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Kurt Hofmann

Crossing Europe 2017

02.05.2017

Auch die 14. Ausgabe von „Crossing Europe“ präsentierte ein widerständiges (Film-) Europa abseits der Einheits-Marke „Eurofilm“. Einige der zentralen Filme des diesjährigen Programms wurden hierorts schon in anderen (Festival-)Zusammenhängen besprochen, wie die Locarno-Starter „Der traumhafte Weg“ (Schanalec) und „Godless“ (Petrova) sowie die Berlinale-Teilnehmer „Colo“ (Villaverde) und „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ (Radlmaier)

Was den nachstehend besprochenen Beiträgen von „Crossing Europe“ bei aller Unterschiedlichkeit möglicherweise gemein war: Ein wenig hoffnungsvoller Blick auf dunkle Seiten des „europäischen Traumes“ zum einen, und, wie deren Hauptfiguren sich misslichen Situationen zu entwinden suchen, auf dem „Weg ins Freie“ , zum anderen.

Clovers Rückkehr ins heimatliche Somerset ist allein dem plötzlichen Tod ihres Bruders Harry geschuldet. Das Wort „Selbstmord“ kommt dem störrischen und autoritären Vater nicht über die Lippen, es sei ein „Unfall“ gewesen, sagt er und provoziert Clover, die es besser weiß, dadurch noch mehr. Zu viel Unausgesprochenes liegt zwischen ihr und dem Alten. Was sie zur Zukunft des Hofes, den die Familie seit Generationen betreibt, zu sagen hätte, interessiert diesen ebenso wenig wie die drängenden Fragen Clovers nach den Umständen des Todes von Harry. Der Perspektive der „landflüchtigen“ Studentin und vaterflüchtigen Tochter setzt der unbeugsame Patriarch Verachtung und Schweigen entgegen. Und doch kann der Bauer Aubrey weder ignorieren, dass seine Existenz auf dem Spiel steht, zumal auch staatliche Veterinäre erkranktes Vieh abtransportieren, noch, dass jene, die wieder da wäre, Antworten verlangt, nicht allein den Suizid Harrys betreffend, vielmehr über das Unausgesprochene zwischen Vater und Tochter in all den Jahren. Freilich, die Mauer aus Schuld und Ignoranz bröckelt…

„The Levelling“ (GB 2016; Wb), der Debutfilm von Hope Dickson Leach, setzt sich, ohne es wortreich zu thematisieren, auf die Spuren des „Brexit“. Gut vorstellbar, wie der Landwirt Aubrey abgestimmt hat, der davon ausgegangen ist, dass alles so bleibt, wie es immer war, und weder mit den Direktiven der Behörden noch mit der Tatsache, dass er einer aussterbenden Gattung angehört, als Bauer wie als alleinbestimmendes Familienoberhaupt, zurecht kommt.

Wie „The Levelling“ unaufgeregt und ohne „Zierrat“ eine realistische Erzählweise entwickelt, welche, abseits aller Moden, auf Genauigkeit setzt, falsches Sentiment dabei ebenso vermeidend wie Arroganz gegenüber der (ratlosen) Perspektive seiner zentralen Gestalten, das ist, inmitten einer vielfach auf Ausrufezeichen fixierten Filmlandschaft, zumindest bemerkenswert.

Lisa, Denisa und Vanessa treffen einander Tag für Tag unter einer Autobahnbrücke nahe Bukarest – zu „Arbeitsbeginn“. Jede von ihnen hat noch Wünsche an das Leben, keine von ihnen kann sich diese anders als durch Straßenprostitution erfüllen. So groß ist die Freundschaft wieder nicht, nicht, dass sie ausschließen würde, der jeweils anderen einen Kunden abzuwerben, so klein wollen sie sich von Männern dennoch nicht machen lassen, dass sie abseits des „Business“ ihre Vorstellungen für ein „Danach“ aus den Augen verlieren… Aber, der trostlose Arbeitsplatz im Nirgendwo steht für die zynische Realität des Landes, in dem sie leben, denn selbst das Wenige, das sie auf dem Strich verdienen, wird ihnen noch von korrupten Polizisten abgenommen, die sie auf „freier Strecke“, nackt und ohne Habe aussetzen…

„Vanatoare“ (Prowl; Deutschland 2016; Regie: Alexandra Balteanu; Wb) zeigt den Istzustand eines Europa abseits der Erfolgsmeldungen. Die drei Frauen, denen nichts anderes zu verkaufen bleibt als sich selbst, haben von den „Blühenden Wiesen“, die man denen im ehemaligen Osten als Überschrift versprochen hat, nichts gesehen. Verheißungen aller Art kennen sie bestenfalls aus den soap operas im Fernsehen. Nichts dreht sich, nichts bewegt sich.

