Einen Platz finden
Kurt Hofmann
Crossing Europe 2019 in Linz
03.05.2019
Nicht ferne des Termins der Europawahlen vermochte es das Festival Crossing Europe auch in seiner 16.Ausgabe, sich zum einen von den Klischees der unseligen „Eurofilm“-Einheitssauce abzusetzen und zum anderen inmitten spekulativer Debatten rund um die „Election“ einen facettenreichen filmischen Gegenentwurf zu präsentieren.
Wenn es für die nachstehend besprochenen Filme bei aller Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Nenner gibt, dann jenen, dass deren Hauptfiguren allesamt versuchen, sich zu positionieren, einen Platz zu finden, wo keiner für sie vorgesehen ist.
In Orten wie diesen, mit wegradierter Infrastruktur und ewiggleichen Tagen, ist Europa unbekannt: Das Kaff, in dem Irina aufgewachsen ist und noch lebt, hat möglicherweise bessere Tage gesehen, bevor die Kohlemine stillgelegt wurde. Doch nun können die Ansässigen bloß noch zwischen Gleichgültigkeit und Wut wählen. Irina kellnert in einem heruntergekommenen Lokal, daheim warten ihr arbeitsloser Mann Shaso, der aus dem Schacht illegal Kohle rauskratzt, ihr einjähriges Kind und ihre Schwester. Irina lässt sich nicht herumschubsen, da wie dort. Das führt dazu, dass sie in der „Bar“ gekündigt wird und sich von dem Möchtegern-Pascha Shaso absetzen will, als sie diesen auch noch mit ihrer Schwester erwischt. Aber Shaso wird Opfer eines „Unfalls“, der Stollen kracht über ihm zusammen, nicht zufällig, denn er hat einen „Konkurrenten“ beim Versuch, die letzten Reste Kohle zu bergen. Die Folge dieses Sabotageaktes ist der Verlust seiner Beine. Irina recherchiert im Internet, wie sie rasch zu Geld kommen könnte und wird in einer Onlineanzeige fündig: Ein kinderloses Paar sucht eine Leihmutter. Dessen Plan ist gut durchdacht, umschifft die Gesetzeswidrigkeit des Vorhabens ebenso wie mögliche Einwände der zu mietenden Kindesmutter. Man kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen und lebt in der Stadt, der Vertragspartnerin aus der Provinz wird ein Zimmer eingerichtet, in dem sich auch stets frische Äpfel befinden – an apple a day keeps the doctor away. Shaso, liebevoll gepflegt von Irinas Schwester, gibt den Eifersüchtigen (was macht seine Frau wohl „in Wahrheit“ in der Stadt…?) und prügelt auf Irina ein, die diesen ebenso verachtet wie ihre neuen „ArbeitgeberInnen“, welche ihr jeden Schritt vorschreiben wollen und sie beobachten wie sonst nur BesucherInnen eines Zoos ein exotisches Tier…
Nadejda Kosevas „Irina“ (Bulgarien 2018; Competition Fiction) zeigt eine, die sich nicht unterkriegen lässt.
Da ist ein Aufbegehren in Irina, gegen einen vorgezeichneten Lebenslauf ebenso wie gegen die Kolonisierung ihres Körpers. Worte wie Fremdbestimmung oder Menschenwürde finden sich nicht in deren Vokabular, doch sie hat begriffen, weshalb sie dem nicht folgen darf, was andere von ihr erwarten.
Oray hat eine große Klappe. Er verwendet sie zum Missionieren, wenn er Kumpeln die immergleiche Geschichte seiner religiösen Erweckung im Gefängnis erzählt, beim Aushandeln von nicht eindeutigen Deals und unglücklicherweise bringt ihm seine Neigung zur ausladenden Geste im Streit mit Barcu, seiner geliebten Ehefrau dazu, die islamische Scheidungsformel „talaq“ zu verwenden. Kaum ausgesprochen, bereut Oray schon, dieses Wort der Verstoßung verwendet zu haben, aber der Imam erklärt ihm, nun folge unweigerlich eine mehrmonatige Phase der Trennung, danach müsse sich Oray entscheiden. Der fährt in eine andere Stadt, predigt im Internet, hilft einem Dieb auf den „rechten Weg“ und leidet darunter, Barcu nicht sehen zu dürfen. Als jene ihn anruft und vom Besuch eines Schuldeneintreibers als Folge von Orays „Geschäftstüchtigkeit“ berichtet, regt sich nicht nur dessen schlechtes Gewissen, sondern auch die Sehnsucht nach Barcu. Trotz Verbots trifft Oray Barcu. Einer Versöhnung stünde nichts im Wege, wäre da nicht der Iman seiner neuen Gemeinde, der Oray eindringlich mahnt, die Folgen eines „talaq“, welche dieser strenger und unnachgiebiger beurteilt als der Oman in Orays alter Gemeinde, nicht zu übersehen. Oray muss sich zwischen den religiösen Vorgaben und einem Leben mit der von ihm geliebten Frau entscheiden…
Mehmet Akif Buyükatalays „Oray“ (Deutschland 2019; Competition Fiction) stellt das Dilemma eines deutschtürkischen „Kindes der Stadt“ zwischen Selbstinszenierung und den unerbittlichen Regeln archaischer Herkunft in den Mittelpunkt seiner Erzählung. Was Oray – bei aller Religiosität - oft nur wortreich herbeibeschwört, wendet sich schließlich gegen ihn. Orays Fähigkeit zur religiösen Agitation hat ihn auch für den Iman seiner neuen Gemeinde interessant gemacht. Nicht die mögliche Sünde durch das Abweichen vom „talaq“, sondern Orays starke Bindung an Barcu, die dessen missionarischen Eifer schwächt, ist jenem dabei in Wahrheit ein Dorn im Auge. Worauf soll Oray vertrauen? Wie leben zwischen den Stühlen?
