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Alles oder nichts – Berlinale 2013: Forum, Panorama, Retro

Kurt Hofmann

Wie das Spiel in Ernst überkippt. Wie dem Spiel der Ernst stets innewohnt. Wie mit Gefühlen gespielt wird, so lange, bis sie ernst genommen werden müssen. Ob im Dschungel der Städte, ob im Labyrinth des Privaten: der Einsatz wird abverlangt, die Wette muss getätigt werden - so erzählen es Filme der Berlinale abseits des allgegenwärtigen Wettbewerbs.

11.03.2013

Griechenland, im Zeichen der Krise: In den Straßen wird gegen die ungleich verteilte Last protestiert. So, wie die Demonstranten die Verursacher der Krise kennen, weiß auch die vierzehnjährige Myrte,  wer  die väterliche Schreinerei in den Ruin  getrieben hat. Zwar  kann  sie den Vater  nicht danach fragen,  denn  jener  ist zu ihrem großen  Kummer  spurlos verschwunden und keiner hat ein  Lebenszeichen von ihm  erhalten.  Aber es gibt einen  Schuldigen, dessen Geschäftspartner, welcher ihn,  davon ist Myrte  überzeugt, betrogen hat. Einst waren die Familien befreundet, und so findet auch der  achtjährige Aggelos,  der Sohn des  „Verdächtigen“  nichts dabei, Myrte  nach der Schule zu begleiten. Diese führt Aggelos in die verlassene Werkstatt. Dort kennt sie jeden Winkel, ist Stolz darauf,  Fichte, Eiche und  Ebenholz unterscheiden  und einfache Schreinerarbeiten durchführen  zu können. Noch glaubt  Aggelos an ein  Spiel mit Ablaufdatum, als Myrte ihn  in einen  abgelegenen Raum führt, freilich begreift das  Kind  nach und nach,  dass  es eine Geisel ist, ohne  zu verstehen, weshalb. Aber  auch die vierzehnjährige Kidnapperin kann  zunächst  nicht über  den Tag  hinaus  denken.  Der Plan, die Übergabebedingungen: all dies muss erst  durchdacht und formuliert werden, zunächst ist Improvisation  angesagt. Sie genießt es, die Familie ihres Feindes  in  Verzweiflung zu sehen  und  hält ihr  kindliches Opfer  zwischen  Hoffnung und Angst…

I  Kori“ (The Daughter; Griechenland/Italien  2012;  Regie Thanos Anastopoulos; Forum) zeichnet  das  Porträt eines  Mädchens,  das  den Schmerz über den Verlust des Vaters in  Wut umwandelt, nicht zufällig inmitten eines  von Zorn erfüllten Landes. Über die Konsequenzen ihres Tuns denkt  sie ebenso wenig nach wie über die  Gefühle  ihres achtjährigen  „Pfandes“.

Myrte, eine  pubertierende Kohlhaas, will Gerechtigkeit für ihren Vater. Nicht überlegend, doch mit vollem Ernst, ohnmächtig in ihrer Empörung über  die Ungerechtigkeit,  reiht sie sich bei jenen  ein, die Antworten verlangen.

Wie überleben  im  Ghetto, wo es keine Arbeit und  auch keine Zukunft gibt? Hast du dort  einen Job, der  dich nicht über Wasser  hält, benötigst du einen  zweiten, vorzugsweise illegalen. Tony  ist  Zigarettenhändler und Zocker, seine Schwester Ange Friseurlehrling und Teilzeitprostituierte.  Von ihren „Zweitjobs“  erzählen die beiden Mike, dem älteren  Bruder  nichts, denn  er  ist  als fixangestellter  Polizist der einzige, der sich eine Moral  leisten kann. Als Beschützer seiner Schwester sticht Tony einen  Freier  Anges  nieder, den diese um  sein Handy  gebracht hat. Da liegt einer in  seinem  Blut und  keiner in Wassakara,  dem Armenviertel von Abidjan, der größten Stadt der Elfenbeinküste, hat  etwas  gesehen  oder gehört… Naturgemäß kann das  nicht gut enden, wie soll auch ein  Underdog wie Tony den  Kopf im  letzten Augenblick  aus  der Schlinge ziehen oder  gar  den Jackpot knacken, aber irgendwie scheinen sie alle in Wassakara den alten Achternbusch-Spruch zu kennen: „Du hast keine  Chance, aber nütze sie!“

In  „Burn It Up Djassa“ (Elfenbeinküste/Frankreich 2012; Panorama) herrscht nicht  nur durch die Handkamera stets Bewegung. Dafür  sorgt  schon  der Erzähler, der  durch  die Handlung führt und Stillhalten  für ein Fremdwort hält. Tanzend, slammend, gestikulierend, ist er ein zeitgenössischer Nachfolger der Griots, der  europäische Zuschauer  fühlt  sich  dabei von ferne  auch an das epische Theater Brechts erinnert. Lonesome Solo nennt sich der Regisseur von „Burn  It Up Djassa“ und der (Künstler-) Name ist offenkundig Programm… Mit minimalem Budget gedreht, einem gemischten  No-Name-Ensemble aus Laien  und Profis vertrauend, knapp  vor Ausbruch des Bürgerkrieges  fertiggestellt, ist  das  Erstlingswerk dieses  - noch - unbekannten  Filmemachers  schon vielversprechend  zu nennen.

