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Das Ganze ein Stück

Kurt Hofmann

Ein unvollständiger Rückblick auf die Viennale 2014

10.11.2014

Eine verbesserte ZuschauerInnenbilanz trotz reduziertem Platzangebot: Kann man Zahlen  ohne weiteres trauen, oder andersrum, sagen diese  statistischen Erhebungen etwas  über die Qualität des Gezeigten aus? Ein zweiter Versuch: Bei Jean-Luc Godards neuem Film „Adieu Au Langage“ ein volles Gartenbau-Kino. Dass dieser von ExpertInnen aller  Welt seit Jahren totgesagte Regisseur  der  Totgeburt 3D in  der ersten „Begegnung“ mit diesem Verfahren Leben  einhauchen konnte, weil er neugierig geblieben ist und immer noch Lust am Ausprobieren hat, war  ebenso wenig selbstverständlich wie das rege  Interesse an einem, der  nach wie vor keine Konzessionen  an das, was gemeinhin unter  „Publikumsgeschmack“ subsumiert wird, macht. Die dauerhafte Präsenz Godards in den  Viennale-Programmen der Ära Hurch wird nur  durch jene von Jean-Marie Straub übertroffen. Dessen „sperriges“ Werk löst vielerorts Absetzbewegungen aus, stößt auf Unverständnis. Nur in Wien, während der Viennale, offenbar nicht, denn  das Metro war bei Straubs „Kommunisten“ restlos ausverkauft… Steter Tropfen höhlt den Stein, heißt es, und  es sagt einiges über die Programmierung und den Stellenwert eines Festivals aus, wenn  bei Godard und Straub keine Karten  mehr verfügbar  sind…

Ein Gerichtssaal in  Mumbai: Der Beschuldigte, ein  Sänger, alt, doch ohne Anzeichen des Greisenhaften, ist einer seltsamen Tat angeklagt. Er  habe  ein  Gedankenverbrechen begangen und einen  seiner ZuhörerInnen durch einen Song zum Suizid animiert. Mitten  in einem Hof, auf einer improvisierten Bühne, tritt da einer  auf, der eben kein  „Liedermacher“ ist und mit seinen Darbietungen nicht die eigene Eitelkeit  befriedigen will, vielmehr aus der alltäglichen Ungerechtigkeit noch Rückschlüsse  zieht auf das „große Ganze“. Kein Star, sondern Teil eines  (oppositionellen) Zusammenhanges. Kurz, ein Aufwiegler, der  die braven Leute auf falsche Gedanken bringt… Dementsprechend wird dem Alten vor  Gericht begegnet: Seine Schuld  gilt als erwiesen, auch wenn er  das ominöse Lied nie gesungen hat und die wenigen Zeugen des Geschehens sich als Statisten in einer Inszenierung der Anklage erweisen… „Court“ (Indien 2014; Regie: Chaitanya  Tamhane)  zeigt ein Justizsystem, das  selbst den unbestreitbaren Nachweis der Unschuld eines Angeklagten nur zur Kenntnis nimmt, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen.  Der Richter in „Court“ läßt nur das  protokollieren, was in sein  Konzept  des Verfahrens passt und bietet einem bereits Entlasteten großzügig eine Alternative: Entweder  dieser nehme in Kauf, dass  der  Prozeß endlos in die Länge gezogen werde, oder  er  zahle eine Pönale… Nicht nach Recht, sondern nach Gutdünken entscheidet  dieser Richter, der  einen, der wegen eines Bagatelldeliktes vor Gericht zitiert wird,  unverrichteter  Dinge wieder  heimschickt, weil jener mit seiner Kleidung  das Gericht beleidige…. Wir da oben, ihr  da unten: „Court“ zeigt nicht nur, wie Klassenjustiz in  Indien funktioniert, sondern wirft den ProtagonistInnen des Verfahrens auch auf ihre  Privatheit zurück, wie sie, der  Robe  entledigt, sich nicht zurecht finden in  einem Spiel, das nicht ihren  Regeln entspricht. Justitia ist blind, und  deren StellvertreterInnen auf Erden ist nicht zu helfen…

