Berlinale 2008, Teil 1: Forum, Panorama, Perspektive Deutsches Kino
Kurt Hofmann
21.10, Zoo-Palast: Während der Präsentation der Crew des eben gezeigten Films ein unvergesslicher Kino-Moment. Die Moderatorin fragt, angesichts eines plötzlich umgekippten Schauspielers ins Publikum: “Ist ein Arzt im Saal?”. Prompt heben sich ein Dutzend Hände im voll besetzten Auditorium. Wenn der erste von ihnen die Bühne erreicht hat, steht der Angeschlagene zwar längst schon wieder, aber der Vorfall ist zum Höhepunkt des Abends geworden – lebendig gewordene Kinogeschichte nach einem Abend voll der Behauptungen im Dienste der gut gemeinten Sache.
26.02.2008
Zuvor hatte man Lemon Tree (Israel/F/D 2008; Regie: Eran Riklis; Panorama) gegeben, ein Lehrstück über die Resistenz der Witwe Salma Zidane. Deren ganzer Stolz sind ihre Zitronenbäume, die von der israelischen Armee als Sicherheitsrisiko betrachtet und daher gefällt werden sollen. Denn gegenüber, mitten in einem PalästinenserInnendorf in der Westbank, ist der israelische Verteidigungsminister eingezogen. Lemon Tree, very pretty ...: Die Witwe engagiert einen Anwalt, dessen Besuche von den Ortsoberen mißtrauisch registriert werden, die als Moralwächter aktiver sind denn als Unterstützer ihres Anliegens. Die Ministersgattin wiederum sympathisiert mit der durch einen Zaun getrennten und durch Militärpolizisten auf Distanz gehaltenen Nachbarin – alle Figuren stehen für Übergeordnetes und alle sind sie Getriebene, vom Zwang der Verhältnisse Gefangene ... Ein Märchen voll menschlicher Wärme und abzuleitenden Sinnsprüchen. Wie etwa: Mit ein wenig Verständnis und Toleranz könnten alle friedlich nebeneinander leben – but the fruit of the lemon is impossible to eat ...
Wie der antiimperialistische Impetus der bewaffneten Kämpfer der “japanischen RAF” durch Fraktionskämpfe, Eifersüchteleien sowie dem unaufhaltsamen Drang, die jeweils Anderen zur “revolutionären Selbstkritik” zu zwingen, in Selbstzerfleischung mündet, zeigt Wakamatsu Kojis' aufschlußreiche Chronik des Scheiterns United Red Army (Japan 2007; Forum). Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war auch in Japan die Bereitschaft, sich im Untergrund agierenden Stadtguerilleros anzuschließen oder zumindest (wie Regisseuer Wakamatsu Koji) mit ihnen zu sympathisieren, groß. Jene, die tatsächlich die Illegalität wählten, mussten bald erkennen, wie klein der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen sein kann, wenn schon Schminken oder der Verzehr des letzten Keks als schwere Verstöße gegen revolutionäre Verhaltensregelungen begriffen wurden ... Wider besseres Wissen steht die Besserwisserei an der Tagesordnung, die Staatsmacht sammelt die übriggeliebenen Reste der (blutigen) Fraktionskämpfe auf und setzt sie hinter Gitter. Der theoretisch unausweichliche Sieg endet in einer praktisch unvermeidlichen Niederlage ...
Freilich: “Fallen ist nicht weiter schlimm – nur liegenbleiben” wie es eines der "Kinder von Golzow" formuliert, denen sich die Junges in ... dann leben sie noch heute (D 2008; Regie Barbara und Winfried Junge; Forum) ein letztes Mal ausführlich (290 Minuten!) widmen. Beginnend mit dem Portrait einer Grundschulklasse in Golzow/DDR setzen Barbara und Winfried Junge zu einer Langzeit-Beobachtung an: Die Pubertät, der Schritt ins Erwachsenwerden, die in der Schule vermittelten großen Ansprüche und die Mühen der Ebene, wie der Fall der Mauer die Blickwinkel verändert (oder auch nicht) – es entstehen Geschichten entlang deutscher Geschichte abseits des Schwarz-weiß-Denkens und der Kalten-Kriegs-Klischees.
Die späten Interviews über das Zurechtfinden im Niemandsland der nun abverlangten “Flexibilität” und im Nichtmehrgebrauchtwerden, die Neubewertung von einst wie jetzt: “... dann leben sie noch heute” ist der letzte Teil eines weltweit einzigartigen dokumentarischen Projektes, ein lebendiges Monument des langen Atems.
Manche allerdings streben nach spiritueller Erlösung. Wenn da anno 1971 ein höchst irdischer und chronisch schlecht gelaunter Ersatzjesus in Gestalt von Klaus Kinski daherkommt, der noch dazu in seiner Erzählung an Vietnam und die Dritte Welt erinnert und als Perspektive nicht auf das Jenseits verweist, reagieren die potentiellen Jünger, eine seltsame Mischung aus Fundamentalchristen und gewohnheitsmäßigen teach-in-Teilnehmern, sauer und unterbrechen den Propheten. Der jedoch verfällt in Heiligen Zorn, bricht die Performance ab, um später, fortsetzend und neu beginnend, stets mit der Drohung, “diesmal” unwiderruflich nicht wiederzukehren, in eine semireligiöse Endlosschleife einzutreten ...
