Wie Grenzen überschritten werden
Kurt Hofmann
Zum Filmfestival “Crossing Europe” in Linz 2016
28.04.2016
Auch die dreizehnte Ausgabe von “Crossing Europe” war im Kontrast zum gängigen Eurofilm-Einheitsbrei programmiert. Was hier zu sehen war, verschloss die Augen nicht vor einer auseinanderdriftenden Welt. Eine immer ungleicher werdende Gesellschaft wurde in den Filmen des Festivals ebenso sichtbar wie die schwerpunktmäßige Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Illegalität. Das reichte von der bemerkenswerten Dokumentation „Les Sauteurs“ (Those who jump), in der Abou Sidibé, ein junger Mann aus Mali, seine Mitverschworenen, die „Grenzspringer“, auf ihrem Weg zu den Zäunen, die sie überwinden wollen, mit der Kamera begleitet, wie diese trotz aller Rückschläge nie die Hoffnung auf eine erfolgreiche Überwindung der schier unübertrefflichen Barrieren verlieren, bis zu „Det Vita Folket“ (White People), einem Spielfilm, in dem Staatenlose ohne Dokumente in einem unterirdischen Gefängnis der drohenden Deportation mit allen Mitteln entgehen wollen. Sie sind die „Guten“, doch sie bedienen sich aller möglichen schmutzigen Tricks, denn die bürgerliche Moral hat ausgedient in Zeiten eines schonungslosen „Aussortierens“ von Menschen trotz stetiger Beteuerung der Bewahrung humanistischer Grundwerte… Das diesjährige Programm von „Crossing Europe“ zeigt ein Europa am Wendepunkt. Und: jene, die „trotz alledem“ nicht aufgeben…
In einer nicht allzu fernen Zukunft: Die Illusion Europa ist ausgeträumt, die Infrastruktur allerorten zusammengebrochen, wer sich einst, im „reichen Norden“, so sicher wähnte wie in einer unangreifbaren „Festung“, ist jetzt auch auf der Flucht…
In „Brak“ (Fallow; Belgien 2015; Regie Laurent Van Lancker; WB) wird vor der Kulisse eines „realen“ (verlassenen) Flüchtlingscamps ein düsteres Endzeitdrama verhandelt. Eine Küstenstadt: glücklich, wer Bescheid weiß, wann (und vor allem: von wo) das nächste rettende Boot den Hafen verlässt… Die Hauptfigur, ein namenloser Mann – in mittleren Jahren - ein Fremder, ist auf der Suche. Nach: Geld, Kontakten, Informationen… Doch die verbliebenen BewohnerInnen sind verschlossen. Einige von ihnen huldigen einem seltsamen Kult, andere betreiben Tauschhandel, denn Bares ist zur misstrauisch bestaunten Rarität geworden…
Der Fremde begegnet in einer Seitengasse einer Frau, die ihren Körper verkauft. Kein Geschäft wie jedes andere, denn sie zieht ihn in ihren Bann. Ein Ladenbesitzer, der mit allen und allem Handel treibt, bietet dem Fremden, welcher sich, so vermeint er, durch eine Geste als einer der „Auserwählten“ offenbart hat (was sich herumspricht...), seine Hilfe an. Er wird an einen Kontaktmann verwiesen, der die Überfahrten organisiert. Was dem Fremden auf die geforderte Summe fehlt, soll die Frau, die er besucht, als Geisel des Fährmanns ausgleichen… Wird der Fremde sie davon überzeugen können, unter diesen Voraussetzungen mit ihm zu kommen?
