Ein improvisiertes Leben
Kurt Hofmann
Zur Diagonale 2017
05.04.2017
Zum Jubiläum der 20. Diagonale präsentierte das Intendantenduo Höglinger/Schernhuber die zweite Ausgabe in ihrer Verantwortung. Im Rückblick konnte eine starke Kinosaison der österreichischen Filme mit Beiträgen von Rainer Frimmel, Nikolaus Geyrhalter, Josef Hader, Händel Klaus, Maya McKechneay, Michael Palm und Ulrich Seidl (in alphabetischer Reihenfolge) präsentiert werden, zwei der größten Erfolge (Maren Ades „Toni Erdmann“ und Maria Schraders „Vor der Morgenröte“) waren Koproduktionen mit österreichischer Beteiligung. Was nun von Höglinger/Schernhuber für deren zweite Saison kuratiert wurde, stand zum einen im Zeichen einer Spurensuche nach den Folgewirkungen der Popkultur im österreichischen Film und war zum anderen einer Personale für Andi Winter, einem Tausendsassa und Multitalent des österreichischen Filmes, ursprünglich (und auch heute noch) Vorführer, dann aber auch Cutter, Kameramann, Schauspieler, Regisseur gewidmet. Vor allem aber ist Andi Winter als Color Grader für viele österreichische FilmemacherInnen unentbehrlich. Einen wie Andi Winter, kein Auteur, aber nicht verzichtbar für den AutorInnenfilm, mit einem kleinen Programm, das seine vielfältigen Talente vorzeigte, endlich die gebührende Achtung zu erweisen, das ist ein nicht zu gering schätzendes Verdienst der Intendanz Höglinger/Schernhuber.
Aber auch die Vorstellung der neuen, noch nicht kinoerprobten österreichischen Filme enthielt Entdeckenswertes.
Ein Sommer in den Siebzigern des Zwanzigsten Jahrhunderts: Zwei flanieren durch die Stadt, und weil es Wien ist, das sie da durchqueren, ist es ihre Attitüde, die sie aus dem grauen Allerlei heraushebt, doch ihre Posen kommen aus „tiefsten Herzen“, da ist nichts an Verstellung. Es ist ihre Stadt, und um in ihr leben zu können, müssen sie diese in ihrer Vorstellung auf die Welt hin projizieren. John und Helmuth sind Müßiggänger, die sich Zeit nehmen, für ihren gemeinsamen Film, die losen Kontakte mit Frauen, die sie begehren, sowie die gelegentliche Landflucht mit Anderen als Auszeit von „nicht geklärten“ Zusammenhängen in ihrem Hauptquartier, der Stadt, getarnt als kreative Pause. Ob deren Film jemals fertig wird, bleibt offen, doch es könnte, so wie es ist, für John und Helmuth trotz gelegentlicher Konflikte auch ewig so weiter gehen, wenngleich das zwischen den Beiden keineswegs Harmonie bedeutet, nur Einverständnis.
Es ist ein „Langsamer Sommer“ (AT 1974-76; Regie: John Cook; im Diagonale-Schwerpunkt „This is not America – Austrian Drifters"/Österreichisches Filmmuseum), den John und Helmuth da durchwandern und dabei ihr Potential am Potential der Stadt messen. Das „Popkulturelle“, alles was in diesen Jahren an Lebensgefühl „anderswo“, zumal in „America“ zählt, ist in der Erzählung Cooks vorhanden, dessen Protagonisten kennen die Codes, über die Coolness verfügen sie sowieso und wo es lang gehen soll, wissen sie auch, ungeachtet dessen, dass sich diese Wege nicht im Wiener Stadtplan finden… Zugleich ist „Langsamer Sommer“ auch ein sehr wienerischer Film. Das merkt man sowohl, wenn John und Helmuth nicht vom Fleck kommen, als auch, wenn ihnen etwas einfällt, das ihren Vorbildern niemals in den Sinn käme… Der gebürtige Kanadier John Cook spielt „sich selbst“, ohne dabei jemals an das heute ebenso beliebte wie berüchtigte Wort von „based on a real story“ anzustreifen. John und Helmuth sind im „Langsamen Sommer“ zwei, die von ihrem naturgemäßen Scheitern im Wien der Siebziger Jahre wissen, aber täglich weiterhin „besser scheitern“ (Beckett) wollen…
