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Berlinale 2010: Forum und Panorama (Teil 1)

Kurt Hofmann

Im Alter von fünf Jahren fährt Max Ophüls mit der Straßenbahn am Opernhaus vorbei und liest die Inschrift: "Dem Wahren, Schönen, Guten". Am Abend fragt der Großvater, ein erfolgreicher Kaufmann, den Enkel, wie dieser den Tag verbracht habe. Aufgeregt erzahlt Max seinem Opa, zumal er weiß, dass jener seit Ewigkeiten Opernabonnent ist, von der Inschrift, die da gelautet habe: "Den schönen, guten Waren"… Gerne erzahlte der große Filmregisseur diese Anekdote aus seiner Kindheit. Der Heranwachsende habe, ohne es zu wissen, mit seiner Wiedergabe eine Wahrheit erfasst, das eigentliche Leitmotiv der Branche, in welcher der Erwachsene später tätig sein sollte...

15.03.2010

Vom Gesetz des Zufalls

Die Kunst, das geschäftige Treiben rund um ein Großfestival, das Kaufhaus: Einst der Tempel und die Bewahranstalt der schönen, guten Waren, der KäuferInnen harrend, zu umsorgen von fachkundigen Personal. Der Blick auf die Wunderwelt der Waren und die Illusion vom besseren Leben. Die Stellenanzeige in der Zeitung und die Illusion vom raschen Aufstieg: Japan, in den späten Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts. Die Arbeitsplatze sind knapp, trotzdem ist jeder der drei jungen Männer, die wir in "Konyaku sanbagarasu" (The Trio's Engagement; Japan 1937; Regie: Shimazu Yasijiro; Forum) kennen lernen, davon überzeugt, der Auserwählte für den einen, freigewordenen Job als Verkäufer in der Bekleidungsabteilung des großen Kaufhauses zu sein. Was die drei gemeinsam haben, sind ihre leeren Taschen und die Fülle ihrer Erwartungen. Mangelnde Erfahrung versuchen sie beim Einstellungsgespräch durch Übereifer, mangelnde Kompetenz durch großes Mundwerk zu ersetzen... Überraschenderweise werden sie alle drei eingestellt, weil die Tochter des Kaufhausbesitzers gerne flirtet und ihren Vater zu deren Engagement überredet hat, auch, um ihr ein Experiment zu ermöglichen ... Tatsachlich kommt alles so, wie sie es geplant hatte: jedem der drei spielt sie die große Liebe vor, allesamt wollen die drei für diese Aussicht ihre Freundinnen verlassen. Naturgemäß ist die Tochter längst einem reichen Erben versprochen, aus den drei Konkurrenten werden Freunde, die schließlich ihre Lektion gelernt haben und reumütig zu ihren Freundinnen zurückkehren...

Dem (längst entschwundenen) Subgenre der Kaufhauskomödie (man denke etwa an "The Big Store" mit den Marx Brothers) zuzurechnen, erweist sich "The Trio’s Engagement", gezeigt im Rahmen einer Hommage für Shiazu Yasujiro, einem großen Erneuerer des japanischen Filmes, als raffinierter, denn der erste Blick vermeint. So liebenswürdig und schlitzohrig die drei Konkurrenten charakterisiert werden, stets scheint doch ihre Bereitschaft durch, den Ellbogen auszufahren, weil sie, auch durch Rücksichtslosigkeit, Intrige und Verrat dem Anforderungsprofil des Erfolgreichen in einer Gesellschaft, die nur "Gewinner" überleben  lässt, gerecht werden wollen – insofern ist "The Trio’s Engagement", entstanden 1937, durchaus ein Film der Stunde...

