Eine Erkundungsreise ins Uneindeutige
Kurt Hofmann
Ja, es fehlten neue Werke von GroßmeisterInnen wie Haneke, Seidl, Hausner oder Albert. Ja, das historische Programm von Synema, üblicherweise eines der Glanzstücke des Festivals, wurde höchst bedauerlicherweise (wenn auch wohl nur für dieses Jahr) ausgesetzt. Ja, der diskursive Teil wurde diesmal kaum wahrgenommen - zumindest in der Außenwirkung. Aber war es deshalb eine langweilige Diagonale 2011 – nein, mitnichten!
12.04.2011
Am ersten Abend zunächst ein wieder belebter Preis, der dem Festival des österreichischen Films schon vor Jahren wenig Glück brachte. Damals erhielt Roland Düringer den Schauspielerpreis, hielt eine peinliche Rede voll der „tiefen“ Breitseiten gegen den österreichischen Avantgardefilm, wurde zu Recht ausgebuht und brachte den Preis in Verruf. Das war bei Senta Berger, der diesjährigen Preisträgerin nicht zu befürchten. Eine blitzgescheite Frau und intelligente Darstellerin wurde bei ihrer Ehrung als Weltstar präsentiert. Das scheint trotz einiger ihrer Filme in Hollywood etwas übertrieben, aber, in solchen Fällen ist stets die Aufarbeitung des vorliegenden Materials entscheidend. Und die besorgte… der ORF. (Schon war die Peinlichkeitsfalle wieder zugeschnappt: Yul Brynner und mit ihm die anderen männlichen Stars des kurzen Zusammenschnitts) sprach ebenso deutsch wie der Weltstar aus Hietzing, offenbar hatte bei allen US-Filmen von Senta Berger der einschlägig bekannte Wenzel Lüdecke Regie geführt… Immerhin, Frau Berger hielt eine ebenso kluge wie berührende Dankesansprache, und ihrem Wunsch, die international so erfolgreichen österreichischen AutorenfilmerInnen mögen sich doch auch einmal für sie interessieren, kann man sich nur anschließen.
Dann aber ein Höhepunkt des Festivals, gleich zur Eröffnung, das ist eine Rarität bei der Diagonale. Nikolaus Geyrhalters „Abendland“, vom Titel her doppeldeutig zu lesen, als das stets vom Untergang bedrohte (allerdings ohne die geschichtspessimistisch-reaktionäre Schlagseite dieses Begriffs) zum einen, das „Land“ Europa (dessen Länder vielmehr) bei Nacht zum Anderen. Wie sich das neue Europa abschottet, wird etwa in der großartigen Sequenz des Gesprächs einer in Psychologie wie Coaching bestens Ausgebildeten mit einem verzweifelten Asylwerber deutlich, dem vermittelt werden soll, dass es ihm “Daheim“ doch ohnedies besser gehen würde als hier, wo er doch stets feindselige Stimmung und ein Leben in Armut zu befürchten habe. Also, warum nicht dorthin zurück, von wo man sich fluchtartig wegbewegt hat? Da ist die für den „Ernstfall“ gewalttätiger Übergriffe emsig an Schießstand samt dazugehöriger Videowall trainierende Polizei: täglich kann alles passieren, Wachsamkeit ist angebracht – Angst! Angst! Dass es von der Geburt bis zum Tod in Kliniken, Altersheimen, Begräbnisinstituten routinierte Abläufe gibt, deren Mechanik die betroffenen Menschen zum Material verkommen lässt, wird ebenso sichtbar wie die famose Methode des „Stellvertreter Gottes auf Erden“, über all dies und vieles andere zu seiner Herde auf dem Petersplatz zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Formelhaftes statt Erhellendes oder gar Tröstendes – Routinen, Mechanik… Und die Rituale der Massen: Saufen und Gröhlen bis zum Abwinken am Oktoberfest. Draußen wartet schon die Ambulanz, drinnen bahnen sich die KellnerInnen mit überquellenden Tabletts ihren Weg durch die lustige Schar. Das muß nicht nur so schnell gehen wie am Fließband, das erfordert auch in der Küche, dem Krisenzentrum dieses Wahnsinns im Bayernland, die immer gleichen, fließbandähnlichen Handgriffe. In der Schlusseinstellung, beim Techno-Event, geht’s dann mit der Handkamera quer durch die sich vorwärts bewegenden Tanzwilligen. Werden sie der Kamera ansichtig, grimassieren sie pflichtschuldig. Und es geht weiter voran, unaufhaltsam, nur, wohin? – eben das ist das Problem…