Ein Gerichtssaal im  Süden der USA, frühes neunzehntes  Jahrhundert: Zwei Brüder sind  des Mordes  angeklagt, einer  von  ihnen hat, so scheint es,  die Tat  begangen, doch deren  Mutter, Augenzeugin der Tat, kann  nicht einen der beiden, zugunsten des anderen verraten. So pathetisch der Ankläger, so gelassen, ja „lässig“ in seinem Verhalten der unerfahrene Verteidiger, der auf Freispruch plädiert. 

Jahre später wird dieser schlaksige junge Mann, der vor Gericht herumlümmelt,  dem das würde- und weihevolle fremd zu sein scheint, als Präsident der USA Geschichte schreiben…  „Young Mr. Lincoln“ (USA 1939; Regie: John  Ford) zeigt ein Fordsches Gerichtsuniversum: Wie da der Richter energisch nach dem „Wasser!“ verlangt  und ihm der Beisitzer das allerdings  gut getarnte Behältnis reicht, dem Whiskey  entfließt…  Wie da der Anklagevertreter Schauergeschichten erzählt und der Verteidiger, zum sichtbaren Vergnügen der Richters, Anekdoten… Wie die Mutter des Angeklagten, als es um  das  Leben ihrer  Kinder geht, Vertrauen in einen setzt, der noch nie in einem Gerichtsverfahren, welches ein Kapitalverbrechen behandelt, als Verteidiger  aufgetreten  ist, weil sie… weiß, dass sie ihm vertrauen kann.

„Young Mr. Lincoln“ ist ebenso weit entfernt von einem virtuosen Gerichtssaaldrama wie es den jungen Lincoln als  frühen Wiedergänger des alten Weisen zu zeigen versucht. In derlei Fällen tappt Ford nicht, anders als etwa  Spielberg, der  den Präsidenten in seinem „Lincoln“-Film stetig von einem unsichtbaren Podest herab sprechen lässt. Der junge Lincoln Fords schreckt auch vor Taschenspielertricks nicht zurück, wenn sie ihm wirksam erscheinen. Seine Lässigkeit, sein  ungeniertes Verhalten vor Gericht, seine Körpersprache,  all dies ist das exakte Gegenteil des gezierten Verhalten des Anklägers, eines „Experten“, der  die falschen Schlüsse  zieht, weil er nicht anders kann. Wie der junge Lincoln agiert, das ist ein (geschickt getarnter…) Aufbruch gegen behauptete Autoritäten, in  dieser Unbekümmertheit steckt jedoch ein tiefer Ernst. Nicht  durch Vorwegnahme späterer  Unantastbarkeit, sondern indem er den jungen Lincoln als einen zeigt, der lieber improvisiert, als in  Gesetzbüchern zu blättern, der einen Plan hat,  dem irritierenderweise die Herleitung fehlt, dem es auch, aber  nicht in  erster Linie, um  the truth and nothing but the truth geht, aber  vor allen darum, einer Mutter ihre Söhne wiederzugeben (was ihm schließlich auch gelingt…), entwirft Ford im Bild des jungen, „unvollendeten“ Lincoln die Skizze des späten, „vollendeten“.

Ein Gerichtssaal  im Ungarn dieser Tage: Vor Gericht stehen  Neonazis, die 2008 und 2009 mehrere  Roma-Dörfer überfallen und dabei sechs Menschen, darunter ein fünfjähriges Kind, getötet hatten.