Einer, der in, wie es so schön heißt, gesicherten Umständen lebt, trifft bei einem Busbahnhof auf den Sohn einer Nachbarin, per Zufall. Der bittet ihn um einen Gefallen: er möge seiner Mutter ein Kuvert übergeben. Der Mann, ein hilfsbereiter Zeitgenosse, tut, wie ihm geheißen. Die Empfängerin der Botschaft entnimmt dem Kuvert ein Foto, erschauert, fragt nach den näheren Umständen des Zusammentreffens. Am nächsten Tag erscheint bei dem Mann die Polizei. Der Junge sei seit Wochen vermisst, er zumindest ein Zeuge. Und: er möge doch die Stadt nicht verlassen und seinen Pass abgeben…  Wir befinden uns in einer russischen Kleinstadt. Willkür der Behörden ist hier nichts ungewöhnliches, folgerichtig hält sich der Mann an die Anweisungen und hinterlegt den Pass auf der Polizeiwache. Als jedoch bei seiner Rückkehr ein Bagger sein Haus abzureißen beginnt und der rasch in seine Wohnung Eilende diese leer geräumt findet, ist unser Freund doch etwas irritiert. Er erhält die Adresse seiner neuen Bleibe und stellt fest, dass es die Hausnummer in der genannten Straße eines entlegenen Bezirks gar nicht gibt. Nun will er sich nicht einmal beschweren, bloß erkundigen. Und wo ist der Ort für diese Anfrage? Bei der Polizei. Dort stellt man fest, dass sein Pass eingezogen wurde. Also sei er wohl ein Gesetzesbrecher. Zusammen mit einem eben eingelieferten Kleinkriminellen soll er in den Arrest verbracht werden… Der überredet ihn zu einer abenteuerlichen Flucht, die ihn immer tiefer in die entlegensten Gebiete des Landes führt und mit seltsamen Gestalten zusammenbringt. Halbweltgestalten und vom Schicksal geschlagene, aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht, nehmen den stoischen Intellektuellen, der nach und nach seine Identität aufgibt, mit auf eine Reise mit unbekanntem Ziel…

„Propavshyi bez vesty“ (Missing Man; Russland 2010; Regie: Anna Fenchenko; Panorama) endet mit einem Kafka-Zitat, naturgemäß. Die im Publikum anwesenden Russen nahmen den Film jedoch als Ansammlung von (allzu) Bekanntem und lachten wissend an Stellen, die dem Rest des Auditoriums gruselig erschienen…

Der Schrecken - hat er ein Gesicht? Viele meinen, es sei jenes von Osama bin Laden. Da ist einer, der ihm einen Eid geschworen hat und sein Leibwächter war und da ist ein Anderer, der ihn lediglich chauffiert hat. Salim Hamdan, der Fahrer, landet in Guantanomo, wird dort sieben lange Jahre verhört, gefoltert, erniedrigt. Bis sich seine Unschuld erweist, ist er ein gebrochener Mann. Abu Jandal, der Leibwächter, der Überzeugte, setzt sich später in den Yemen ab, als ihm in Afghanistan der Boden zu heiß wird. Dort lebt er als Taxifahrer, der mit seinen Fahrgasten gerne über Religion und Politik spricht. „The Oath“ (USA 2010; Forum) von Laura Poitras plaudert er „aus dem Nähkästchen“ über seine Zeit mit Osama bin Laden.

Ein vieldiskutierter Film, dessen Qualitäten aber nicht in der Vermittlung neuer Erkenntnisse über "al-Quaida" oder das Folterregime von Guantanomo liegen, sondern in der Entmystifizierung. Abu Jandal, einst heiliger Krieger, jetzt unheiliger Schwätzer, wird als liebender Vater gezeigt, der für seinen Sohn beim gemeinsamen Fernsehen schon mal via Fernbedienung von der Berichterstattung über den Palästinenserkonflikt zu "Tom und Jerry" wechselt und ein US-Militäranwalt (heute Zivilist), der Salim Hamdan, den Fahrer des Paten, vor Gericht vertritt, leistet sich den Luxus, nicht zu funktionieren, sondern zu zweifeln und Bedenken anzumelden angesichts der "offiziellen Variaten". Aus Schemen werden Menschen, deren Nöte und Widersprüche in "the Oath" das Schwarzweiß-Denken ad absurdum führen.

Stille. In einem Zimmer drei deutsch-türkische Männer, die eben eine schwerwiegende, irreversible Entscheidung getroffen haben. Die Kamera schwenkt zu einem Computer modernster Bauart, zum Fernsehgerät. Archaisches Denken in zeitgenössischem Ambiente. Die "Ehre" verlangt nach Konsequenzen, weil sich Umay, 25, entschlossen hat, ihren gewalttätigen Ehemann zu verlassen und ein eigenständiges Leben zu beginnen… In diesem Moment, beherrscht von Wut und Verzweiflung über das "Unvermeidliche" durchdringt kein (falscher) Ton den Raum. Blicke treffen aufeinander, wissend über den Wahnwitz des Beschlossenen, das ihnen dennoch ohne Alternative erscheint. Später, beim dramatischen Finale von "Die Fremde“ (Deutschland 2010; Regie: Feo Aladag; Panorama Specia1) wabernde Geräuschentwicklung, Dummheit in der Musik (siehe Eisler). Was bleibt, ist aber dieser Moment der Stille, das engagierte Spiel von Sibel Kekilli als Umay und Feo Aladags intensiver filmischer Appell gegen den Schlaf der Vernunft, welcher bekanntlich Monstren gebiert.