2025: Die extreme Rechte steht in Dänemark vor der Machtergreifung. Ein Jahr davor hatte ein Bombenanschlag dreiundzwanzig Menschen das Leben gekostet. Kurz danach erfolgte die Gründung des „National Movement“, einer auf Hetze und Ausgrenzung setzenden Partei. Seidem: rassistische Übergriffe gegen die „Anderen“. Diese „Arbeit“ erledigen die „Sons of Denmark“, eine ultrarechte illegale Miliz, für die Partei, die naturgemäß keinerlei Verbindung mit den rechten Angreifern haben will… Die Stimmung vor den Wahlen ist entsprechend aufgeheizt, ein klarer Sieg des „National Movement“ vorhersehbar. Eine kleine verschworene Gruppe jener, die unmittelbar von der Machtergreifung der Rechten betroffen wären, plant einen Anschlag auf Martin Nordahl, den Spitzenkandidaten des „National Movement“. Der neunzehnjährige Zacharia soll der Attentäter sein und wird von dem erfahrenen Untergrundkämpfer Ali angeleitet. Doch das Vorhaben scheitert, denn Ali ist ein agent provocateur und wurde vom Inlandsgeheimdienst in die Organisation eingeschleust… Nun soll Ali dabei helfen, einen Agenten bei den „Sons of Denmark“ einzuschleusen, aber bald schon muss er feststellen, dass diese Aktion für den Inlandsgeheimdienst keineswegs oberste Priorität hat…
Die Rechte vor der Machtergreifung. Rassistische Parolen, ein aufgeheiztes Klima: Was Ulaa Salim in „Sons of Denmark“ (Dänemark 2019; Nachtsicht) 2025 ansiedelt, ist bekanntermaßen keineswegs Science Fiction und die Inhalte der Reden des „National Movement“-Führers Martin Nordahl, der „Dänemark denn Dänen“ zurückgeben möchte, klingen gefährlich vertraut. Ulaa Salim ist mit „Sons of Denmark“ ein Politthriller mit „Ecken und Kanten“ gelungen. Manche Überzeichnungen und Ungenauigkeiten sind dem Genre geschuldet, doch das Entsetzen und die Wut über eine politische Klima-Krise, welche europaweit fatale Folgen zeitigen könnte, ist dem Film von Ulaa Salim stets anzumerken. Etwas ist faul im Staate Dänemark – und leider nicht nur dort…
Alice hat gelernt, in der „Besten aller Welten“ zu leben. Sie hat diese als Texterin oft genug beworben. Jung, schick, erfolgreich, durch nichts aus der Bahn zu werfen – was für eine Perspektive! Blöd nur, dass sich nach ihrer Kündigung niemand für sie interessiert. Ihre Imagekampagnen in eigener Sache bleiben ohne Resonanz im allgegenwärtigen Internet, sie ist eine Selbstständige mit leerem Konto. Doch Alice inszeniert sich als erfolgreich und vielbeschäftigt - Simulation ist Trumpf. Selbst ein Nebenjob bei einem Marktforschungsinstitut, bei dem sie als falsche Kundin andere zum Produktkauf animieren soll, bringt ihr kein Geld, sondern bloß Benzingutscheine. Einen Brief ihres Vermieters, der Konsequenzen wegen ausbleibender Zahlungen ankündet, versucht sie mit der Behauptung, sie sei auf Reisen und werde bei ihrer Rückkehr doch ganz gewiss… auszukontern. Aufschieben, verstecken, in Deckung gehen, aber ja nicht die Contenance verlieren, das ist Alices Motto. Leider lassen sich weder das Arbeitsamt mit seinen absurden Kursangeboten noch die stets zum allerungünstigsten Moment auftauchenden Eltern mit deren nervender Neugierde nach dem Leben der Tochter völlig ausblenden. Aber auch hier bemüht sie sich, eine Andere zu sein, um „sie selbst“ zu bleiben… Doch als endlich ein möglicherweise aussichtsreiches Bewerbungsgespräch ansteht, bricht sich Alice einen Zahn aus…
