Berlinale 2009 (Teil 1): Doch die Hoffnung währet immerdar
Kurt Hofmann
Berlinale 2009 - Im ersten Teil berichtet Kurt Hofmann über Filme, die ihn beeindruckten: „Meotijn haru“ (My Dear Enemy), „The Exploding Girl“, „Ai no mukidashi“ (Love Exposure), „Letters to the President“ und „Material“.
18.02.2009
Berlinale 2009, Teil 1: Filme im Forum
Irgendwo in Südkorea, eine Pferderennbahn, letzte Hoffnung der Gescheiterten. Auftritt eine junge Frau, deren Outfit und energisches Auftreten signalisieren, dass sie nicht hierhergehört. Sie sucht Einen, den sie hier nur allzugut kennen. Ihr Geld will sie zurück und zwar sofort, denn man hat sie, wir schreiben 2008, das Jahr der großen Krise, in den Ruin getrieben. Ein Jahr davor war Byoung-Woon, der Tunichtgut, noch Hee-Soos Freund, dem sie ohne Bedenken 3.500 Dollar geliehen hat, doch seit ihrer Trennung scheint Byoung-Woon von Amnesie befallen, was die Rückzahlung seiner Schulden betrifft. Nun also die unmissverständliche Aufforderung an ihn, die er mit liebenswürdigem Lächeln beantwortet. Nichts lieber würde Byoung-Woon tun, als ihr mit dem Geschuldeten aus der Patsche zu hlfen, doch leider, auch seine Taschen wären leer ... Freilich, da Hee-Soo das Geld so notwendig benötige, werde er es schon auftreiben, es brauche hiefür nur ein wenig Zeit und Geduld (zwei Reizworte für Hee-Soo), dann werde man schon sehen ... Wutschnaubend willigt Hee-Soo ein, Byoung-Woon auf seiner Borgetour zu begleiten, nicht ahnend, was sie dabei erwartet.
Als Lebenskünstler, der sich nicht drängeln läßt und der Muße frönt, sich angenehm macht, bevor er unangenehme Anfragen tätigt, ist Byoung-Woon offenbar überall, wo er hinkommt, beliebt und gern gesehen. Mag sein, dass das Schlitzohr die FreundInnen, die er letztlich (Eile mit Weile!) doch um Geld bittet, zuvor instruiert hat, vor seiner Ex sein Loblied zu singen, doch soviel Aufwand traut man einem, der überzeugt davon ist, mit seinem Charme und seiner Gewitztheit alle Probleme zu überwinden, gar nicht zu. Der hat immer noch ein As im Ärmel, doch nicht um des Gewinnens, vielmehr um des Augenblicks willen ...
„Meotijn haru“ (My Dear Enemy) von Lee Yoon-Ki ist das Porträt eines Vabanque-Spielers, der als „geliebter Feind“ seiner Kontrahentin alles daran setzt, um den Hauptgewinn, das Wiederaufleben der alten Gefühle, einzustreifen. Eine Komödie über die wahren Lügen, höchst vergnüglich nicht zuletzt durch das formidable Spiel von Joen Do-Yeon und Ha Jung-Woo.
Ein Sommer in Brooklyn: Ivy hat in die Semesterferien Bücher, ihr Handy und ihre Ängste mitgenommen. Die Epileptikerin soll Streß tunlichst vermeinden, zu jenen der emotionalen Art, Also plant sie, sich möglichst in Haus ihrer Mutter lesend einzuigeln, was ihr alter Kumpel Al, dem sie Obdach gibt, erfolgreich verhindert, hofft, dass ihr Handy läutet und Greg, ihr Liebster, der Kilometer entfernt so hart arbeiten muss, sich endlich meldet und befürchtet insgeheim, dass nicht alles so im Lot ist, wie sie sich beständig einredet ...
„The Exploding Girl“ (Regie: Bradley Rust Gray) setzt auf Lakonie und Zwischentöne. Wie Al versucht, die sich verschanzende Ivy aus der Deckung zu locken, dabei stets drei Schritte zurück und bloß einen nach vorn setzend, wie beide einen Dialog im Nicht-Gesagten führen und einander dabei langsam und mit gebotener Vorsicht näher kommen, das ist ein kleines Meisterstück an Subtilität.
Nach dem Tod der Mutter sieht sich Yu mit der plötzlichen Berufung seines Vaters zur Priesterschaft konfrontiert. Als Pfarrer einer kleinen katholischen Gemeinde ist dieser bei seinen Schäfchen wegen seiner freundlichen und aufgeschlossenen Art allseits beliebt. Mit Yaori taucht allerdings ein besonderer Fan auf, der die guten Vorsätze des Mannes der Kirche rasch ins Schwanken bringt. Als sie ihn verlässt, weil er nicht heiraten darf, wechselt Yus Vater zum Alten Testament und hält den Gläubigen Straf- und Angstpredigten. Von Yu verlangt er – zwecks Reinigung – beständigen Beichtgang. Weil dem rasch die Sünden ausgehen und seine Vergehen dem Vater zu minder sind, betätigt er sich schließlich als „Upskirt“-Fotograf, da Sünden mit sexuellem Touch den Vater besonders verärgern ... Bald schon entdecken ihn Mitglieder einer Jugend-Gang und er die Lust an der Übertretung. Zum infantilen Vergnügen, den Mädchen unter die Röcke zu gucken, gesellt sich der dringende Wunsch, die „einzig Richtige“ zu finden. Die taucht in Gestalt von Yoko auch tatsächlich auf und verliebt sich in ihn, doch einer Wette wegen muss er sich ihr verkleidet als „Lady Scorpion“ nähern. So glaubt Yoko, eine Frau zu lieben und Yu muss mit Entsetzen feststellen, dass sie die Stieftochter von Yaori ist, die sein Vater nun doch noch heiraten will. Zu allem Überdruss werden Yu, dessen Vater, Yoko und Yaori auch noch von Yoike, die Anführerin einer Mädchen-Gang und Mitglied der radikalen Zero-Sekte ist, entführt, die ein Auge auf Yu geworfen hat ...
