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Erinnern und Vergegenwärtigen

Kurt Hofmann

Zum Filmfestival „Crossing Europe“ in Linz.

07.06.2021

Gibt's das, in Zeiten wie diesen? Ja, das Filmfestival „Crossing Europe“ hat „physisch“ stattgefunden. Unter strenger Beachtung des Nachweises eines der drei G's (getestet-genesen-geimpft), bei reduzierter Sitzplatzanzahl (Abstand), und, vor allem, mit viel Energie und Freude seitens der VeranstalterInnen, die es trotz mancher Unkenrufe als erstes Filmfestival im deutschsprachigen Raum durch die Ziellinie geschafft haben: Yes, they can.

Eine Pandemie: Aber das auslösende Virus verdammt seine Opfer zu Gedächtnisverlust. Das Leben, welches sie zuvor geführt haben, die Erinnerung an ihre Liebsten, ja selbst ihr Name: all dies scheint gelöscht. Freilich hat der fürsorgliche Staat schon einen Plan entwickelt, wie die Betroffenen wieder ins Leben zurückfinden könnten: sie erhalten nach der Behandlung im Spital eine Wohnung sowie ein wenig Taschengeld und müssen „lebensnahe“ Aufgaben lösen, um wieder in Alltag und (neue) Identität zurückzufinden...
Aris, der Protagonist von „Mila“ (GR/PL/SI 2020; Regie: Christos Nikou; Competition Fiction) wird bei der Endhaltestelle eines Busses vom Fahrer gefragt, wo er denn eigentlich hinwoll(t)e. Doch das weiß er nicht, ebensowenig, wie er später „Angaben zur Person“ machen kann. Im neuen, vorgeplanten Leben ist er verpflichtet, ein elektronisches Tagebuch zu führen und Rechenschaft über all seine Schritte abzulegen. Immerhin sei ja alles zu seinem Besten, mit Hilfe des staatlichen Programmes könne er wieder ins Leben finden. So sagen es ihm seine InstruktorInnen, die sich als freundliche Kontaktpersonen ausgeben. Die Kontrolle über sein Leben soll Aris allerdings auf diese Weise nicht wiedergewinnen, sondern dauerhaft verlieren. Die Pandemie hat einen Überwachungsstaat ermöglicht, der die gedächtnislosen Probanden dauerhaft bespitzelt und darüber wacht, dass die vorgegebenen Regeln strikt eingehalten werden, Privatsphäre ist nicht vorgesehen. Dennoch trifft Aris auf Mila, eine Schicksalsgefährtin. Vorsichtig, voller Scheu, nähern sich die beiden einander an. Doch bald schon fühlt sich Aris ausgenützt, verraten. Wollte Mila durch ihn nur zwecks Erfüllung ihres vorgegebenen Programmes profitieren... ?
In Christos Nikous „Mila“ werden (durch den Staat) Grenzen überschritten, die den Opfern der Pandemie angekündigte „Rettung“ entpuppt sich als Falle, in der die Gedächtnislosen wie Versuchskaninchen gefangen sind... Da ist eine Science-Fiction-Story, nahe an der (satirisch überhöhten) Realität, in den teils skurillen, zugleich erschreckend genau erfassten Details dabei an die Arbeiten von Yorgos Lanthimos erinnernd (dessen Regieassistent Nikou einst war).