„Burn It  Up  Djassa“ atmet den Rhythmus der Stadt. Ein vor Lebendigkeit pulsierender Film abseits der  tradierten Formen des afrikanischen  Kinos.  Zugleich ist „Burn It Up Djassa“ aber auch ein wichtiges  Statement einer  neuen, urban geprägten Generation  afrikanischer  Filmemacher.

Pavel Sergevitch ist  der Besitzer einer Stahlfabrik und  möchte gerne ein „echter“ Kapitalist sein, so einer,  wie er sie aus den US-Serien im Kabelfernsehen kennt. Den deutschen  Investoren, deren Besuch er sehnlichst erwartet, will er sich auch als Kunstkenner  präsentieren. Doch der Erwerb zeitgenössischer Werke kann  aus seiner Sicht  nur  durch Kündigungen im  Werk  finanziert werden…  In der  Fabrik hingegen ist nicht nur das  Kantinenessen, sondern auch das Klima  verdorben. Festgelegte Arbeitszeiten, sichere  Arbeitsbedingungen: all dies gibt es längst  nicht mehr. Da die offizielle Gewerkschaft auf der Lohnliste von Pavel Sergevitch steht, planen einige Aktivisten im Betrieb die Gründung einer  unabhängigen Gewerkschaft.  Das ist leichter gesagt als getan, denn es  hapert nicht  nur am Wissen um  das  Organisatorische, sondern auch jenem  um  das  Begriffliche. Was ist das, ein Streik,  was  heißt das, Solidarität?  Pavel Sergevitch ahnt in  seinem  protzigen Büro nichts  davon,  was  seine  Arbeiter da  aushecken, und als er es erfährt, will er ein  Exempel statuieren…

Svetlana Baskovas „Za  Marksa...“ (For Marx…; Rußland 2012;  Forum) betrachtet die Protagonisten dieses Films mit  einem  sarkastischen Blick. Da sind  die Arbeiter, bemüht,  ihre Defizite in  Theorie und Praxis in kürzestmöglicher Zeit aufzuarbeiten. Ein Arbeiterfilmclub wird  gegründet,  man  entdeckt und diskutiert Godard. Die Lektüre Brechts wird ebenso empfohlen wie jene  Gogols und im  Internet wird man gar  auf die Thesen des  Historikers  Pokrovsky, der  die Geschichte Russlands als eine der  Klassenkämpfe  erzählt, aufmerksam… Und  da ist Pavel  Sergevitch,  ein Funktionär mit  neureicher  Mentalität, der gerne  ein  allseits bewunderter toller Hecht wäre…  Nur  leider: fehlt es  den einen an verschütteten Wissen und  ist die geplante  Aktion schwierig, weil  manche im autoritär geprägten Russland schon  mit dem  Nein-Sagen  schon Schwierigkeiten haben, so kennt der andere statt Raffinesse nur stumpfe Gewalt… Was wunder, dass am  Ende nicht Godard, sondern der klassische Western obsiegt: ein Showdown Mann  gegen  Mann steht an, der  nichts lösen  wird…

Das Ganze eine  Komödie: Über vergebliches  Hoffen  und  eitle  Selbstdarstellung im Russland dieser Tage. Aber auch die Perspektive, dass es irgendwann die Gier sein wird,  die man  am  Ende auslacht…

Im Amsterdam  der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts: als  dem ehrlichen Bankboten  Brand 50000  englische  Pfund ohne Schuld abhanden kommen, wird  er gekündigt und  ist in  seiner Existenz bedroht. Doch die Bank ist riskanter  Geldgeschäfte wegen insolvent, will jedoch nach außen  hin den Schein  wahren, um  sich neu  aufstellen zu können.  Also sucht man einen gutgläubigen Toren,  welcher,  nach außen  hin,  als Galionsfigur  im Sinne von „einer  von uns“,  vermitteln  kann,  es  wäre noch Geld  vorhanden,  findet  ihn in  Brand und ernennt den  eben Geschassten zum „Direktor“…

Komedie  Om  Geld“  (Komödie ums Geld; Retro), 1936  von Max Ophüls im  niederländischen Exil gedreht,  wirkt, mit  all  seinen  Finten und überraschenden Wendungen, vorführend das Abstaubertum  frecher  Spekulanten, wie ein  aktueller Kommentar zur Welt  des  „Anything goes“.  Ophüls  zeigt  aber auch,  wie Brands bester  Freund,  ein kleiner  Gauner, mit seinen Betrügereien nichts  ist gegen die geplanten  Coups der  Geldverzocker.  Mit  leichter Hand inszeniert, ist „Komedie Om Geld“ ein  wieder entdecktes Meisterwerk eines  großen Regisseurs.

