Jahren verurteilt ist. Sie weiss zunächst nicht, dass es sich bei dem Mann, mit dem sie sich bisweilen trifft, um den Aufseher Jean handelt…
Ach wie gut, dass keiner weiss: Maite muss erfahren, mit wem sie geschlafen hat. Jean ist der einzige, dem Vincent im Gefängnis vertraut. Als dessen Verrat aufgedeckt wird, verlangt Vincent von Jean einen Beweis seiner „Freundschaft“: er soll die Zusammenkünfte mit Maite für ihn mit einem Aufnahmegerät „dokumentieren“…
Von allen Posen sei die moralische die unanständigste, vermerkte Oscar Wilde. Im Beziehungsdreieck von „7 Ans“ (Frankreich 2006; Regie: Jean-Pascal Hattu) agierte keine/r im Sinne der gängigen Moral. Drei Einsame versuchen hier „auf ihre Rechnung zu kommen“, wissend, dass sie stets ein Schuldschein sein wird. Dennoch ist da nichts von Falschheit und Taschenspielertricks, das Handeln der Drei in Liebesdingen wird von Verzweiflung und einem Gefangensein in Zwangsläufigkeit bestimmt, was getan werden muss, ist allerdings irreversibel…
Dieses Gefangensein ist freilich ein emotionales, denn, daran lässt Hattu in „7 ans“ keinen Zweifel, nichts ist der völligen Entrechtung und dem Verlust beinahe aller Menschenrechte im Gefängnis vergleichbar.

Was Avril, die Novizin, von der Welt weiss, hat sie innerhalb der Klostermauern erfahren. Als Findelkind von den Nonnen aufgezogen, kennt sie nichts außer  den geistlichen Regeln. Nie hat ihr Fuß die Schranken der geistlichen Bewahranstalt überschritten. Dennoch ist da der geheime Wunsch nach mehr. Und da ist ihr künstlerisches Talent, welches wider die strengen Ordensregeln von Schwester Bernadette, die Avril zugetan ist, im geheimen gefördert wird. Avril zeichnet und malt, was sie in „Gottes schöner Natur“ findet. Doch die Zeit der zweiwöchigen Einkehr steht an: Nach vierzehn Tagen totaler Isolation und Kasteiung, die Avril für Gebet und Meditation nützen soll, erwarten die Trapitstinnen von ihr, den heiligen Eid zu schwören und sich für ein lebenslanges Klosterdasein zu entscheiden. Zuvor jedoch verrät Schwester Bernadette ihr ein lange gehütetes Geheimnis: Avril hat einen Zwillingsbruder, der ebenfalls einst vor der Klosterpforte abgelegt und von den Nonnen einer Pflegefamilie übergeben wurde. Avril entschließt sich, nach ihrem Bruder zu suchen…
Dass das Erdendasein nur eine Vorstufe für die unendliche himmlische Belohnung sei, hat Avril von den Nonnen zweifellos erfahren. Wenn sie aber, einem modernen Kaspar Hauser gleich, bei der Suche nach ihrem Bruder mit staunenden Augen eine ihr neue Welt außerhalb der streng reglementierten, in der sie aufgewachsen ist, kennen lernt, begreift Avril nach und nach, wie es mit den irdischen Freuden bestellt ist, lernt, zu leben, ohne dafür um Vergebung bitten zu müssen, steigt vom Berg, auf dem das Kloster gebaut ist, hinab in die Ebene.
Gerald Hustage-Mathies’ „Avril“ (Frankreich 2006) ist ein filmischer Entwicklungsroman, in welchem die Novizin Avril erfährt, wie es wahrhaft um sie bestellt ist. Anders als 1966 bei Jaques Rivettes Diderot-Verfilmung „La Religieuse“, die Proteste und in der Folge sogar ein Verbot zur Folge hatte, ist in diesem Fall, vier Jahrzehnte danach, keine kirchenamtliche Reaktion zu erwarten. Avrils sanft-naives Wesen empört sich nicht, als sie erkennt, was ihr verschwiegen und vorenthalten wurde, klagt nicht an, will sich lediglich von den einstigen Banden lösen – dennoch ist unübersehbar, dass auch in „Avril“ Fragen wie Würde und Selbstbestimmung verhandelt werden.