Salzburg 1999: Adrians alleinerziehende Mutter ist drogensüchtig und wenn eine Kontrolle des Jugendamtes ansteht, weiß das siebenjährige Kind, dass in der Wohnung alles „aufgeräumt“ werden muss, um spätere Konsequenzen zu vermeiden. Adrian registriert, wenn die Mutter Besuch von ihren Freunden erhält und weiß auch - ansatzweise – was das bedeutet, aber zugleich kann der Bub (altersgemäß) seine Phantasiewelt von Abenteuern und „Monstern“ ausleben. Es ist eine stetig von „außen“ bedrohte, doch keine bedrückende Kindheit, die Adrian durchlebt. Ihm erscheint sie als „Die beste aller Welten“ (AT/DE 2017: Regie Adrian Goiginger), bis die Realität die kindliche Vorstellung doch einholt… Goigingers Film enthält sich des Moralinsauren, bedient sich der kindlichen Perspektive in der Wahrnehmung der Außenwelt. Je bedrohlicher diese wird, umso mehr flüchtet sich Adrian in seinen kindlichen Kosmos und vermischt diesen (was schließlich zu einer gefährlichen Situation führt) mit der Realität. Wie sich Adrians Mutter verhält, wird nicht dagegen aufgewogen, wie sie sich verhalten „sollte“, vielmehr wird sie als Getriebene gezeigt, die zwischen den Ritualen ihrer Clique, der Angst vor institutionellen Konsequenzen und dem Schutzbedürfnis für ihren Sohn letztlich nicht zerrieben wird, weil sie eine Soldatin des Überlebens ist, welche auch, an einem kritischen Punkt angekommen, die Konsequenzen zieht… Es ist ein der Improvisation geschuldetes Verhalten, das so lange klappt, bis kein Lavieren mehr möglich ist. „Die beste aller Welten“ zeigt ein miefiges Bild einer Gesellschaft am Stadtrand, auch die gesellschaftlichen Außenseiter können neben drugs kaum sex and rock’n’roll vorweisen, ihr Außenseitertum wirkt herbeizitiert, der Phantasievollste ist noch der siebenjährige Adrian, bis die vorgestellten Monster ihn in der realen Welt einholen. All dies wirkt authentisch, allerdings meldet sich im Schlussteil von „Die beste aller Welten“ das „Autobiographische“ zu Wort. Ja, Goiginger hat all das als Kind wohl „wirklich“ erlebt und hebt nun am Ende doch den Zeigefinger, indem er von der Läuterung der erwachsenen Hauptfiguren berichtet. So genau, mit Handlungsanleitung für das bessere Leben, wollte man es nun doch nicht wissen…
Immer wieder schreit da einer/r, ist da eine/r in die Enge getrieben, an die Wand gedrückt. Einen herkömmlichen Handlungsrahmen verweigert Juri Rechinskys „Ugly“ (AT/UA 2016) konsequent, aber dass das Unausweichliche „hässlich“ werden wird, daran lässt der Film keinen Zweifel.
Da sind Jänner, März und April, aber wohin gehört denn dieser Februar? Maria Hofstätter blickt auf die Kärtchen, die sie zusammensetzen will wie ein Puzzle und tobt gegen ihre Ratlosigkeit, die sich Alzheimer nennt, so lauthals wie verzweifelt an. Da war einmal, zeigt eine Rückblende, eine elegante Frau in mittlerem Alter, die eine Gesellschaft zu ihrem „letzten“ Geburtstag (vor dem Vergessen) lädt und stolz ihre hochbegabte Tochter, eine Virtuosin am Klavier, präsentiert. Bald schon wird all das Schimäre sein, die elegante Dame ihr Essen ausspeien und die Tochter am Tropf in der Intensivstation eines (wenig Hoffnung auf spätere Gesundung vermittelnden…) ukrainischen Krankenhauses hängen. "Hässlich" all dies, doch in atemberaubender Schnitttechnik erzählt. „Ugly“ ist ein Kino der Überwältigung und hat mit seiner Seidl-erprobten Hauptdarstellerin Maria Hofstätter ein schauspielerisches Atout vorzuweisen. Sie ist für einen Regisseur, dessen Intention es ist, Grenzen zu überschreiten (auch wenn dies oft nur Behauptung ist… ) eine ideale Protagonistin. Nirgendwo hält der (gesellschaftliche) Kitt und unter der Tapete ist es „hässlich“. Inmitten der Ausweglosigkeit hat „Ugly“ aber beachtliche formale Qualitäten vorzuweisen und ist für den Kino-Mainstream wohl „unverdaulich“: schön.
