Diagnose: Amnesie
Kurt Hofmann
Zur Diagonale 2016
16.03.2016
Das war sie, die erste Diagonale des neuen Intendantenduos Höglinger/Schernhuber. Und abseits des Altgewohnten, weil Festgeschriebenen – im Programm haben die beiden schon in ihrem Premierenjahr durch eine Schwerpunktsetzung aufhorchen lassen: Man kennt das ja mit den historischen Terminen: 2014: Hundert Jahre erster Weltkrieg, 2015: 70 Jahre Kriegsende (2.Weltkrieg), und 2016 wäre „eigentlich“ William Shakespeare dran - mehr als erinnerns- (und in diesem Fall auch feierns-) wert, indeed.
Aber die Diagonale hat noch ein weiteres „Jubiläum“ entdeckt, das man hierzulande am liebsten vergessen hätte: 1986-2016 - zwanzig Jahre Waldheim-Debatte. Und der dazu passende, hübsch zweideutige Titel: „Österreich – zum Vergessen“… Das dem Mitdenken ein Vordenken folgt, welches ein Weiterdenken ermöglicht! Mehr konnte man im ersten Jahr der neuen Intendanz (das auch innerhalb der bekannten Programmschienen so manches „Fundstück“ barg) nicht erwarten.
Ist William Binney „A Good American“? Vermutlich, denn schon der Titel von Friedrich Mosers Porträt des ehemals hochrangigen NSA-Mitarbeiters suggeriert dies und Binneys aufdeckerische Leistung unterstützt diese Annahme. Aber: was ist das, ein „guter Amerikaner“? Ist nicht schon der Begriff fragwürdig? Nächste Frage: Ist William Binney ein Whistleblower? Nicht, wenn wir dabei eine Figur wie Edward Snowden vor Augen haben, der eine Unmenge zuvor unbekannter Informationen ansammelte und mit jeder seiner Enthüllungen noch „eins drauf setzte“. So einer ist William Binney nicht. Anders als Snowden, der für die NSA arbeitete und sich dann aus guten Gründen gegen sie wandte, weil er nicht mehr verantworten wollte, was ihm unverantwortlich erschien, kommt Binney aus dem Zentrum der Organisation. Kein Mitarbeiter, ein Entscheider, ein Überzeugungstäter. Er entwickelt „Thin Thread“, eine Überwachungssoftware, deren präventive Wirkung Verbrechen gegen den Staat verhindern soll. Mit seinem System, sagt Binney, hätten zum einen durch präzise Datenanalyse terroristische Vorhaben verhindert werden können, zum anderen sei es aber so konzipiert, dass eine umfassende Bespitzelung der BürgerInnen nicht möglich wäre. Allein, „Thin Thread“ kommt nicht zur Anwendung. Nach 9/11 (fast ist das schon eine neue US-amerikanische Zeitrechnung: „Nach 9/11“… ) wird die Probe aufs Exempel gemacht und nachgeprüft, welche Resultate die Anwendung von „Thin Tread“ gezeitigt hätte. Es stellt sich heraus, dass der Anschlag durch diese Form der Datenanalyse möglicherweise vermieden hätte werden können… Immer noch will Binney, der gute US-Amerikaner, seine Dienste für sein Land zur Verfügung stellen, bis er herausfindet, dass seine obersten Vorgesetzten von ganz anderen Motiven geleitet werden: „9/11 is a gift to NSA, we’re gonna get all the money we need“ – als Binney das zufälligerweise mithört, begreift er… Das Spannende an „A Good American“ (Österreich 2015; Regie: Friedrich Moser) ist, wie da einer vom Saulus zum Paulus wird, plötzlich den Zynismus der Macht begreifen lernt und seine bisherige Existenz nicht nur hinterfragt, sondern nahezu durchleuchtet. . All sein Wissen über interne Vorgänge stellt Binney heute den KritikerInnen des Überwachungsstaates und der verlogenen Listen von „Notwendigkeiten“ zur weiteren Einschränkung der BürgerInnenrechte zur Verfügung. „Glaubt niemals, wenn sie sagen, ich hätte Selbstmord begangen“ hat er testamentarisch festgehalten. A good American? Vermutlich.