In einem Dorf in Flandern: Der dumpfe und gleichförmige Alltag hat die Menschen geformt. Wäre da nicht das moderne Gerät für die Felder und die Hofbewirtschaftung, könnte man sich ohne weiteres im Jahrhundert irren. Hier ist weder Hoffnung noch Perspektive. Wer kann, geht weg, und sei es wie André, den die Werber der Armee eingefangen haben, in den Krieg. Dort, im fernen Land, ist der Feind, den die Bauernsöhne nicht kennen noch begreifen, aber das Befehl-Gehorsam-System haben sie von Kindheit an verinnerlicht, sie funktionieren. Die Frau des Feindes mit Gewalt zu nehmen, bereitet ihnen keine Skrupel. Wenn sie, gefangen genommen, daran erinnert werden, beginnen sie zu betteln und zu jammern. Plötzlich ist der Feind ein Mensch, der angesprochen wird, weil er auf Rache sinnt. André kommt mit dem Leben davon und kehrt verwundet heim. Barbe, das Mädchen, das ihm nahe ist von klein auf, und ab und zu, als sei es Brot für einen Hungernden, mit ihm geschlafen hat, empfängt ihn und fragt nach dem Anderen, dessen Kind sie im Leibe trägt. Jener, Andrés guter Kumpel (wenn auch nicht Freund, denn Freundschaft kennt André nicht) ist laut Totenschein gefallen, doch Barbe ahnt, dass André in der Tarnung des Krieges für dessen Tod gesorgt hat…
In Bruno Dumont’s neuem Film „Flandres“ (Frankreich 2006) sieht man einen Menschenschlag, der weiss, wann die Ernte eingebracht und das Vieh gefüttert werden soll, aber nicht, wie miteinander umgehen. Dass die Bauernsöhne im Krieg zu Vergewaltigern werden, weil die Frauen der Feinde für sie nur bewegliches Mobiliar sind, welches sie in Beschlag nehmen, ist nur ein Teil der Wahrheit. Rassismus, Verachtung sind zweifellos Ursachen. Aber auch, wie Dumont am Besispiel Andrés zeigt, der über Barbe herfällt, wenn sie mit ihm schlafen will, dass jeder Koitus bei ihnen wirkt wie eine Vergewaltigung…
Barbe, die Störrische, wird von ihrem Vater, wenn er sich keinen Rat weiss, in die Psychiatrie gebracht, zur „Reparatur“, auf dass sie wieder funktioniere. Für Frauen ist kein Platz im bäuerlichen Universum, außer zum Gebären. Barbe wird ihr Kind zur Welt bringen und mit dem Mörder ihres Geliebten zusammen leben, das ist der Lauf der Welt, dort, wo die Zeit stehen geblieben ist…

Familienbande: Das „Neubacher-Project“ entsteht, weil sich der Regisseur Marcus J. Carney mit der (unaufgearbeiteten) geschichtlichen Verstrickung des mütterlichen Zweiges seiner Familie auseinandersetzen will.
Der Großonkel war Bürgermeister des hitlerfaschistischen Wien, der Großvater wurde als treuer Parteisoldat von den Nazis zum Direktor des Lainzer Tiergartens ernannt, die Großmutter, eine eifrige Ariseurin (sie ließ sich vor ihrem Tod noch von Enkel Marcus aufnehmen und war partiell auskunftswillig), der Onkel und andere Familienmitglieder hartnäckige Geschichtsverdränger und –relativierer.
Nunmehr, Jahrzehnte danach, sei es endlich an der Zeit, darüber zu reden, findet der Vertreter der Enkelgeneration. Freilich fällt es auch seiner Mutter, die begeistert Hilfsprojekte für den Süden organisiert und schon dadurch ihre Abkehr von der „Familientradition“ signalisiert, nicht leicht, über das tabuisierte Thema zu sprechen. Nur das Insistieren des Sohnes bringt sie dazu, diesem zu erzählen, wie ihr Vater nach dem Ende von kurzen tausend Jahren, uneinsichtig und haßerfüllt der Tochter die Heirat mit Juden oder US-Amerikanern (schon gar: US-amerikanischen Juden!) explizit verbietet, sonst würde er sie eigenhändig umbringen…
Die Kamera des Marcus J. Carney läuft immer mit, die Familienmitglieder gewöhnen sich daran. Das „Neubacher-Project“ schließt alle Abläufe des täglichen Lebens der Familie mit ein und erstreckt sich über Jahre. Da erkrankt die Mutter plötzlich an Krebs, die lebensfrohe Frau wird zunehmend zum hoffnungslosen Fall. Aus dem „Neubacher-Project“ wird „The End of the Neubacher-Project“ (Österreich/Niederlande 2006), nicht alleine wegen des nahenden Todes der Mutter. Das Ende des ursprünglichen Projektes steht für Carney auch deshalb an, weil er nun erkennt, dass das Schweigen, auch das Verschweigen, zum Lebensprinzip der geliebten Mutter geworden ist. Weshalb ist sie, die schließlich doch einen US-Amerikaner geheiratet hat und sich dann plötzlich von ihm getrennt hat, nicht imstande, mit Marcus darüber zu reden und möchte die Jahre mit dem Vater am liebsten aus ihrer (und tunlichst auch aus Marcus’) Erinnerung löschen. Ein familiäres Zusammenleben habe es nie gegeben, behauptet sie, die Erinnerung des Sohnes an die Kindheit ist eine andere, unterstützt durch wieder gefundene alte Ferienfilme. Die Lüge: der rote Faden der Neubauer-Dynastie? Selbst am Totenbett der Mutter bleibt die Kamera des Sohnes erbarmungslos eingeschaltet …
Eines der spannendsten Projekte des neuen österreichischen Dokumentar- und Essayfilms wurde bei der diesjährigen Diagonale nicht gezeigt, lobenswerterweise aber von  Crossing Europe, wohl auch, weil ein Film wie „The End of the Neubacher.Project“ auch im europäischen Vergleich mühelos bestehen kann. Wie die Nichtbewältigung der
(familien-) geschichtlichen Traumata auch das private, abermals tabuisierte Unglück der Mutter impliziert und die eingeforderte Trauerarbeit nicht stattfindet, das wird unversehens zu einem exemplarischen Fall der Erinnerungsverweigerung. Die Vermischung des Analytischen, Investigativen mit dem Privaten, ja Privatesten schein angesichts dieser Überlegungen beim „Neubacher Project“ unvermeidbar und bleibt dennoch problematisch. Er habe, erzählt Marcus K. Carney in der Diskussion nach der Vorführung seines Filmes bei „Crossing Europe“ sowohl den Sterbemoment der Mutter als auch jenen der greisen Großmutter aufgenommen und in letzterem Fall auch ernsthaft überlegt, diesen in den Film einzubauen… „The End of the Neubacher Project“ wird bei seinem Kinostart (der Film hat mit dem Filmladen erfreulicherweise bereits einen Verleih gefunden) zweifellos für heftige Debatten sorgen, kalt lassen wird er wohl keine/n seiner ZuseherInnen.