Eine Familie, auf engstem Raum lebend. Marijana ist vierundzwanzig, aber immer noch mittendrin im familiären Wahnsinn. Von ihr wird erwartet, dass sie das Geld verdient, mit dem der autoritäre Vater, die stets raunzende Mutter und der geistig behinderte Bruder ihr Leben fristen.

Als Marijanas Vater einen Schlaganfall erleidet, birgt das eine gute und zwei schlechte Nachrichten für diese. Zwar wird sie nun nicht mehr von ihrem außer Gefecht gesetzten Erzeuger tyrannisiert, doch nun muss sie neben ihrer Arbeit im Labor auch noch als Putzfrau arbeiten, um den nervigen Haufen zu ernähren und die Organisation der täglichen (familiären) Abläufe ist jetzt auch ihre Aufgabe… Eigene Bedürfnisse? Ein Leben abseits der Familien-Bande? So weit wagt sich Marijana nicht aus der verhassten Routine. Doch hat sie immerhin für sich eine Art Modell „passiven Widerstands“ erfunden, indem sie etwas mit sich geschehen lässt, das wenigstens durch sie gesteuert wird: bedeutungsloser Sex mit ihr gleichgültigen bis widerwärtigen Unbekannten… Nur leider: die „Ihren“ mitsamt dem zu pflegenden, wenn auch verstummten Vater, verlangen weiter nach ihrer Aufmerksamkeit, der lästige Clan ist über Marijanas gelegentliche Abwesenheit keineswegs erfreut und erwartet deren Rückkehr ins Familiengefängnis. Marijana muss eine Entscheidung treffen…

Naturgemäß wäre es vorstellbar gewesen, die Enge und Tristesse in „Ne Gledaj Mi U Pijat“ (Quit Staring at My Plate; Kroatien/Dänemark 2016; Regie: Hana Jusic; Wb) in der Zeichnung der Hauptfigur „spiegelförmig“ zu berücksichtigen – und so zur filmischen Potenzierung des „Post-Ost-Miefs“ beizutragen. Doch Regisseurin Hana Jusic tappt da nicht in die Klischeefalle, zumal sie mit Mia Petricevic eine idealtypische Hauptdarstellerin gefunden hat. Deren Marijana geht stoisch durch die ihr auferlegten Prüfungen. Sie verweigert die Opferrolle, ohne dabei konsequent zur Täterin, zur aktiv Handelnden, zu werden. Etwas geschehen – zu lassen -, was nicht auf dem Druck ihrer Familie und des „Milieus“ basiert, jedenfalls nicht deren ohnedies verlogenen (und im Film auch der Lächerlichkeit preisgegebenen) Moralbegriffen entspricht, ist nur ein Abwenden und kein Ablösen.

Aber vielleicht gelingt es Marijana ja wenigstens, ihren Standpunkt klarzumachen, dass sie Freiraum braucht, und sich die anderen, insbesondere ihre unselige Familie, gefälligst nicht in ihre Angelegenheiten mischen, denn auf das zielt die im Titel zitierte Redewendung… „Ne Gledaj Mi U Pijat“ wurde – keineswegs unverdient - mit dem Preis als Bester Spielfilm des diesjährigen Wettbewerbs von „Crossing Europe“ ausgezeichnet.

Im Theater: Eine Mauer wird kunstvoll aufgebaut. Kaum ist das Werk vollendet, reißt sie der Spezialist wieder ein. Applaus. Oder: Die Demontage eines Autos, welches der Mechaniker danach wieder zusammenbaut. Erneut Applaus. Und da ist auch noch der Fleischer, der Fleisch zerlegt, um im Anschluss die einzelnen Stücke dem Abfall zu übergeben. Symbolik? Egal. Ovationen.