Eine oberflächliche Angelegenheit? Keineswegs. Was Sono Sion mit „Ai no mukidashi“ (Love Exposure) in knapp vier Stunden auf die Leinwand zauberte, zählte zum Vergnüglichsten, Anregendsten und Kurzweiligsten (!) der diesjährigen Berlinale und wurde völlig zu Recht mit dem Caligari-Preis ausgezeichnet. Eine ebenso unentwirrbare wie schlüssige Kombination aus einer Coming-of-Age-Geschichte gemischt mit Reflektionen über religiösen Wahn und „Perversionen“, ergänzt durch „Pulp-Fiction“-Elemente, Phänomene der Jugendkultur, über Imponiergehabe und die Angst, seine wahren Gefühle zu verraten, schließlich, eine große Liebesgeschichte wider alle Schranken. Anspielungsreich in filmgeschichtlicher (die „Lady-Scorpion“ ist als „Sasori“ mit schwarzem Hut und scharfem Samurai-Schwert, verführerisch und bisexuell in die Ikonographie des japanischen Films der siebziger Jahre eingeschrieben) wie gesellschaftspolitscher Hinsicht (mit Anspielungen auf Aum und ähnliche Sekten) beweist „Love Exposure“, wie intelligente Unterhaltung im Kino des 21. Jahrhunderts aussehen könnte.
Der Präsident möchte, dass sein Volk ihm dessen Sorgen berichtet. Man möge ihm mittels Brief hinterbringen, wo der Schuh drückt, er der Oberste, werde sich dann bemühen, den Unteren zu helfen. Zehn Millionen IranerInnen (so denn die offiziellen Angaben stimmen ...) haben Mahmud Ahmadinedschad, dem Präsidenten, schon geschrieben und danach auf Besserung ihrer Lage gehofft. Petr Lom begibt sich in seiner Doku „Letters to the President“ auf die Spuren dieser Legende. Sichtbar wird, abseits der (teilweisen) Verehrung im Lande und der ungeteilten Verteufelung ausserhalb des Landes, ein simpler Populist, angepasst den Bedürfnissen einer Theokratie. Wenn seine AnhängerInnen, die er fast ausschließlich aus der verarmten Landbevölkerung rekrutiert, bei seinen öffentlichen Auftritten allzu konkrete Fragen stellen, folgt stets der Schwenk ins unkonkrete, zur frohen Botschaft der nahen Ankunft des Mahdi. Die persönlichen Audienzen sind längst abgeschafft bzw. an barsche Beamte delegiert, die streng nach Vorschrift Wünsche an den Präsidenten weitergeben, und der sagenhafte Briefverkehr wird von religiösen Wächtern kontrolliert und aussortiert. Kleine Gefälligkeiten werden dann propagandistisch zu grossen Wohltaten aufgeblasen. Im metropolen Bereich nützt das dem eitlen Selbstdarsteller freilich wenig. Hier will ihm keiner einen Brief schreiben, allenfalls des Inhalts, der Präsident möge sie endlich in Ruhe lassen ... Petr Loms „Letters to the President“ entlarvt das staatliche Schwindelunternehmen, zeigt Ahmadinedschad, den Wohltäter, schließlich in einer bezeichnenden Sequenz als Zyniker, als ihm eine Mutter ihren krebskranken Sohn vorstellt und er dieser mit den Worten, so einen starken Jungen werde doch ein lächerliches Geschwür nicht umwerfen, eine kostenlose Wortspende statt der erhofften finanziellen Hilfe für eine Operation verabreicht ...
Hier ist noch Material: Thomas Heise hat gesichtet, was ihm in zwanzig Jahren als filmischer Chronist deutscher Verhältnisse wichtig war und in einer nahezu dreistündigen Versuchsanordnung namens „Material“ zusammengefasst. Da ist von den Vorgängen rund um die „Wende“ 1989 ebenso wie von der Aufregung um Heises Neonazi-Doku „Stau“ und von den unterschiedlich motivierten Kalmierungs-Bemühungen zweier „Go-Betweens“ anlässlich der gewaltsamen Räumung eines besetzten Hauses durch die Polizei und dem Widerstand der autonomen BesetzerInnen die Rede, doch der spannendste Teil betrifft die letzten Jahre der DDR. Fernab einer plakativen Geschichtsaufarbeitung zeigt Heise etwa, wie Fritz Marquardt im Berliner Ensemble Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“ probt und interessiert sich für dessen verzweifelten Versuch um Genauigkeit zwecks Durchschaubarkeit, dokumentiert, wie nach einem Gefangenenaufstand Wachpersonal und gewählter Gefangenenrat den Dialog im Sinne der neuen Zeiten proben oder, wie Betriebs- und andernorts Parteipersonal ihre Forderungen stellen und nicht ab- sondern umbauen wollen ...
Unkommentiert und abseits der Belehrung stellt Heise sein „Material“ aus, frei zur weiteren Bearbeitung durch BetrachterInnen.
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