Mele  trifft  ihren Freund Romuald nicht  an,  als sie vor dessen Villa in Südfrankreich steht. Er sei aus wichtigen  Gründen  abgereist, heißt es, Romualds Kinder, die  12jährige Emma und  der 16jährige  Felix sehen sie als Alien,  fremd  allemal, vielleicht auch outer  space. Doch Merle, die hier an  ihrem  Roman  weiterschreiben  will,  tut so,  als gehöre  sie zum  Interieur. Emmas 13. Geburtstag naht: Merle überzeugt  den Bäcker des  Ortes, die Torte trotz Sperrstunde und Geldmangel  herauszugeben. Das  imponiert den Kids, erst  recht, als  diese  nicht  mit  dem  ignoranten Vater  am  Telefon sprechen wollen  und  Merle die beiden auf  Wunsch verleugnet… Irgendwann wird  Merle  die Nachbarn ins  Haus  lassen, als  diese  bei einem  Unwetter Einlass begehren, und  bald schon bei allen  den Eindruck hinterlassen, sie gehöre  dazu…

„Ich weiß nicht, /wohin ich gehöre,/ich glaub’,/ich gehöre/ nur  mir ganz  allein“ sang einst  Marlene Dietrich. Die Merle in  Nicolas  Wackerbarths „Halbschatten“ (D/F  2013; Forum) ist so eine,  die sich nicht durch Dritte irritieren, sondern  durch ihre Intuition  leiten  läßt. Etwas offen zu lassen,  sich stets den Fluchtraum freihaltend:  so laviert sich Merle durch die Fallstricke des  Lebens…  Ein Film  der  „Berliner  Schule“, so lakonisch  wie souverän? Vielleicht, auch wenn man  mit  derlei Etikettierungen vorsichtig sein  sollte. Jedenfalls ist Wackerbarth  nicht zuletzt  dank der idealtypischen Besetzung der  Merle  mit Anne Ratte-Polle, die Skizze einer  unbeirrbaren Individualistin, die sich nicht durch andere  definieren läßt, gelungen.

Sie zeigt sich wieder,  nachdem  sie ihn einst zurückgewiesen hatte.  Er weiß nicht,  was  er  davon halten soll,  dass sie nun  wieder  einen Platz in  seinem Leben beansprucht, ohne  deutlich zu machen,  welchen. Ein  Spiel: Sie greift  ihn  körperlich an, ein  Kräftemessen beginnt, das  von  Mal zu  Mal heftiger und zunehmend erotisch aufgeladen wird…

Die Zähmung der  (Plural!) Widerspenstigen. Zwei namenlose Figuren in  Jacques Doillons neuem Film  „Mes séances de  Lutte“ (Love  Battles;F 2013; Panorama) kämpfen um  Dominanz, wollen sich ausagieren. Vielleicht stimmt  seine  Vermutung, dass  sie die Zurückweisungen des  eben  verstorbenen  Vaters „stellvertretend“ in ihren  wütenden Angriffen gegen ihn verarbeiten will,  vielleicht auch  die ihre,  dass er nur  in  dieser  Konstellation  seinen Kokon  verlassen  kann und  muss.  Aber beide  sind  sie magisch von  einander  angezogen, ohne  es sich einzugestehen.  Sie erfinden ein  schmerzhaftes  Verfahren, dass ihnen  dabei hilft, mehr  über  einander  herauszufinden…

Eine  verlassene Stadt, einst  als Ölmetropole  geplant,  jetzt als Umweltverbrechen sichtbar.  Nicht fertiggestellte Häuser. Auf einem  Sockel eine  selbsternannte Säulenheilige,  die patriotische Lieder  singt. Der  Niedergang  der Ölstadt  Yumen wird  aus dem  Off  ironisch kontrastiert. Glanz und  Elend der  gigantomanischen  Bauvorhaben in  China.  Keine  Auferstehung  in Ruinen. „Gespenstergeschichten“ in gespenstischem Ambiente.

Yumen“ (USA/VR  China  2012; Regie: J.P.Sniadecki,  Hung Xiang,  Xu Ruotao;  Forum Expanded)  nähert  sich dem  Kontrast zwischen Anspruch und  Realität in  China (und  anderswo) in  spielerischer  Weise:  mit Spatzen  auf  Kanonen.