„Eigentlich“ ist ja alles gesagt, Nachweise wurden erbracht, Schlussfolgerungen gezogen… und dennoch hat im aufgesplitterten Ex-Jugoslawien, auch Jahrzehnte nach Kriegsende, jede/r seine/ihre eigene Wahrheit. Auch Selma Doborac, geboren 1982, hat sie. Da wäre altes VHS-Material über „jene Tage“ - schon die Form schafft Distanz – auch zu den Bildern. Das allein wäre hilflos gegenüber den Verfälschungen nationalistischer PropagandistInnen, die ihre Machtbasis in den Teilstaaten durch Mythenbildung erhalten. Doborac fährt gegen den Krieg Panzer, Wortpanzer auf, der Ohnmacht gegen gesteuerte mediale Finten setzt sie Textungeheuer entgegen. Unmöglich, den Wust an zu lesenden Tiraden als KinozuschauerIn zu bewältigen. Selma Doborac weiß das und setzt es in „Those shocking shaking Days“ gezielt als Stilmittel ein. „Sind sie noch bei der Sache?“ fragt sie bisweilen ironisch aus dem Off… Die Übersicht verlieren: könnte der nächste (sinnvolle) Schritt nicht das Bezweifeln einer „Übersicht“ sein? Wann immer Satzfetzen sichtbar werden, die rasende Fahrt des Wortpanzers von Doborac durch gesteigerte Aufmerksamkeit der BetrachterInnen also kurz angehalten wird, zeigt sich maßlose Wut, übersteigerte Pathetik, auch als Echo und rhetorischer „Bumerang“ naturgemäß, aber „in Ruhe“ lesen möchte man den Text von Doborac lieber nicht. Doch Ruhe ist bei „Those shocking shaking Days“ ohnedies nicht gefragt und an Abrüstungskonferenzen nimmt Doborac definitiv nicht teil. „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“ klagt Moses in Schönbergs „Moses und Aron“. Währenddessen baut sein Bruder Aron am Goldenen Kalb…
Eines immerhin war nach der erbittert geführten Debatte um Waldheims Kunst des Vergessens nicht mehr möglich: die Aufrechterhaltung des Opfermythos. Sich-Heraushalten, Nicht darüber reden: Das galt jahrzehntelang als österreichische Grundtugend.
Noch besser: Das Streichen aus dem Gedächtnis (und/oder: aus Biographien… ) Diagnose: Amnesie… Umso verdienstvoller, dass mit „Österreich: zum Vergessen“ im zwanzigsten Jahr „nach Waldheim“ eine (filmische) Spurensuche zu dieser Thematik den Mittelpunkt des diesjährigen Diagonale-Programmes bildete.
1946: Ein Jahr nach Kriegsende entsteht mit Unterstützung der Sowjets, die den Rohfilm zur Verfügung stellen, „Der weite Weg“ (Österreich 1946; Regie Eduard Hoesch), eine österreichische Variante über Ende und Wiederanfang… Ein sowjetisches Kriegsgefangenenlager irgendwo im Nirgendwo: es ist ein fideles Lager (auch hier die typisch österreichische Schlitzohrigkeit: man weiß schon, wer den Film ermöglicht hat und kurz nach dem Krieg in Wien das Sagen hat… ), dessen Insassen fast durchwegs Wiener sind, die sich nach der fernen Stadt sehnen, wo der Heurigen und die Madln warten. Man raunzt, räsoniert und singt, trinkt auch gemeinsam ein Glaserl. Krieg und Hitlerfaschismus sind in den Unterhaltungen ausgespart, als ein zackiger Deutscher (!) dazustößt, wird ihm bedeutet, das es sich „ausgehitlert“ habe. Sehr schön, würde diesen Satz nicht ausgerechnet ein Schauspieler sagen, der als unbelehrbarer Nazi bekannt war… Die Dramatik entsteht ausschließlich im Privaten: ein Neuankömmling im Lager erzählt von einem Fronturlaub in Wien, wie er eine verheiratete Frau in sich verliebt gemacht und dann fallengelassen habe, nennt zum Beweis seiner Erzählung einen Namen, alle erstarren, denn deren Ehemann ist ebenfalls Lagerinsasse… Es folgt ein Totschlag im Affekt, der lediglich mit mehrtägigem Essensentzug und geringfügigen (Straf-)Arbeitsauflagen sanktioniert wird: da ist man ja gerne kein Nazi mehr… Nach Kriegsende kehrt der Ehemann nicht nach Hause zurück, sondern nistet sich im Quartier des besten Freundes (aus dem Kriegsgefangenenlager) ein, der wiederum nicht an die Untreue der Frau glaubt, und die beiden wieder zusammenbringt… So soll es sein: Wir waren nicht dabei, was immer das auch war, wir wissen es nicht, ab jetzt wird alles besser, in Wien ist es ohnedies gut (nur Schwarzhändler sind kurz zu sehen, auch so ein Einbruch ins altgewohnte Wiener Leben von „außen“…)
Schon die Besetzung sagt alles. Die beiden Freunde werden von den späteren (unerträglichen) „Publikumslieblingen“ Rudolf Prack und Hans Holt verkörpert. Zu „Publikumslieblingen“ wurden sie im Nachkriegsfilm (und im Fall von Holt: auch auf der Bühne), weil sie stets auf ihr festgelegtes Rollenklischee vertrauten, eine weise Entscheidung in einem Land, das sich instinktsicher in seinem Verhaltensklischee einnistete…
Das Nachkriegsösterreich, so stumpf wie ignorant, hat von „alledem“ nichts gewusst, als „Opfer“ war man ja nicht beteiligt… Es ging weiter, und zwar durchaus kontinuierlich. Das zeigt auch Franz Novotnys kongeniale Jelinek-Verfilmung „Die Ausgesperrten“ (Österreich 1982).