„Judgement in Hungary“ (Ungarn/Polen/Deutschland 2014; Regie: Eszter Hajdu) dokumentiert nicht allein die Aussagen (und Aussageverweigerungen… ) zu diesen Ungeheuerlichkeiten, im  Mittelpunkt steht  vielmehr  der Richter, dem eine Abscheu vor dem ungenierten Auftreten der rechten  Mörder  ebenso deutlich anzumerken  ist wie die Verachtung für die Opfer, die „Outsider“ der ungarischen  Gesellschaft. Nie entspricht  ihr Verhalten vor Gerichten seinen Vorstellungen, er herrscht sie an, belehrt und verwarnt sie. Ohne dies zu benennen, zeigt Hajdus  Film im Verhalten des  Richters eine Widerspiegelung des autoritären Orban-Systems. Wie da, von oben herab, so,  als könne man die Zeit ohne Schaden zurückdrehen, die „alten Werte“ beschworen  werden, im Gericht (in Hajdus Doku) und gleichermaßen in der „Zweidrittel-Gesellschaft“ Orbans, das ist ebenso frappierend als auch erschreckend. Ein Paradox: Aufgenommen von modernsten Kameras präsentiert  sich das rückwärtsgewandte Ungarn. Die Beobachtung stört den Richter (wie auch Orban…) nicht: Man ist ja unter sich und lässt sich durch Außenstehende nicht stören…

Zwei Loser überfallen eine Bank und scheitern  kläglich mit ihrem Plan: Das könnte, 2014 gedreht, die Vorlage für eine jener famosen Komödien sein, die ihre Hauptfiguren zwecks  Lacheffekt denunzieren, und diesen schließlich doch ein augenzwinkerndes happyend ermöglichen, dabei immer unter  stückweiser Rücknahme ihrer ursprünglichen, kriminellen Absichten, um auch den gesellschaftlichen Einklang im Schlussdrittel des Films noch zu erreichen. Nichts  davon in Sidney Lumets 1975 entstandener  Fallstudie „Dog Day Afternoon“. „Based on  a true story“, nie war diese stets fragwürdige, ja gefährliche Formel im  Film bedeutungsloser als hier. Am 22.August 1972 überfallen Sonny Wortzik und sein Freund Sal mitten in Brooklyn eine Bank, stellen bald fest, dass sie den falschen Tag für ihre Unternehmung gewählt haben, denn es  befinden sich nur 1100 Dollar im Tresor, wollen die Bank rasch wieder verlassen, doch Sonny hat noch eine seiner genialen Ideen und will Scheckformulare  mitgehen lassen. Die Liste mit den entsprechenden Nummern verbrennt er, und, ohne  Rauch kein Feuer, das Qualmen alarmiert einen Passanten, der  die Polizei ruft. Plötzlich sind Sonny und Sal Geiselnehmer, denn vor der Tür haben  sich rasch Polizeieinsatzwägen eingefunden, über dem Gebäude kreist ein Hubschrauber. JournalistInnen und eine  bald schon kaum mehr überschaubare Menschenmenge beobachten, wie sich eine schwerbewaffnete Polizeieinheit in Stellung bringt…  Im Inneren der Bank überlegt Sonny, durchaus unter Einbeziehung seiner Gefangenen, welche Forderungen er  und Sal denn stellen  könnten…

Als er dann, unversehens zu einer Figur des „öffentlichen Interesses“ avanciert, versucht, seiner neuen  Rolle gerecht zu werden, und zugleich, unter Applaus der PassantInnen, vor dem Gebäude in  den Verhandlungen mit der Polizei den  Wütenden, zu allem Entschlossenen  gibt, ist das durchaus komisch, zugleich schwingt bei Lumets Sonnys Verzweiflung und Ratlosigkeit immer mit, dessen Wissen, dass  für ein erfolgreiches Ende der Unternehmung ein Wunder geschehen müsste… „Dog Day Afternoon“ hat, beinahe vier Jahrzehnte nach seinem Entstehen,  nichts an  Intensität und  Originalität verloren: Zieht man zeitbedingte Äußerlichkeiten ab,  bleibt ein  packendes Drama um einen völlig unverhältnismäßigen Polizeieinsatz, wie da zwei Zufallskriminelle zu Staatsfeinden erklärt werden, eine Medienmeute die privaten Verhältnisse der „Geiselgangster“ für ein Massenpublikum aufbereitet, die Umstehenden vor der Bank zu einem  „Teil der  Show“ werden, FreundInnen, Nachbarn, Familien, sich rekrutieren lassen, um Teil des Ganzen zu sein, das ist so wahnwitzig wie zeitnah. Und, nicht zu vergessen, „Dog Day Afternoon“ präsentiert Al Pacino in  seiner bis heute besten Darstellung. So unverstellt, so verzweifelt-komisch, so wahrhaftig hat man den stets zu Manierismen neigenden Schauspieler kaum wieder gesehen…