„Brak“ ist ein Erstlingsfilm, doch voller Raffinesse und stets „mit doppeltem Boden“ operierend. Keine der Figuren ist genau definiert. Der Fremde scheint ein Verzweifelter zu sein und bestreitet vehement, zu den „Auserwählten zu gehören, doch man beobachtet ihn, wie er durchs (über das?) Wasser geht – den anderen voran? Oder ist es doch nur eine Wunschprojektion der Ortsbewohner, die einen messianischen Anführer suchen? Die Frau wiederum scheint ebenso berechnend wie magisch vom Fremden angezogen. Offenbart sich ihre „wahre Natur“? Und im Laden des Händlers wird (ein)geschätzt, was (noch) Wert hat und – für wen… „Brak“ ist Science Fiction und nicht futurologische Voraussage, doch es liegt im Wesen dieses Genres, die Realität weiterzudenken. Laurent Van Lancker erzählt in „Brak“ über sich auflösende Gewissheiten. Das Kasino ist geschlossen, nichts geht mehr, Rien ne va plus…
Thies kennt die Regeln, mehr noch, er bestimmt sie (mit). Wer in Neukölln eine Wohnung haben möchte, muss ihm, Agent einer Immobilienverwaltung, erst erklären, wie er/sie das anstellen will. Nachweise müssen erbracht, Vorstellungstermine, die Castings ähneln, durchgehalten werden. Danach wird von Thies eine Liste erstellt., das Reihen und Streichen übernimmt er. Bis ihm Bruno über den Weg läuft. Der hat sich um eine Wohnung bei Thies beworben, Sicherheiten hat er keine anzubieten. Doch er hat beobachtet, wie Thies ihn voller Begehren gemustert hat, und jetzt macht er dem ein Angebot… Thies und Bruno werden ein Paar. Da ist aber auch noch Sonja, die Schwester von Bruno. Die beiden sind unzertrennlich und erhalten von Thies kostenfrei eine Wohnung in einem leerstehenden, von der Immobilienfirma zu verkaufenden Haus… Was Thies da unternimmt, ist nicht nur eine Vermittlung „unter der Hand“, es ist illegal, wie der Status von Bruno und Sonja, die aus Weißrussland stammen und in Berlin leben (wollen), selbstverständlich und ohne Nachfragen… Sonja ist, wie der eifersüchtige Thies zu Recht vermutet, nicht Brunos Schwester (nur: gewissermaßen…), doch Thies ist auch nicht mehr der rücksichtslose Agent des Kapitals, er spielt ihn nur mehr, seit ihm Bruno über den Weg gelaufen ist…
Was ist legal, was illegal, wie illegal schließlich sind die Regeln des „Legalen“? Damit beschäftigt sich Jan Krüger in „Die Geschwister“(Deutschland 2016; European Panorama/Fiction) – unter anderem. Aber auch damit, was man dem/der Anderen schuldig ist, abseits der moralischen und ökonomischen Dimensionen von Schuld. Und: wie wichtig der Moment ist, ungeachtet aller Notwendigkeiten…
„Uns geht es gut“ (Deutschland 2015; Regie Henri Steinmetz; WB): das behauptet die Clique rund um Tubbie, Tim, Jojo, Birdie und Marie von sich, vollmundig, wie sonst. „Eigentlich“ gehören sie nicht dazu, wollen sich nirgends einreihen, keinen Ansprüchen genügen, bloß ihren eigenen. In ihrem Reich geht die Sonne nicht unter, blöd nur, dass es außerhalb des Quintetts keine/r (aner-) kennt… Sie spenden täglich-einander-Worte und beschenken einander danach mit Ketten – aus Assoziationen… Sie wollen nur spielen: dass es dabei nicht bleibt, dafür sorgt ihr latent aggressiver Anführer Tubbie. Er liebt sie doch alle, nur manchmal klingt das wie das Zitat aus Mielkes letzter Rede… Doch Tubbie schlägt nicht zu: zumindest nicht gegen eine/n der Seinen: Als er einen Freund bestrafen will, läutet er an der Tür eines Unbekannten. Was darauf folgt, ist eine der gewalttätigsten Szenen im neueren europäischen Film – aber, es ist ein Akt stellvertretender Gewalt, und nachdem Tubbie dabei einen ihm völlig fremden, hilflosen, alten Mann brutal zusammengeschlagen hat, liebkost er ihn – denn es ist ja „eigentlich“ sein Kumpel, dem er da „stattdessen“ wehgetan hat, ohne diesen jemals anzurühren… Eine (in doppeltem Sinne) bedenkliche Szene, die an Intensität kaum überbietbar ist…