Marie Kreutzer, eine der größten Begabungen ihrer Generation, hat sich an ihren ersten Langfilm gewagt und mit „Die Vaterlosen“ eine Zusammenkunft der verwaisten Kinder einer Kommune in erwachsenem Alter porträtiert. In alle Winde zerstreut, sind sie nach dem Tod des Kommunengründers, Chefideologen und „Vaters“ noch einmal zusammengekommen. Längst nicht mehr in alternativen Lebensverhältnissen lebend, sucht die zusammengewürfelte „Familie“ nach gemeinsamen Erinnerungen und findet Trennendes - Lügen, Intrigen, Geheimnisse, wie in bürgerlichen Verhältnissen auch. Gleichwohl wird ein Zusammenhang sichtbar, der über die Zufälligkeiten der Verwandtschaft diverser Kleinfamilien hinausgeht. Der große Entwurf zwar misslungen, die kleine, charakteristische Geste jedoch immer noch abrufbar.
„Die Vaterlosen“ profitiert von einem klugen Drehbuch, das Brüche zulässt und um Zwischentöne bemüht ist. Es ist allerdings unübersehbar der Film einer Nachgeborenen, was Vor- und Nachteile hat. Der Blick „von außen“, abseits der Parteinahme Distanz wie Unbefangenheit wahrend, ist unverkrampft, doch vorwiegend der Interaktion der „Geschwister“ zugewandt und dabei den (als gescheitert betrachteten) Entwurf des „anderen Lebens“, das utopische Moment, nicht näher erörternd.
Eben dies jedoch in einem frühen Film des diesjährigen Festivalgastes Elfie Mikesch, der ein Special gewidmet war: “Ich denke oft an Hawaii“(BRD 1977/78) porträtiert die sechzehnjährige Carmen, mit Mutter und Bruder in einer Neubausiedlung am Stadtrand lebend, auf engstem Raum, trostlos. Carmen vermag nicht zu benennen, wie ihr geschieht, doch sie träumt von einem anderen, unreglementierten Leben, so unbeschwert wie in „Hawaii“. Eine Andere zu sein: Mikesch lässt Carmen ihre Prinzessinenträume ausleben („ausagieren“ würde man es wohl heute nennen) und ermöglicht so der Proletariertochter ein utopisches Moment. Auch sie eine „Vaterlose“ - ihr Erzeuger hat die Familie nach ihrer Geburt mit unbekanntem Ziel verlassen. Was von ihm außer Fotos und Postkarten geblieben ist, sind ein paar Hawaii-Musik-Platten, die jedoch nicht die Sehnsucht nach dem Vater, vielmehr nach der Weite, wecken. Am Ende der Küche wartet nicht der Strand auf sie, das weiß Carmen schon, aber dank Mikesch hat sie erfahren, dass das Wünschen ein erster Schritt ist, das Fordern zu erlernen.
Wie Mikesch in ihrem Meisterwerk „Macumba“(BRD 1982) ein Abbruchhaus in der Berliner Kurfürstenstrasse in ein labyrinthisches Zentrum der Welt verwandelt, je nach Lust und Laune zurückverwandelt (dabei Rivettes 1973/74 entstandenen „Celine et Julie vont en bateau“ nicht unverwandt) und für die Kunst der Improvisation und die Wonnen des Chaos plädiert, ist ebenso bemerkenswert wie „Mondo Lux“(D 2011), die Erinnerung an den verstorbenen Freund und künstlerischen Weggefährten Werner Schröter. Anders als Wim Wenders’ Pina Bausch-Porträt, welches immer wieder von dessen Hang zur Selbstdarstellung und zu Manierismen überwuchert wird, gelingt es Mikesch in „Mondo Lux - Die Bilderwelten des Werner Schröter“ , die Arbeitsweise und die künstlerische Philosophie eines Besessenen (und derer gibt es ja stets zu wenige) durch uneitle, aber akribische Beobachtung, in einer Weise sichtbar zu machen, die wohl noch vielen nachfolgenden Generationen ermöglichen wird, zu begreifen, wer Werner Schröter war.