Die Frauen müssen im Bus hinten sitzen, denn sie würden mit ihrem Anblick die Männer ungebührlich verwirren. Daheim haben die Frauen zu schweigen, sich, wenn sie schon das Haus verlassen, entsprechend zu kleiden, und, wenn der "Moment" gekommen ist, mit dem ihnen zugewiesenen Mann zu vermählen. Ach diese radikalislamischen Gebräuche! Freilich handelt es sich hier um die ultraorthodoxe Haredi-Gemeinde in Jerusalem, die den Talmud auf höchst eigenwillige Weise interpretiert. "Sororet" (Black Bus; Israel 2010; Regie: Anat Yuta Zuria; Forum) lässt Sarah und Shulamit, zwei Aussteigerinnen aus der Welt der Geschlechterapartheid, zu Wort kommen. Sarah betreibt einen Blogg und erhält auf diese Weise "interne" Informationen von Verzweifelten, was sie zur Hauptfeindin der Sekte werden ließ. Shulamit fotografiert den alltäglichen Wahnsinn im Viertel.

Es hilft nichts, wenn ein von der Filmemacherin in den Bus geschmuggelter Rabbi den Verblendeten zu erklären versucht, dass deren krause Ideen keineswegs der Schrift entsprächen - man beschimpft ihn als Ketzer und Verräter. Sinnlos, mit lebenden Mauern zu diskutieren, erst recht, wenn es abtrünnige Frauen versuchen... "Black Bus" war eine der Entdeckungen der diesjährigen Berlinale, ein mutiger Film, der sich angesichts der von Anat Yuta Zuria in der Publikumsdiskussion genannten Fakten (etwa ein Drittel der israelischen Bevölkerung neigt  ultraorthodoxen Ansichten zu) einem - leider nicht zu vernachlässigenden - Phänomen widmete.

Eine Frau und ein Mann in der Wartehalle des Flughafens Orly: Noch ist Zeit bis zum Abflug, ein Gespräch mit dem/der Unbekannten vertreibt die Zeit. Skizzenhaft werden Lebenseinzelheiten enthüllt und wieder verborgen und Gemeinsamkeiten gefunden, so flüchtig und fragil wie eine Momentaufnahme, Und doch...: über das Warten und die Erwartung. Eine Mutter und ihr Sohn auf dem Weg zum Begräbnis des Vaters: Hier, beim Warten auf den Flug, will die Mutter dem Sohn über eine Affäre berichten und wie sie durch den Ehemann/ Vater zur betrogenen Betrügerin wurde. Nur jetzt, "zwischen Tür und Angel" kann sie den widerstrebenden Halbwüchsigen zum Mitwisser machen: über den geeigneten Augenblick.
Blicke, Gesten, Andeutungen, Annäherungen und Entfernungen, Lob des Subtextes: mit einer stupenden Genauigkeit widmet sich Angela Schanelec in "Orly" (Deutschland 2010; Forum) dem Gesetz des Zufalls (welch hübsche Widersprüchlichkeit!)

Auch ein Anderer aus der "Berliner Schule" sorgte für einen Höhepunkt dieser Berlinale. Im Mittelpunkt von Thomas Arslans "Im Schatten" (Deutschland 2010; Forum) steht der Gangster Trojan, kaum aus der Haft entlassen, schon einen neuen Coup planend. Für den Überfall auf einen Geldtransporter sind präzise Planung und verlässliche Partner vonnöten. Dennoch weiß Trojan, dass trotz aller konspirativen Vorsorge Verrat und Intrigen möglich, ja unvermeidlich sind. So richtet er sich darauf ein, den Anderen immer um einen Schritt voraus zu sein…
Ein Genrefilm wie aus einem Guss, weder Erklärungen noch Moralismen nachliefernd, präzise in den (karg gehaltenen) Dialogen. Da geht einer seinen Weg - vor wie hinter der Kamera - ungeachtet der aufgeregten Geschwätzigkeit eines sich zu wichtig nehmenden Großfestivals.

Völlig ohne "suspense" und ohne falsche Asse im Ärmel der Blick auf eine Frau in den besten Jahren: Sie heißt Nenette, ist vierzig Jahre alt und eine Orangutan-Dame. Rötliche Haare, ein  versonnener Blick, so wissend wie kokett. Nicolas Philibert hat sich für "Nenette“ (Frankreich 2010, Forum) in die Menagerie des Jardin des Plantes begeben. Im "Affenhaus" begegnet er einer Königin des Müßiggangs, die sich, bei allem Interesse und aller Freundlichkeit dem Rest der Welt gegenüber, auf das Wesentliche konzentriert: sich selbst...
Eine Reise zum Planet der Affen abseits von Effizienz, Flexibilität und derlei Notwendigkeiten.