Von Teheran nach Athen: Pari und ihr um vieles älterer Ehemann sind angereist, um ihren Sohn nach Jahren wiederzusehen. Doch dieser holt sie nicht vom Flughafen ab und ist auch, als die Eltern nach mühsamer Suche (nur Pari spricht ein wenig Englisch) dessen Wohnung erreichen, dort nicht anzutreffen. Was sie schließlich herausfinden, zerstört deren Illusion. Das Studium habe er längst abgebrochen, heißt es da, und Kontakt zur iranischen Community habe er schon gar nicht. Der streng konservative Vater ist entsetzt und will heimreisen. Doch Pari stellt sich erstmals gegen eine Entscheidung ihres Mannes. Sie will bleiben, so lange, bis sie ihren Sohn gefunden hat. Doch die Stadt, in der sich dieser so gut auskennt, dass keine/r von denen, die sie fragt, ihr dessen mögliches „Versteck“ nennen kann, ist für sie eine terra incognita. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes legt Pari ihre Ängste ab, trifft auf Lebensstile, die ihr bis dahin fremder waren als ein anderer Kontinent, überschreitet Grenzen. Pari sucht weiter nach ihrem Sohn, doch sie hat schon etwas wertvolles gefunden: ihr Selbst.
Siamak Etemadis „Pari“ (GR/FR/NL/BG 2020; Competition Fiction) ist die Geschichte einer Befreiung, in der der Weg das Ziel ist und Pari, eine Schattenexistenz, ihr bislang fremdbestimmtes Leben, gegen ein Eintauchen in neue Welten eintauscht, selbst Schatten wirft...

Ein Konzert in einem besetzten Haus. Plötzlich dringt die Polizei in das Gebäude ein, geht aggressiv gegen die Jugendlichen vor, die danach versuchen, zu flüchten. Vor dem Haus: Scharmützel. Einer schmeißt einen Stein, ein Polizist geht zu Boden... Es heißt, der Polizist sei gestorben. Der Steinewerfer hat sich nur seiner Freundin anvertraut, die nicht zu der Gruppe gehört, mit der er sich zu einer „Krisensitzung“ trifft. Dass die Polizei eine/n aus der politisch aktiven Gruppe, die nun versucht, wie eine konspirative Zelle zu agieren, verdächtigen könnte, ist allen klar. Wer war wo zu welcher Zeit: da gibt es ebenso wechselseitige Verdächtigungen wie die ständige Furcht vor Verrat...
„Los Inocentes“ (The Blameless; ES 2020; Regie: Guillermo Benet; Competition Fiction) ist mehr Psychodrama als Politthriller, vor allem ist er aber eines: atemlos. Ein Stakkato der Erinnerungen an die Vorgänge nach dem Konzert, welches mit - einander widersprechenden - Rückblenden konterkariert wird. Wer hat wen da in was hineingezogen und weshalb scheint jedes Wort wie falsche Währung? Guillermo Benets „Los Inocentes“ hat Tempo und Intensität, vermittelt die Nervosität und Unsicherheit der Jugendlichen, die sich nur wie erfahrene PolitaktivistInnen gebärden, aber in Wahrheit lediglich ihre Ratlosigkeit mit großen Sprüchen kaschieren. In deren Mitte der eigentliche „Täter“, absichtslos schuldig geworden im Sog der Ereignisse, durch sein Schweigen und seine Ablenkungsversuche nun aber belastet – gegenüber der Gruppe, seinen FreundInnen und GenossInnen... Der Drang zum Moralisieren ist die Schwäche von „Los Inocentes“. Das Verhältnis zwischen Macht (staatlicher Gewalt) und verzweifelter Ohnmacht wird kaum thematisiert, weshalb die Jugendlichen das Haus besetzt haben, ebenso wenig. Stattdessen: Schuld und Sühne, Ausweglosigkeit und die Frage nach Verantwortung. Große Worte, viel Pathos. Weniger wäre da (bei aller dramaturgischen Stringenz) bisweilen mehr gewesen.