Alice in Wonderland: Motivation ist alles, jede Hürde kann überwunden werden – so hat es Alice gelernt. Anderen etwas vorzuspielen, ist schon schwierig genug, wenn all das nicht der Realität entspricht. Sich selbst ständig etwas vorzuspielen, ist eine noch weit anstrengendere Übung… Lucia Chiarias „Reise nach Jerusalem“ (Deutschland 2018; Arbeitswelten), ein Höhepunkt des diesjährigen „Crossing Europe“, ist eine Komödie anhand des Widerspruchs zwischen Schein und Sein. Das Scheitern von Alice hat auch in deren Verwurzelung in einer Welt, in der Scheitern schon als Begriff nicht vorkommt, zu tun. Am Ende hat Alice gelernt, dass Benzingutscheine kein gängiges Zahlungsmittel sind und auch schwer in ein gängiges Zahlungsmittel umzusetzen sind. Und: Dass es beim Spiel „Die Reise nach Jerusalem“ darauf ankommt, sich schnell und rechtzeitig auf einen freien Sessel zu placieren, bevor man als Letzte/r am Boden zu sitzen bleibt…
Nein, schwermütig – wie melancholisch gemeinhin begrifflich übersetzt wird – ist „Das melancholische Mädchen“ (Deutschland 2019); Regie: Susanne Heinrich; Competition Fiction), ungeachtet eines Termins bei einem Therapeuten, dessen Profession von ihr prompt in Frage gestellt wird, wohl nicht.
Der etymologische Ursprung im Griechischen (melancholia)verbindet Melancholie mit: Tiefsinn (siehe: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; Akademieverlag Berlin 1989, S 1087) – das kommt der Sache schon näher. Das melancholische Mädchen ist gelangweilt vom eitlen Treiben gesellschaftlicher Moden sowie scheinkritischer Fragen und solchermaßen durchaus in der Tradition der Melancholie. „Das Rückzugsverhalten unterliegt gesellschaftlicher Verdammung, weil es Gesellschaft in Frage stellt, ohne sie anzugreifen.“ (Wolf Leponis/Melancholie und Gesellschaft; suhrkamp tb/1972, S.11) Der Philosoph Robert Burton spricht in seinem 1621 erschienen Traktat „Anatomy of Melancholy“ von Melancholie als „Metapher des Missvergnügens am Staate“ (Leponies a.a.O. S. 33).
Missvergnügen: Nun sind wir bei Susanne Heinrichs melancholischem Mädchen. Wie in einem Stationendrama wandert die namenlose Hauptfigur, bekleidet mit einem Kunsthaarpelz, ausgestattet mit einer Zigarette, durch eine verrückte Welt. Wenn junge Frauen ihre Mutterschaft als religiöses Erweckungserlebnis feiern, reagiert sie darauf ebenso mit stoischer Ironie wie gegenüber jenen Trendsettern, die große Worte gelassen aussprechen. Wer ihr romantisch kommt, wird mit der Frage nach der übergangsweisen Verfügbarkeit eines Schlafplatzes beschieden – eine Kosten-Nutzen-Rechnung… Zwar sei sie Schriftstellerin, doch leider zunächst am ersten Satz des zweiten Kapitels gescheitert, teilt das melancholische Mädchen mit... Mitten in einer stylischen Drag Bar wartet das melancholische Mädchen „auf das Ende des Kapitalismus“…
Keine durchgängige Handlung, vielmehr Nummern. Das melancholische Mädchen spricht nicht mit denen, welchen sie in Kunstgalerien, Yoga-Studios oder… in einer Badewanne begegnet, sonder zu ihnen, vielmehr zum Publikum, frei nach Brecht in einer Art feministischen V-Effekt. „Zusammen mit Susanne Heinrich haben wir (..) eine spezielle Spielwiese für den Film entwickelt. Sehr reduziert, durchkomponiert, fast keine Emotionen“ (reihesiebenmitte.de) schildert die (formidable) Hauptdarstellerin Maria Rathschek ihre Arbeit an der Rolle des melancholischen Mädchens. Das melancholische Mädchen ist eine, „auf die ihr“ noch einmal frei nach Brecht – „nicht bauen könnt.“ Susanne Heinrichs „Das melancholische Mädchen“ ist ein ebenso vergnüglicher wie kluger Film, der aus dem diesjährigen Angebot des Festivals herausragt.