In einem Außenbezirk von Buenos Aires: Eine reiche Familie sucht ein neues Hausmädchen. Unter zahlreichen Bewerberinnen wird Belén ausgewählt. Weshalb ausgerechnet sie? Das weiß sie wohl selbst nicht. Aber vielleicht ist es ihr unauffälliges Auftreten, wie sie, weder servil noch aufmüpfig wirkend, eine arbeitswillige Durchschnittlichkeit für ihre von ihrer Besonderheit überzeugte Dienstherrin verkörpert. Wie das Silber geputzt zu werden hat, in welcher Reihenfolge unterschiedliche Gläser im Regal zu stehen müssten, wie der Pool zu reinigen wäre, damit es der hier wohnenden Familie wieder Freude bereite, hineinzuspringen: all dies wird Belén ausführlich erklärt und sie hört es sich mit stoischer Miene an. Wenn der Dienstherrin nach einem nächtlichen Gespräch ist, das freilich aus deren Monolog besteht, wird Belén geweckt und sie erträgt es „als Freundin“ ohne Murren. Solchermaßen gehört Belén bald zum Interieur, ein weiteres Stück der Ausstattung des Hauses für die Familie, nicht mehr und nicht weniger. Das Grundstück wird von Mauern umgrenzt, man möchte weder von lästigen Blicken noch von unpassenden BesucherInnen gestört werden. Hinter den Mauern liegt ein dschungelähnliches Gebiet und Beléns Neugierde verführt sie in ihrer Freizeit zu einer Expedition, die sie einen ihr unbekannten Stamm mit seltsamen Ritualen entdecken lässt: es ist eine Nudistenkolonie, welche die scheue Belén prompt fasziniert - eine Gemeinschaft, die, so mutmaßt es zumindest Belén, kein Oben und kein Unten kennt. Niemand erteilt dem/der Anderen hier Anweisungen, nackt und bloß scheinen alle gleichberechtigt. Um dazuzugehören, muss man sich allerdings gegenüber den Anderen öffnen, die ritualisierte Form erleichtert es Belén, beizutreten… Immer noch erledigt Belén ihren Job im Haus, sie ist für die Familie eine, die funktioniert, die kleinen Akte der Bosheit, kaum subversiv zu nennen, die sie nach und nach im Haushalt setzt, fallen nicht weiter auf, jedenfalls würde niemand die unauffällige Belén damit in Verbindung bringen… Aber den reichen Familien rund um das Haus ihrer Dienstherren ist die Nudistenkompanie ein Dorn im Auge, sie wollen diese mit allen Mitteln vertreiben. Belén muß sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht, und zögert nicht einen Moment…
Die Entscheidung der Jury, den Diagonale-Spielfilmpreis dieses Jahr an „Die Liebhaberin“(AT/AR/KR 2016; Regie: Lukas Valenta Rinner) zu vergeben, war nachvollziehbar. Mit leichter Hand und Bunuelschen Querverbindungen wird hier eine Gesellschaftssatire inszeniert. Naturgemäß werden Klassenunterschiede nicht durch Nacktheit aufgehoben, aber Belén fühlt sich in dieser neuen Gemeinschaft erstmals wahrgenommen - das Paradies und die drohende Vertreibung daraus, allerdings durch angemaßte Gottheiten, die lieber einen neuen Tennisplatz als despektierlichen Nachbarn hätten… Zurück zum „Ursprung“ oder weiterdienen in der „gottgewollten Ordnung“? Wie eine Konfrontation zwischen den beiden Welten letztlich enden würde, daran läßt der gebürtige Salzburger Rinner, der an der Universidad del Cine in Buenos Aires studierte, allerdings keinen Zweifel…
Zum Begräbnis von Fender, einem armen Buchhalter, ist nur sein Freund Morry, ein Schneider, gekommen. Er wirft ihm einen Mantel nach ins offene Grab… Morry nimmt einen Schluck Brandy zu sich, seinen Trost in allen Lebenslagen. Aktuell trauert er seinem verstorbenen Freund nach, aber selbst wenn dieser noch leben würde, bliebe die Flasche wohl nicht unangetastet… Und wie der lebt: Fender taucht als Geist, in alter Frische, scheinbar unversehrt, in Morrys Schneiderei auf. Gemeinsam erinnern sich die Beiden an die Geschichte des ominösen Mantels: Fenders alter Mantel war zerschlissen, nicht mehr in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Die