„Echte“ Arbeitslose arbeiten auf einer Bühne in ihren ehemaligen Berufen nach einem Skript vor sich hin, vom Publikum bestaunt wie die Tiere im Zoo. Wohl nicht zufällig führt keiner der Arbeitsvorgänge zu einem Ziel. Arbeit ist zu einer Zirkusnummer geworden. Wer Geld für eine Theaterkarte hat, dem wird eine Rarität geboten. Jeder Zirkus benötigt Clowns, aber dieser Zirkus besteht nur aus Clowns. Doch ihre Nummern selbst zu erarbeiten, ist den ratlosen Artisten verwehrt, denn eben um dies, die Arbeit, geht es ja, und die wird bekanntermaßen nicht durch die Arbeitenden definiert…

„La Mani Invisibile“ (The Invisible Hand; Spanien 2016; Regie: David Macian; Arbeitswelten) thematisiert anhand einer zynischen Show den Wert der Arbeit im Spätkapitalismus. Ein Spielfilm – ein Spiel, wie jenes im Kasino. Ein Theaterstück- über Arbeit, mit den altbekannten Stichworten wie Entfremdung und Entwürdigung. Diesen Text kennen die Protagonisten auf der Bühne… Wenn in „The Invisible Hand“ die Schau-Spieler, denen von der Regie, der „unsichtbaren Hand“ immer mehr unzumutbares „Entertainment“ zur Ergötzung eines voyeuristischen Publikums abverlangt wird, abbrechen und in eine Konfrontation mit ihren Betrachtern geraten, vermeldet das – zunächst – einen Bühnen - oder Filmschluss, doch, wie heißt es so schön: So, wie es ist, bleibt es nicht…

Vincent, ein ernsthafter junger Mann, erhält auf seine Fragen nach dem leiblichen Vater von seiner alleinerziehenden Mutter keine Antwort. Und doch findet er beim unerlaubten Stöbern in deren Unterlagen einen Namen… Oscar Pormenor ist als Verleger hoch angesehen.

Und da in dessen Umfeld keine Rankings für mitmenschliche Qualitäten gibt, bleibt Pormenors Erfolgsquote auch unbestritten...

Vincent verschafft sich heimlich Zugang zum Büro seines mutmaßlichen Vaters, erlebt, unter dem Schreibtisch versteckt, wie der große Verleger andere manipuliert und ausnützt. Abends taucht Vincent bei einem Bankett zu Ehren eines Literaten auf. Der reifer wirkende Fünfzehnjährige stellt sich dort unter falschem Namen als junger Schriftsteller vor. In einer Welt des Täuschens und Tarnens wird ihm prompt geglaubt, man hält ihn für einen shooting star. Unterwegs trifft Vincent einen, der ihm zuhört und sich mit ihm über alles austauscht: das Leben, die Künste… Vincent ahnt nicht, dass es sich bei diesem Mann um Oscar Pormenors verstoßenen Bruder Joseph handelt…

Eugene Greens „Le Fils de Joseph“ (The Son of Joseph; Frankreich/Belgien 2016; European Panorama) stellt einen jungen Mann mit altem Gemüt in den Mittelpunkt seines neuen Filmes. Vincent scheint wie aus der Welt gefallen, setzt der eitlen Aufgeregtheit eines an Erfolg und Aufmerksamkeit orientierten Universums, dem Gegenwärtigen in Form der ModeschriftstellerInnen, die zur Klientel von Oscar Pormenor zählen, welcher wiederum für Vincent eine mephistophelische Rolle innehat, seine Ernsthaftigkeit, sein Hadern mit der Welt, entgegen. Und entdeckt für seine Sicht biblische Analogien, insbesondere, nachdem er Marie, seiner Mutter, seinen väterlichen Freund Joseph vorgestellt hat… „Le Fils de Joseph“ bricht die stilisierte Sprache , derer sich Vincent bedient, mit Ironie, ohne diesen zu denunzieren. Victor Ezenfis, der Darsteller des Victor, erinnert an den jungen Jean-Pierre Leaud (und das ist nicht die einzige „Verwandtschaft“ mit der Nouvelle Vague in Eugene Greens Film… ) und hat mit Matthieu Amalric als herrliches Ekel Oscar Pormenor einen virtuosen Gegenspieler.

Zwischen genetisch belegten und wahren Vätern, einer bloß behaupteten und einer glückhaft gefundenen Sicht der Welt, der Jetsetexistenz von BestsellerautorInnen und dem Ritt auf einem Esel zu einem unbekannten Ziel pendelt Eugene Greens Film. Er scheut das Pathos nicht, um es jedoch auch ungeniert immer wieder durch Ironie zu brechen. Es ist ein leichter Ton, der die Abenteuer eines „schweren“ Charakters wie Vincent begleitet. Ein halbes Kind, der für sich selbst eine Herausforderung (er)findet, an deren Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln ist. Ein Suchender, den einen Parzival zu nennen, allerdings implizieren würde, dass ein Gral zu finden wäre… „La Fils de Joseph“ ist ein großes Vergnügen für all jene, die die noch Lust am Fabulieren verspüren und sich nicht mit Halbheiten begnügen.