Kinskis Jesustournee, einem heutigen Publikum ausschnittsweise durch Herzogs “Mein liebster Feind” bekannt, sollte duch viele Städte ziehen und nach Kinskis Willen aufrütteln. Es wäre ein Leichtes, sich über Kinskis Scheitern lustig zu machen. Peter Geyers Jesus Christus Erlöser (D 2007; Panorama) ist an Widersprüchlichkeiten interessiert: wie Kinski, der Jesus als Aufrührer wider die Obrigkeit schildert, schließlich doch nach Saalschutz und Polizei ruft, wie zum anderen ein Publikum sich als unfähig zum Zuhören erweist, jeden eben vollendeten Satz hämisch kommentiert, Kinski in der Folge zwischen Schmerzensmann und zürnendem Gott schwankt ... Schließlich aber schon im Nachspann (der als Nachspann wieder aufgehoben wird und zugleich die Bedeutung des Nachspanns als integraler Teil eines Filmes betont), wie Kinski vor wenigen Vebliebenen mit leiser, aber klarer Stimme noch einmal von vorne beginnt, konzentriert, immer noch hochmotiviert und endlich in die Stille hinein: “Um zwei Uhr früh ist alles zu Ende”, notiert Kinski in seiner Autobiographie ...
Was aber hat Jesus mit der Fußball-WM zu tun? Die US-amerikanischen Evangelikalen, welche alle Sportevents zwecks Missionierung heimsuchen und dabei ihre Filialen in aller Welt aktivieren, finden: alles. Auch wenn der Ball rund und ihre Argumente “unrund” sind, eilen sie, getarnt als freiwillige Helfer, 2006 nach Deutschland, wo sie “religiöses Entwicklungsgebiet” orten und die WM nützen wollen, um regelfeste WM-Fans in bibelfeste Jesus-Fans zu verwandeln. Ein Kunststück, das nicht gelingen kann, auch wenn hier häufig Trottel auf Trottel trifft: “Du mußt doch an etwas glauben!”, so der Missionar. “Ich glaube an Deutschland!”, versetzt der national-euphorische Fan ...
Nebenher erfährt man, dass die Evangelikalen in den USA, wo sie über Millionen Anhänger (darunter US-Präsident Bush) verfügen, den gesamten Rest der Spendengelder von 9/11 eingestreift haben, und da vergeht einem das Lachen über das unbeholfene Scheitern der Fussball-Missionierung.
Jesus liebt dich (D 2007; Regie: Lilian Franck, Michela Kirst, Robert Cibis, Matthias Luthardt; Perspektive Deutsches Kino), ist, nach mehreren TV-Filmen über die internationalen Aktivitäten der Evangelikalen, die erste Kinoarbeit des Regiekollektivs Franck/Kirst/Cibis/Luthard, die den Bestrebungen der Fundamentalchristen, auch in Europa Fuß zu fassen, nachspürt. Man muß kein Prophet sein, um als nächste Station der US-Missionare Wien 2008 zu orten ...
In den Vorstädten von Paris: Jo wird bewundert, weil er es schaffen wird, die Siedlung hinter sich zu lassen, und sein Talent ihm ein Engegement in der Jugendmannschaft von Arsenal verschafft hat. Ab nach London: welch eine Perspektive! Für die anderen, die aussichts- und hoffnungslos in der Banlieue festsitzen, ein weiterer Grund, näher zusammenzurücken. Jungen und Mädchen sind in Cliquen zusammengeschlossen. Gefühle dürfen da nicht preisgegeben werden, die große Klappe geht oft mit großer Angst einher. Julie, die keiner Clique angehört und den anderen als “weiße Prinzessin” gilt, obwohl sie in Wahrheit mit ihrem völlig heruntergekommenen alkoholkranken Vater in einer Substandardwohnung lebt, hat sich, ebenso wie Fatimata in Jo verliebt. Fatimata aktiviert ihre Clique und überfällt Julie, um sie zu verunstalten, für Jo “unbrauchbar” zu machen ...
Eingraben, abschotten: Das Männerbündische wird in der Banlieue ebenso früh eingeübt wie spiegelverkehrt die Mädchenclique Einschränkungen und Zumutungen gemeinsam entgehen will. Audrey Estrougo, welche diesen Teufelskreis aus eigenes Erfahrung kennt, hat die zentralen Sequenzen ihres Filmes aus unterschiedlichen Kameraperspektiven gefilmt und stellt die “weibliche” der “männlichen” Sichtweise gegenüber. Zwei Varianten stehen zur “Auswahl”, beide so starr wie unausweichlich.
Regarde-moi (F 2007; Forum), ein zorniges Erstlingswerk, deutet an, dass es wohl Jahre dauern kann, bis wieder eine/r aus dem Viertel “entdeckt” wird und es unlauter wäre, den Ball an die Jugendlichen zurückzuspielen ...