Freunde feilschen um den Preis eines neuen Mantels, schließlich gibt Morry nach. Aber Fender, den die Arbeitsbedingungen im Lagerhaus einer Kleiderfabrik, die ihn als Buchhalter angestellt hat, krank gemacht haben, stirbt vor der Fertigstellung. Nunmehr, als sehr lebendiger Geist in Morrys Schneiderei sitzend, will er gemeinsam mit diesem Rache an seinem kaltherzigen Ex-Chef nehmen und diesem Knauser, dem es egal war, ob sein alter Buchhalter friert, der ihm am Ende nach Jahrzehnten guter Dienste auch noch vor die Tür gesetzt hatte, ein... Kleidungsstück entwenden. Dass sich Fender trotz inständiger Bitten des neugierigen Morry weigert, beim Einbruch in die Fabrik als vollwertiger Geist durch Wände zu gehen, sondern den Weg durch die (aufzubrechende) Tür wählt, erleichtert den geplanten „Coup“ nicht gerade, doch die Beiden gehen dennoch unbeirrt ans Werk…
„The Bespoke Overcoat“ (UK 1955; Regie: Jack Clayton; Kameramann: Wolf Suschitzky) ist, frei nach Gogols „Der Mantel“ entstanden, im jüdischen Milieu Londons der fünfziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt, die Geschichte einer Freundschaft. Wenn Fender nach seinem Tod bei Morry auftaucht, ist der nur kurz perplex. Tot, lebendig: welchen Unterschied macht das schon. Fender raunzt wie eh und je und Morry bietet ihm, auch ein Geist hat Durst, ein Glas Brandy an… War’s nur der Alkohol? Die profane Idee, all dies könnte nur die Kopfgeburt eines leidlich betrunkenen Schneiders sein, verfolgt Clayton in seiner pointierten Piece nach Gogol (zu Recht) nicht weiter. Dessen Film ist, nicht zuletzt durch die virtuose Kameraarbeit von Wolf Suschitzky, dem die Diagonale nach seinem Tod im vergangenen Oktober ein Special widmete, ein „Kabinettstück“, im wahrsten Sinne des Wortes, geworden.
Was bei der Diagonale 2017 fehlte: “Unvergessen: Wolf Suschitzky“ – einzig mit dieser auf einen Kinonachmittag beschränkten Hommage war Synema, deren Schwerpunkte in Sachen Film-Exil in zwei Jahrzehnten „Diagonale“ stets zum fixen Bestandteil dieses Festivals zählten, in diesem Jahr vertreten. Es wäre ein schwerer Fehler der Intendanz Höglinger/Schernhuber, die mit Elan und neuen Programmideen ihre ersten beiden Jahre vielversprechend begonnen hat, die Synema-Programme nur noch zur Schließung von Programm-Lücken zu verwenden oder gar auf sie zu verzichten. Das eine tun und das andere nicht lassen: Die Synema-Programme waren stets eine unverzichtbare „Säule“ dieses Festivals. Der Originalität von programmübergreifenden Mottos steht die Notwendigkeit der (filmgeschichtlichen) Erinnerung nicht im Wege.
Wer bei der Diagonale 2017 fehlte: Man vermeinte, dass er hinter jeder (Kino-)Ecke steht und plötzlich Fragen zum eben gesehenen Film stellt. Man erwartete, seine unüberhörbare Stimme zu vernehmen, wenn über die Siebte Kunst diskutiert wurde. Man vermutete, dass er im nächsten Moment auftauchen und sich einmengen würde, gleichgültig worum es ginge… Nikos Grigoriadis blieb zwar solchermaßen auch bei der Diagonale 2017 präsent, doch durch die Ungerechtigkeit des Todes entfernt. Nikos Grigoriadis war von Beginn an bei der Diagonale mit dabei. In den Anfangsjahren des Festivals organisierte er, gemeinsam mit Dietmar Zingl, die Diagonale-Tournee, eine Initiative, welche Programmideen des Festivals bis in entfernteste Ecken der „Provinz“ brachte und Cinephile in ganz Österreich mit der Philosophie der „Diagonale“ vertraut machte. Nach Subventionskürzungen war es zwar mit der Diagonale-Tournee vorbei, doch das KIZ, später KIZ-Royal, blieb d a s Programm-Kino von Graz, nicht zuletzt durch den unermüdlichen Einsatz von Nikos, der einer mit Ecken und Kanten war und als Kinoleiter, Verleiher (ABC), Initiator vieler Projekte, vor allem aber: als Enthusiast des Kinos – in Erinnerung bleiben wird. Er fehlt.