Der alte Witkowski ist zunächst in einer Rückblende als Akteur in einem Fronttheater zu sehen: Dort bemüht er sich mittels eines antisemitischen Auftritts mit karikaturhaften Zügen um Applaus und die Anerkennung seiner Auftraggeber. Aber hier ist er nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Für die demoralisierte Truppe muss Unterhaltung her, am besten Lehar…
1959: Der alte Witkowski geht auf Krücken, einziges (äußerliches) Zeichen, dass da „was war“. Doch er hat sich ebenso wenig geändert wie die Schulen des Landes, die eine neue Generation ausbilden sollen. Die Geschwister Witkowski wissen, dass sie nach dem Gymnasium nicht klüger sein werden als zuvor, sie verachten ihre LehrerInnen ebenso wie deren autoritären Vater. Zwar können sie Camus und Satre zitieren, aber sie haben dennoch das väterliche Erbe von Unterdrückung und Gewalt angetreten, wenn auch unreflektiert und in scheinbar konträrer Absicht…
Den alten Witkowsi spielt Rudolf Wessely, in Wien geboren, wird allerdings vor Ort, ungeachtet einer langjährigen Burgtheater-Karriere, stets unterschätzt. 1987 ist er in einer zentralen Rolle bei der szenischen Lesung von Herbert Achternbuschs „Skandal“-Stück „Linz“ (14.4.1987, „Lesebühne Nr.5“ des Burgtheaters im Theater „Der Kreis“) dabei (das keine Wiener Bühne je zur Aufführung annimmt), mit dem Achternbusch auf die Waldheim-Debatte reagiert hatte. Und noch eine Querverbindung zum diesjährigen Diagonale-Schwerpunkt mittels des Schauspielers Rudolf Wessely: von 1950-1958 ist Rudolf Wessely am „Deutschen Theater“ in Berlin/DDR tätig (und spielt auch in einigen DEFA-Filmen mit).
Womit wir beim Synema-Projekt dieses Jahres wären, welches sich einer spezifischen Form der Emigration widmete. Es war jenen antifaschistischen SchauspielerInnen zugeeignet, die erst durch die Nazis, dann durch die Folgen des Kalten Krieges aus dem Land getrieben wurden. „Das zweite Exil: emigrierte österreichische Filmschaffende in Ostberlin“ zeigte in vier Programmen, wie sehr SchauspielerInnen wie Paryla, Pelinkovsky, Heinz… im DEFA-Alltag einen - wesentlichen - Teil des Ganzen darstellten. Denn es waren, neben dem Antifa-Klassiker „Professor Mamlock“, mit „Pension Boulanka“ ein intelligent konstruierter, pfiffiger Krimi, das im Revolutionsjahr 1848 angesiedelte Drama „Semmelweis – Retter der Mütter“, wissenschaftlichen und politischen Fortschritt verbindend, sowie, als weiterer Kontrapunkt, die Ehekomödie „Ehesache Lorenz“ zu sehen, durch deren Hauptfigur, die Richterin Trude Lorenz, ein anderes Frauenbild erkennbar wurde, als es die zeitgleich (Entstehungsjahr: 1959) entstandenen BRD-Produktionen vermittelten… Familie und Beruf, Selbstbewusstsein - da erteilte eine kluge Komödie Auskunft über den emanzipatorischen Fortschritt in der DDR…
Ein wichtiger Punkt: Dass die Programme von „Synema“ offenkundig auch von der neuen Intendanz als integraler Teil der „Diagonale“ betrachtet werden – ein unverzichtbares Programmsegment.