Auf dem Bahnhof trifft eine seltsam anmutende Blaskapelle ein. Sie wird zu einem Stall geführt, wo sie den zu späteren Verwertung Bestimmten ein Ständchen gibt, so feierlich wie endgültig. Eine Abschiedssymphonie, ist zu vermuten. Doch die angerührte Stimmung wird durch die nächste Einstellung jäh gebrochen: da sieht man, wie das Vieh zur Schlachtung getrieben wird... Auf den ersten Blick erinnert diese Sequenz aus dem Schlußteil von „Kala Azar“ (NL/GR 2020; Regie: Janis Rafa; Competition Fiction) an die Szene mit dem Hund in Bunuels „Viridiana“. Da wird ein kleiner Hund, welcher, angebunden an einer kurzen Leine, hinter einem Karren hertrottet, freigekauft, doch die empathische Geste wird sogleich ironisch gebrochen, denn kurz nach der Befreiung des Vierbeiners erscheint ein Eselskarren, abermals mit einem kleinen Hund, kurz angeleint... Doch derlei gesellschaftskritische Grundhaltung ist „Kala Azar“ nicht eigen. Vielmehr müssen dessen BetrachterInnen stets gewärtig sein, dass der Mensch vom Affen abstammt. Und: wie der Tod dem Leben innewohnt. Da ist ein junges Paar, das Tierkadaver einsammelt. Selbst die letzten Reste von Verwesung werden noch verwertet, soviel wieder zum gesellschaftskritischen Teil. Aber dem jungen Paar ist auch das Animalische nicht fremd, ja sogar Vorbild, Tier- und Menschenwelt gehen in „Kala Azar“ eine seltsame Fusion ein, jedenfalls scheint es so...
Nicht durchgehend erzählend, sondern lustvoll assoziierend, ist „Kala Azar“ ein ebenso listiges wie unterhaltsames Stück Kino, das vom Versinken im Animalischen ebenso behende berichtet wie von den letzten Dingen. Die trostlosen Industrielandschaften, welche das junge Paar durchquert: ein Sinnbild zivilisatorischen Verfalls. Der aufrechte Gang des Menschen: eine Anmaßung...

Drei jugendliche SprayerInnen finden hinter einem Wandverdeck eine Aufschrift, die an die legendäre marokkanische Rache-Dämonin Kandisha erinnert. Amelie, Bintou und Morjana lieben Geistergeschichten und erfahren so, dass ein mehrfaches Wiederholen ihres Namens Kandisha herbeiruft, die dann einem bedrohten weiblichen Wesen zu Hilfe kommt. Als Amelies Exfreund eines Nachts zudringlich wird und sie schließlich zu vergewaltigen droht, kann diese sich zwar selbst befreien, doch ruft sie auch, einem Impuls folgend, die Rachedämonin herbei. Am nächsten Tag ist Amelies Exfreund tot... Womit Amelie nicht gerechnet hat, ist, dass von da an jeder Mann in ihrer Umgebung von Kandisha mit dem Tod bedroht ist...
„Kandisha“ (FR 2020; Regie: Julie Maury, Alexandre Bustillo), ein Film aus der feinen Nachtsicht – Abteilung, die dem Genre-Kino gewidmet ist, nimmt Anleihen beim Superheldinnen-Film, wiewohl „Kandisha“ naturgemäß dem Horror-Genre zuzuordnen ist. Die Geister, oder vielmehr den Geist, den sie riefen, werden die Teenies nicht mehr los. Denn diese mittelalterliche Dämonin ist, was die drei Mädchen gerne wären: eigenwillig und unberechenbar... So zeigt uns „Kandisha“ drei Mädchen in pubertären Nöten – Unsicherheit, Verletzlichkeit und das stetige Verlangen, aus dem Alltag auszubrechen – denen eine Wunsch-Projektion, die dämonische Superheldin aus fernen Tagen, zu Hilfe eilt, doch diese entwickelt, nun wieder in der Logik des Horror-Genres, in ihrem Beistand eine unerwartete Eigendynamik...
Was vorhanden ist und was möglich wäre: sich das zu fragen, ist stets sinnvoll. Das Kino hilft da gerne mit dämonischen Superheldinnen weiter, betreffend etwaiger Folgen lesen sie bitte den Beipackzettel...

Kurt Hofmann