Die schrecklichen Eltern: Wie ist das, wenn die Älteren immer jünger werden und der in die Ecke gedrängte heranwachsende Sprössling in der Folge seine Erzeuger verflucht? Kaum ist der Vater, welcher wegen diverser Drogendelikte in Haft war, entlassen, geht es schon auf’s Land, ins neue Domizil – einmal mehr ein Umzug, den die 14-jährige Stevie nicht goutiert. Ihre Eltern sind moderne Hippies, die in den Tag hinein leben. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll: an derlei Lebensprinzipien (exclusive allenfalls des Rock ‚n’Roll) knüpfen Stevies Eltern an, wollen ihren Spaß haben, sind stets locker – da schüttelt es die verkrampfte pubertierende Tochter, die den gleichaltrigen Girlies erzählt, ihre Eltern wären höchst erfolgreiche Teilnehmer der Leistungsgesellschaft. Sie überklebt ihre Familienfotos mit Köpfen von anerkannten Aufsteigern, stiehlt dem Nachbarskind ein Proträt von dessen Lieben, um das Gruppenbild durch ein neues (14-jähriges) Clanmitglied zu ergänzen…
Doch je mehr Stevie versucht, dazuzugehören und sich von der eigenen Sippe abzugrenzen, desto mehr überschreitet sie, die von den Eltern Anpassung erfleht, Vorschriften und Regeln…
Pia Marais’ „Die Unerzogenen“ (Deutschland 2007) war der Siegerfilm von Crossing Europe 2007. Wenngleich fraglich ist, ob es die von Marais hier satirisch porträtierte Form des AussteigerInnentums in deren hier nachgerade infantilen Prägung (noch) gibt, ist die peinlich berührte Stevie zweifellos lebensecht, die sich noch so verbiegen kann, um nicht doch von den versnobten Unternehmers- und Arzttöchtern verlacht zu werden.
Bloß kein Außenseiter sein, den Erfordernissen des Mainstream tunlichst gerecht zu werden: diese Stevies laufen in großer Zahl herum, verfolgen mit panischer Ungeduld die In- und Outlisten und bereiten sich auf die nur wenige Jahre später von ihnen abverlangte „große Anpassung“ vor. Dann heißt es, keine dummen Fragen stellen, denn für alle ist bestens gesorgt…

Crossing Europe 2007: Das war erneut eine respektable Auswahl des neuen europäischen Filmes abseits der leidigen „Eurofilme“. Steigende ZuschauerInnenzahlen, hervorragende Kritiken und eine beachtliche  internationale Reputation werden wohl im nächsten Jahr auch die zögerlichen lokalen Förderstellen unter den Druck notwendiger Subventionserhöhungen setzen, zumal auch des Jahr 2009 naht, in dem Linz als europäische Kulturhauptstadt mit einem Festival wie „Crossing Europe“ ein Atout hat.