Und Elfie Mikeschs neuer Film „Judenburg findet Stadt“(A 2011). Da kehrt eine als Fremde in ihre Geburtsstadt zurück, nach fünfzig Jahren weder Schmerz noch Zorn, allenfalls Neugierde kennend, ein Gefühl, das sie mit ihrer Reisebegleiterin Margo, einer jungen „Liedersammlerin“ aus Riga, teilt. Was sie in Judenburg, einem Ort „an dem es das Ziel war wegzugehen“, wie der einheimische Schriftsteller Reinhard P. Gruber bemerkt, findet? Die Erinnerung an eine besonders schäbige Ausplünderung der vertriebenen Juden dieser Stadt durch ihre Mitbürger? Der Jugendtraum des Klangkünstlers Daniel Lercher, der inmitten einer muffigen Kleinstadt das weltstädtische Festival „Liquid Music“ entdeckt und beschließt, seine Gitarre fortan in die Ecke zu stellen? Ob es stimmt, das dass, wie die umtriebige Bürgermeisterin behauptet, Judenburg an seinen einzigartigen Geräuschen erkennbar sei und von Musik pulsiere? Oder versucht der Ort lediglich, Leere und Lücken mit inszenierter Geschäftigkeit aufzufüllen? Elfie Mikesch läßt dies in „Judenburg findet Stadt“ offen, verharrt in ihrer Rolle als Beobachterin, welche allfällige Rückschlüsse den RezipientInnen ihres Werkes überlässt.
Ein schönes Beispiel für das Gelingen im Neuen Europa, dem verlorenen Abendland, ist der mit österreichischer (Produktions-, wie Förderungs-)Unterstützung zustande gekommene rumänische Film „Periferic“ (Regie: Bogdan George Apetri). Für das Begräbnis der Mutter hat Mathilda 24 Stunden Freigang erhalten, mehr erlaubt ein erbarmungsloser Strafvollzug auch nach vielen Jahren Haft nicht. Aber Mathilda hat ohnedies nicht vor, zurückzukehren. In ihrem Heimatort, einem Kaff, in dem jede/r jede/n kennt, schlägt ihr nur Hass und Verachtung entgegen, auch und gerade seitens der „Familie“. Auf ihrer Flucht will sie nun den achtjährigen Sohn mitnehmen, aber den hat ihr ehemaliger Freund und Zuhälter, den sie vor der Polizei und Gericht nicht verraten hat, ins Waisenhaus gesteckt. Sie verlangt (und holt sich schließlich) ihren Anteil aus dem Raub. Ein neues Leben soll her, mit dem Kind, doch die Frau ist ihm unbekannt und eben gut genug, ihr nach einem vermeintlichen Moment der Nähe das Geld abzunehmen. So viel Kälte im Neuen Europa: Begriffe wie Liebe, Gerechtigkeit und Solidarität sind nur noch Spekulationsobjekte, wertloses Kleingeld nach dem Crash des Vertrauens.
„Periferic“ läßt Sentimentalität und Larmoyanz ebenso wenig zu wie die Illusion einer Wende in einer von Egoismus angetriebenen Gesellschaft – wieder einer dieser ebenso schnörkel- wie schonungslosen Filme aus dem „Filmwunderland“ Rumänien.
Was die besprochenen Werke vereint: das Uneindeutige, das Primat der Analyse vor der geschwätzigen Gewissheit – Filme abseits des allgemeinen Einverständnisses.
Bleibt noch zu erwähnen, dass die Peter Tscherkassky gewidmete Personale ebenso outstanding wie längst fällig war.