Ruth Beckermann (deren neuer Film „Die Geträumten“ – s.a. „Die Linke“, 26.2.2016, Berlinale/1 – völlig zu Recht den „Großen Diagonale-Preis des Landes Steiermark/Bester Österreichischer Spielfilm“ erhielt) näherte sich stichwortartig im Rahmen eines Werkstatt-Gesprächs ihrem neuen Vorhaben „Waldheim oder The Art of Forgetting“, einem analytischen Kompilationsfilm über Lüge und Wahrheit im Spiegel der „Waldheim-Affäre“. Obgleich sich dieses Projekt noch in der Entstehungsphase befindet, ist es fraglos ein ebenso spannendes wie notwendiges Unterfangen. Denn, und das gilt für den gesamten Diagonale-Schwerpunkt:“Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“(Faulkner)…
Vordergründig sind das ja „nur“ junge bulgarische Roma, in einer Stricherbar ihre Dienste anbietend und darüber schwadronierend, die man da sieht… Aber was Patric Chica mit „Brüder der Nacht“ gelungen ist und mittlerweile (nicht zufällig und nicht zu Unrecht) von vielen KritikerInnen mit Arbeiten Fassbinders, Angers, Von Sants und Pasolinis in Verbindung gebracht wurde, hat wenig mit einer Milieustudie zu tun, und passt, wiewohl in der Dokumentarschiene der „Diagonale“ gezeigt, auch in kein Schema. Chica hat vielmehr ein Wien bei Nacht erschaffen, welches es außerhalb seines Filmes (möglicherweise) ebenso wenig gibt wie die stolzen bulgarischen Matrosen, die da für ihn posieren. Diese „Brüder der Nacht“ inszenieren sich selbst und werden von Chica in ein magisches Licht getaucht. Es ist eine künstliche Welt, in der Chicas Helden (einander) ihre Ergebnisse erzählen und zu unwiderstehlichen Figuren voller Kraft und Energie, die nichts umwerfen kann, werden… Sie sind Chicas Kino-Geschöpfe und doch auch real in ihrer unbefangenen Lebendigkeit. Nichts davon ist „dokumentarisch“, alles funktioniert, weil es wahr ist und gelogen zur gleichen Zeit – also dem Geheimnis der „Siebten Kunst“ geschuldet…
Mit „Brüder der Nacht“ hat sich ein Regisseur in den Vordergrund geschoben, auf dessen nächste Arbeiten man neugierig sein kann: Patric Chica - merken Sie sich diesen Namen…
Ein Höhepunkt der „Diagonale“ 2016 und erfreulicherweise auch demnächst in den Kinos zu sehen, ist Daniel Hösls „WINWIN“. „InvestorInnen“ betreten die Szene und eröffnen einen Markt der Illusionen. Sie wären die „RetterInnen“, sie hätten den „Durchblick“, sie könnten in diesem Augenblick „übernehmen“ und alles würde gut: All dies müssen sie nicht aufschneiderisch über sich behaupten - sie sind einfach da und erwecken Erwartungen… Undenkbar, dass die Seifenblasen platzen (was naturgemäß passieren wird), denn die Präsenz der InvestorInnen ist unanfechtbar… Sehr hübsch das Ritual, wenn Investor Nicholas Lachman (exzellent: Christoph Dostal) bei der Ministerin zu Gast ist und diese schon auf den Austausch mit der speziell geformten Tasche wartet, die Lachman ihr mitgebracht hat: eine Choreographie der Korruption. Umwerfend, wenn Lachman bei einem Meeting einfach stehen bleibt, und damit sein Gegenüber, wie alle anderen am Tisch sitzend, aus dem Konzept bringt – ein Taschenspielertrick, doch maßgeschneidert für den perfekten Auftritt. Ein Vorstand soll neu besetzt werden, der alles abnickt: kein Problem, wenn das Casting stimmt und dafür SandlerInnen von der Strasse in eine Limousine verfrachtet, zu „ExpertInnen“ umgemodelt sowie als Resultat dieser Camouflage feierlich präsentiert werden…
Der Kapitalismus als Schwindelunternehmen: Nicht zufällig ist Brecht/Eislers „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“, vorgetragen durch die dünne, krächzende Stimme des Komponisten (auch dies eine Brechung) zu hören. „WINWIN“ ist das Lob der leeren Hülle, oder auch: ein vergiftetes Bonbon, das allen schmeckt. Kommet zu uns, ihr HändlerInnen des Nichts, auf euch haben wir gewartet… Daniel Hösls „WINWIN“ wirkt wie eine zeitgemäße Variante des (Brechtschen) V-Effekts, doch bei aller satirischen Verfremdung (und Überhöhung) ist unübersehbar, dass die „InvestorInnen“ längst nicht entzaubert wurden. Sie sind da und sie bleiben da: it’s part of the game…