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Etwas wird sichtbar - Anmerkungen zur Diagonale in Graz 2007 (2. Teil)

Kurt Hofmann

Diagonale 2007 - Kurt Hofmann hat die Filme gesehen: "Als die Werkelmänner, Musikanten des Lügen-Wien, des Hollodrio, inmitten des Schreckens, ihrem Ausbeuter entfliehen und eine Gewerkschaft gründen wollen, ist ihr Scheitern vorprogrammiert. Auseinanderdividiert, bestochen und verraten, stehen sie am Ende mit leeren Händen da. Der Hass aber bleibt, während die Fassade des Gemütlichen zu bröckeln beginnt..."

11.05.2007

Zwei SchwimmerInnen in seltsamem Ambiente.  Aus dem Off die Verlesung einer strengen Verordnung gegen Wasserverschmutzung, beamtengenau. Der Schwimmer im zweiten Teil des Filmes zieht seine Runden in einem Prachtbad realsozialistischer Prägung, einschüchternd monumental und mehr an „ewigen Ruhm“ gemahnend denn zum täglichen Besuch einladend. Zu Beginn eine Schwimmerin in dörflicher Umgebung. Das Bassin ist mitten im Ort gebaut. Dahinter verläuft die Hauptstraße, Autofahrer unterwegs. Wasser, omnipräsent: Zwar fehlt es an Infrastruktur – sowohl ein Kauf- als auch ein Gasthaus sind nicht vorhanden – dafür erfreuen ein Zierbrunnen und zahlreiche Blumen, die nach Wässerung schreien. Für die Entsorgung des Abwassers sorgen Klärschächte, für die Bewahrung vor Feuer der gleich in zweifacher Ausfertigung im Ort präsente Heilige
Florian …
Der Text: Ein Gesetz der als Umweltverschmutzer weithin bekannten DDR. Ebenso ernsthaft wie unmissverständlich wird da zur Reinhaltung der Gewässer aufgefordert, Sanktionen für die Nichteinhaltung penibel aufgelistet….
Das längst stillgelegte Prunkprojekt in Rumänien uns das (aus begreiflichen Gründen) nie genehmigte Dorfbad in Österreich: Monumente des Scheiterns in unterschiedlichen Systemen, im urbanen wie im dörflichen Bereich, Fehlplanung als Denkprinzip.
Unbeirrt von alledem (und auch von den störenden anderen Badegästen) die SchwimmerInnen, stoisch ihre Runden ziehend … Ironie, Verfremdung. Wer hier Josef Dabernig als Regisseur vermutet, liegt richtig. Gemeinsam mit Isabella Hollauf (die beiden sind auch die ProtagonistInnen ihres Films) widmet er sich in „Aquarena“ diesmal dem auf dem Planeten Erde überwiegenden Element Wasser. Setzte Brecht einst darauf, dass das weiche Wasser den harten Stein besiegt, assoziiert man bei Dabernig/Hollauf eher Redensarten wie: Etwas fällt ins Waser, säuft ab etc. Scheitern, besser scheitern…

Sie müssen am Zöllner vorbeigekommen und dem Bordellkellner jedenfalls nicht unbekannt sein: Die Sklavinnen unserer Tage, angelockt von den Märchen über das bessere Leben im Goldenen Westen. In „Kurz davor ist es passiert“ thematisiert Anja Salomonowitz den Frauenhandel, lässt die Betroffenen ihre Geschichte erzählen. Dass diese naturgemäss nicht vor die Kamera treten wollten und auf Anonymisierung bestanden, versteht sich. „Der Verfremdungseffekt geschieht jetzt als Abrückung, Verlegung eines Vorgangs, Charakters aus dem gewohnten, damit der als weniger selbstverständlich betrachtet werden könne. Wonach gegebenenfalls die Schuppen von den Augen fallen..“ notiert Ernst Bloch 1962. Die Entscheidung von Anja Salomonowitz, keine professionellen SchauspielerInnen/SprecherInnen für die Berichte der Opfer zu engagieren, sondern Querverbindungen zu allfälligen Begegnungen herzustellen und einen Zöllner, eine Nachbarin, einen Bordellkellner, eine Diplomatin und einen Taxifahrer deren Geschichten erzählen lässt, erzielt Klarheit durch Brechung und Distanznahme. Die Berichtenden werden in ihren alltäglichen Arbeitsabläufen gezeigt und sprechen die fremden Texte wie beiläufig (nichts wäre kontraproduktiver als Schauspielerei) in die Kamera. Das Unbeholfene, Befremdliche des Vortrags schärft die Aufmerksamkeit für die Befremdlichkeit des Vorgefallenen. Wissend, dass „…die Geschichten (…) quasi ständig zwischen und unter uns sind, aber dass wir uns überhaupt nicht darum kümmern müssen, weil unsere Welt uns nicht zwingt, sich darum zu kümmern“ (Anja Salomonowitz im Gespräch mit Andreas Filipovic, Unique, setzt Salomonowitz den V-Effekt zur Sichtbarmachung der in Illegalität und Rechtlosigkeit Gehaltenen ein. Vertraute Gesichter, gemischte Gefühle: „Verfremden ist also ein wirkliches Bekanntmachen“. (Manfred Werkwerth/Arbeit mit Brecht)