Und noch ein weiterer  Coup, diesmal erfolgreich und politisch motiviert: Die Dokumentation „1971“ (USA 2014; Regie: Johanna Hamilton) berichtet, was 1971, mehr als vier Jahrzehnte vor Edward Snowdons  Enthüllungen, einer  kleinen Gruppe von AktivistInnen gelang. Zu acht, so konspirativ wie möglich, planen  diese einen Einbruch in einem lokalen FBI-Büro, um geheimer Dokumente habhaft  zu werden. Das Vorhaben gelingt, weil die Bundespolizei zu diesem Zeitpunkt ihre regionalen Büros nur  ungenügend abgesichert hat. Die Gruppe findet dabei Material betreffend ein umfassendes Überwachungsmaterial des FBI, spielt dieses den Medien zu und löst damit eine bundesweite Debatte aus… Für „1971“ „outen“ sich die Beteiligten an dieser Aktion erstmals vor Kameras. Dabei wird offenkundig, dass die acht keineswegs isoliert agierten, sondern im Kontext eines  politischen Klimas des  Protestes und der Aufklärung. Die „Citizen Commission to Investigate the FBI“ bot einen äußeren Rahmen für versteckte Operationen gegen die stets wissbegierige Staatsmacht und  ihre geheimdienstlichen Institutionen. Viele ähnliche Aktionen endeten mit Gefängnis und weitreichenden privaten wie beruflichen Folgen für  die Beteiligten. Nur dieser  kleinen Gruppe ist es  gelungen, ihre Identitäten bis heute vor den Nachforschungen des FBI geheim zu halten.

„1971“ ist ein  Rückblick und zugleich ein Ausblick: Ist auch der Widerstand gegen Überwachung und Repression trotz Gruppen wie „Occupy Wall Street“ um  vieles schwächer geworden und besitzt nicht annähernd die einstige gesellschaftliche Akzeptanz, haben auch  FBI, NSA… seit  damals unverhältnismäßig aufgerüstet, so bleibt doch die aufmunternde Erkenntnis, dass es von „1971“ bis zu Snowden immer wieder gelungen ist,  die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und dass es nottut, dies  weiter zu versuchen.

Noch ein Wort zur „Viennale-Debatte“:  Wenn  es stimmt, dass lange schwelende „atmosphärische Störungen“ zwischen Viennale-Direktor Hans Hurch und dem Direktor des Filmmuseums, Alexander Horwath, die eigentliche Ursache der Aufregungen um das diesjährige Festival sind, dann  wäre das doppelt bedauerlich, da beide, Hurch wie Horwath, ihren jeweiligen Institutionen zu internationaler Reputation verholfen  haben. Außerhalb Wiens beneidet man  die Stadt um ihre lebendige Programmkinostruktur, ihr neugieriges Publikum und insbesondere um die Viennale und das Österreichische Filmmuseum. „Warum sachlich, wenn’s  persönlich auch geht!“ hatte Karl Kraus einst sarkastisch notiert. Eine Maßregel für künftige Auseinandersetzungen sollte das nicht sein, und für die gegenwärtige passt nur ein  Wort: schade.