„Uns geht es gut“ beobachtet das seltsame Phänomen von in Plural gesetztem Autismus. Man kann es aber auch so formulieren: in einer auf Egoismus und Interessen basierenden Gesellschaft ist für Außenseiter kein Platz. Das zeigt der Haneke-Schüler Henri Steinmetz, als er einen Teil der Clique durch einen blinden Spiegel auf eine Party der Reichen und Mächtigen starren lässt – sie sehen zu, doch werden nicht gesehen. Ein anderer, kleinerer Teil der Gruppe hat sich „unter’s Volk“ gemischt – orientierungslos, wie Wanderer in der Wildnis…
René ist Häftling: und das ist, völlig unzynisch, bei ihm als Berufsbezeichnung zu verstehen. Über zwanzig Jahre hat Helena Třeštíková in „René“ (Tschechische Republik; 2008; Tribute to Helena Třeštíková diesen René mit der Kamera begleitet und ihn stets in einer Zelle wieder gefunden. Diesen Ort empfindet er, der als „Häfenliterat“ in der Haft einen Roman über sein Leben schreibt und damit Beachtung findet, durchaus als seinen Lebensmittelpunkt. Helena Třeštíková illustriert das mittels eines in der Zelle aufgestellten Fernsehgerätes – wie über die Jahrzehnte im tschechischen Fernsehen die Angelobungen von Präsidenten gezeigt und mit diesen ewig gleichen Zeremonien auch symbolisch Zeitenwenden durch Personen (etwa bei Havels Angelobung nach der „Wende“ in Tschechien) dargestellt werden - für René ist das alles ein historischer Einheitsbrei. Nur er ist sich selbst von Interesse. Wenn er in Freiheit ist, hat er einen Plan, und der bringt ihn zielgerecht zurück in seine Zelle… René ist, anders als die drogensüchtige „Mallory“ (Tschechische Republik 2015; Regie Helena Třeštíková; Tribute to Helena Třeštíková) die es nach dreizehn (stets durch Třeštíkovás Kamera begleiteten) Jahren schafft, eine Ausbildung zur Therapeutin und Sozialarbeiterin zu absolvieren, und Energie(n) für sich selbst „umzuleiten“, nicht resozialisierbar, doch sehr wohl in der Lage, über sich zu reflektieren. Kurz in Freiheit, bestiehlt er Třeštíková, doch auch sie, meint er, habe sich bei ihm bedient, indem sie seine Geschichte für sich ausgebeutet habe wie ein Vampir…
Auf einer Anhöhe außerhalb einer Kleinstadt lebt eine Familie: Mutter, Vater, Sohn. Der Vater ist geschickt im Reparieren von Dingen, freilich ist es meist nur brotlose Kunst, die er betreibt. Also trifft es die Mutter, die Familie zu ernähren. Sie wäscht für umliegende Hotels die Wäsche, der – fast erwachsene – Sohn hilft ihr dabei (widerwillig). Doch es gibt ein wesentliches Problem, das diesen Job erschwert: die Wasserzufuhr reißt immer wieder ab. Ankommt ein Wahrsager und Brunnengräber, im Schlepptau seine halbwüchsige Tochter, welche die Kunst des Pendelns beherrscht. Sie graben einen Brunnen, misstrauisch beäugt von der Mutter, die an den Hokuspokus nicht so recht glauben will… Aber der Sohn ist fasziniert von dem rothaarigen, etwa gleichaltrigen Wesen, das da eingetroffen ist. So, als hätte ihm eine gute Fee alle Wünsche auf einmal erfüllt, indem sie ihm dieses verspielte und bisweilen auch ein wenig boshafte Mädchen geschickt hat, findet er plötzlich Gefallen am öden Fleck, wo er seit Kindheit an lebt, und ist auch vollkommen überzeugt von den Fähigkeiten der Pendlerin, die doch hier mehr finden möge als Wasser…
„Jajda“ (Thirst; Bulgarien 2015; Regie: Svetla Tsotsorkova; WB) ist vieles: ein Märchen, eine coming-of-age-Geschichte, eine Erzählung über den „Durst“ nach Mehr, der auch die „Alten“, die sich in die/den „Falschen“ verlieben, ergreift, vor allem aber gelingt es Tsotsorkova mit einfachsten Mitteln, die kompliziertesten Gefühle zu beschreiben. Sie hat für „Jajda“ eine Art magischen Realismus gefunden, der es ermöglicht, mit einer Geste mehrere Bedeutungsebenen zu erschließen – filmische Wünschelrutenkunst. Die Darstellerin der Mutter erinnert mit ihrem in sich ruhenden Spiel an die Weigel, überhaupt wird vieles „vorgeführt“, und das Märchen trifft auf das Epische Theater. So eine schöne und auch höchst komödiantische Geschichte (mit einem etwas aufgesetzten Schluss), angesiedelt dort, wo „die Füchse einander gute Nacht sagen“: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…