Wenn die Jury des Spielfilmpreises für ihre Begründung zwei Sätze benötigt („Heile Welt" ist ein toller Film. Er ist frisch, authentisch und nie rührselig“), dabei in den Duktus einer Jugendjury verfallend und uns die Produktionsgesellschaft im Katalog mit den Worten: „Freiheit und Einsamkeit liegen nah beieinander. Genauso wie Freude und Traurigkeit, Schreie und Sprachlosigkeit, Gewalt und Zärtlichkeit, Aggression und Hilflosigkeit“ einstimmt, dann sieht der Film wohl so aus wie das klingt. Jugendliche auf der Suche, verständislose Eltern und Autoritäten – viel Improvisation und die stets hilfreiche Handkamera wirken da Wunder…
Wer möchte schon gerne in Graz aufwachsen, aber ob jeder Debutfilm auch gleich zu „Citizen Kane“ wird, ist fraglich. Franz Novotny fühlte sich bei Ansicht des durch seine Produktionsfirma ermöglichten Filmes immerhin an Emile Zola erinnert, eine schwere Last für den ambitionierten Jakob M. Erwa, ungeachtet des Vertrauensvorschusses durch die Diagonale-Jury…

Nicht „authentisch“, sondern künstlich, nicht „wahrhaftig“, sondern der Lüge, genauer der Lebenslüge verpflichtet, waren Peter Kerns „Die toten Körper der Lebenden“ doch das Kontrastprogramm zu Erwas Kinderjause. Eine greise, einst berühmte Schauspielerin, die sich ihre Gegenwelt zu Alter und Verfall geschaffen hat und zwei Ausbrecher, „Verbrecher und Mörder“ (Kern) wie eine Spinne als Mitspieler auf ihre Bühne zieht, um sie danach wie ein Vampir auszusaugen. Mord als schöne Kunst. Die unzähligen Fans, die zweifellos vor der Türe des Bordells, in dem sie lebt, auf sie warten, um nur einen Blick zu erhaschen. Die ausholenden Gesten, die aufwallenden Gefühle, (auch) der Schwulst: Das alles ist grosse Oper, inspiriert von Genet und Fassbinder und Werner Schroeter und doch ein glaubwürdiges Stück Film.

Realismus aber, das hätte Erwa ( und mit ihm zweifellos auch einige seiner arrivierten KollegInnen) beim Besuch der Diagonale-specials erfahren können, hat mit Genauigkeit zu tun. Etwa bei „The Small World of Sammy Lee“ (GB 1962: Regie: Ken Hughes), wo Sammy Lee, Conferencier einer Striptease-Show, Lebenskünstler und haltloser Spieler, die Zeit davonläuft, weil er 300 Pfund auftreiben muss, die er innerhalb eines Tages einem kriminellen Buchmacher zurückzahlen muss. Wie er zwischen den Shows Deals arrangiert, atemlos durch die Stadt läuft, um Geld aufzutreiben und um Fristverlängerung bettelt, als die Schläger auftauchen, schließlich selbst ein „unverkäufliches“ Erbstück, an dem sentimentale Erinnerungen hängen, verscherbelt, das war, nicht zuletzt durch die aussergewöhnliche Kameraarbeit des nun 95-jährigen Wolf Suschitzky, dem die Diagonale ein tribute widmete, von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kaum vorstellbar, dass John Cassavetes, der dreizehn Jahre später „The Killing of a Chinese Bookie“ drehte, diesen Fim nicht gesehen und als Inspirationsquelle verwendet hat…

In „Der letzte Werkelmann“ (A/BRD 1972: Regie: Jörg A. Eggers, Buch: Herbert Holba), angesiedelt in Wien, wenige Tage vor Beginn des Ersten Weltkrieges werden gleich zwei Wunder vollbracht: zum einen ist da ein Dialog, der jede Konzession an Klischees und alles „Atmosphärische“ verweigert (dank des Drehbuchs von Herbert Holba, dem gleichfalls ein Diagonale-special gewidmet war), zum anderen eine Schauspielerführung (Eggers), die selbst notorische „Publikumslieblinge“ in strenge Wahrhaftigkeit zu strenger, unerbittlicher Präzision zwingt. Das Wien der Vorkriegszeit: eine kalte, erbarmungslose Klassengesellschaft. Als die Werkelmänner, Musikanten des Lügen-Wien, des Hollodrio, inmitten des Schreckens, ihrem Ausbeuter entfliehen und eine Gewerkschaft gründen wollen, ist ihr Scheitern vorprogrammiert. Auseinanderdividiert,  bestochen und verraten, stehen sie am Ende mit leeren Händen da. Der Hass aber bleibt, während die Fassade des Gemütlichen zu bröckeln beginnt: Dieser Welt, soviel ist klar, bleiben nur wenige Tage, bis sie endgültig versinkt.