Alles in allem
Kurt Hofmann
Berlinale/2: Wettbewerb
21.02.2019
Dieter Kosslicks letztes Jahr als Berlinale-Leiter ist vorbei. Manch kritische Anmerkung wurde durch viele für Kosslick ausgerichtete Abschiedsfeiern (und an allen nahm er auch teil) „wieder gutgemacht“ …
Aber jetzt lassen wir es mal wieder gut sein: Auch der finale von Kosslick ausgerichtete Wettbewerb stand im Zeichen vieler Beiträge „gehobenen Mittelmaßes“ und weniger herausragender Arbeiten. Alles in allem war es aber keinesfalls das schlechteste Jahr der Ära Kosslick. Nächstes Jahr wird dann einiges umgekrempelt und zugeschärft: das lassen zumindest die bisherigen Erfahrungen mit dem Kosslick-Nachfolger Carlo Chatrian in Locarno hoffen…
Petrunja ist Historikerin, sie hat ihr Studium mit Bestnote abgeschlossen, und gilt in ihrer Familie dennoch als Versagerin, denn sie ist 32 und hat noch immer weder einen Job noch einen Mann. Beides gilt in Mazedonien als Fehlentwicklung. Gut ausgebildet: Na und? Gut versorgt, so oder so: Das zählt! Geistige Werte finden in Mazedonien nur Anerkennung, wenn sie spirituelle Werte sind. Obacht, wenn der Pope spricht! An der Prozession anlässlich des Dreikönigstags nehmen viele junge Männer teil, denn an deren Ende gibt es etwas zu gewinnen. Da wirft der Priester ein kleines Kreuz ins Wasser und wer es als erster erhascht, hat das Glück gepachtet… Kaum ist es soweit, springen dutzende junge Männer, nun mit nacktem Oberkörper, ins Wasser, doch das Kreuz wird von Petrunja gefangen – da war doch diese voluminöse junge Frau, die mit einem großen Plantsch behende das begehrte religiöse Utensil ergattert hat, schneller als die sportlichen Religions-Wettkämpfer! Petrunja will das Kreuz nicht hergeben, obgleich sie als Frau von solchen Bräuchen ja „eigentlich“ ausgeschlossen sei und pocht auf ihr Recht als Gewinnerin…
Schon ist Feuer am Dach und auch die von zahlreichen Korruptionsaffären angeschlagenen mazedonischen Politiker wittern ihre Chance, mit dem „Religionsskandal“ ablenken zu können. Petrunja wird festgenommen, obwohl sich in den mazedonischen Gesetzen kein Paragraph findet, der eine Anhaltung Petrunjas rechtfertigen würde…
Vor der Polizeistation finden sich zum einen eine wütende Menschenmenge, die Petrunjas Auslieferung verlangt, zum anderen ein Fernsehteam ein, angeführt von einer Reporterin, die sich, weniger aus feministischen Erwägungen, mehr aus Karrieregründen, auf Petrunjas Seite schlägt. Auch Petrunjas Eltern werden interviewt und nützen die Gelegenheit… Teona Struga Mitevska hat mit „God exists, her Name is Petrunja“ jedenfalls den Film mit dem originellsten Titel gedreht. Diese Satire auf religiösen Wahn und Machotum funktioniert nicht zuletzt dank ihrer umwerfenden Hauptdarstellerin Zorica Nusheva, die als Petrunja ebenso wortgewaltig wie originell „ewige Gewissheiten“ in Frage stellt. Eine wie Petrunja lässt sich nicht einschüchtern, weder von der Polizei, noch von der Kirche und Politik, das macht Nusheva durch ihre Körpersprache wie durch ihre Mimik stets deutlich… Und den Eltern, bei denen sie immer noch wohnt, hört sie zu, um dann das Gegenteil zu unternehmen… Diese Petrunja ist eine Naturgewalt, die das Wasser ebenso wie die Meinungen teilt. Und – wie der ironische Titel suggeriert, vielleicht auch eine Göttin? Warum nicht – Petrunja hätte in einem Göttinnen-Casting wohl die besten Chancen…
Was ist ein „Systemsprenger“? So nennt man Kinder, die in kein Erziehungsraster passen und sich allem verweigern. Die neunjährige Benni ist so eine Rebellin mit einem Knacks. Sie wird von Heim zu Heim abgeschoben. Wenn sie die Medikamente nicht beruhigen, ist die Zwischenstation stets die Kinderpsychiatrie. Bennis schlimmstes Schimpfwort lautet „Erzieher!“ So nennt sie alle, die sie eingrenzen wollen. Eigentlich sehnt sie sich nach Zuwendung, aber das Problem ist, dass sie uneingeschränkte Aufmerksamkeit erwartet. Naturgemäß ist ihr auch die Schule, wo sie von den anderen Kindern gemobbt wird, verhasst, also kommt der Neue im Heim, der sich Schulbegleiter nennt und von ihr konsequent „Erzieher!“ tituliert wird, bei Benni zunächst nicht gut an. Doch der (Typ: Manfred Krug) lässt sich von der schreienden und tobenden Benni nicht beeindrucken und macht der angesichts der „Systemsprengerin“ ratlosen Heimleitung einen Vorschlag: Er will mit Benni für drei Wochen in einer Waldhütte „überleben“. Bald schon ist die skeptische Benni, eine Ausreißerin von Gnaden, überzeugt. Auch wenn ihr der lässige Erwachsene stets Kontra gibt, wenn sie bockt, wird sie ernstgenommen und lernt auch, in der Pampa, wie man Widerstände überwindet, ohne hysterisch schreiend aufzugeben… Leider gefällt Benni der Ausflug zu gut, und auch, dass der Schulbegleiter, von ihr als neuer Vater ausersehen, selbst eine Familie hat, kann sie nicht akzeptieren…
Nora Fingerscheidts „Systemsprenger“ hat außer Empathie auch keine Lösung für eine wie Benni - und das ist gut so. Dass es im Fall eines schwierigen Kindes besser ist, Ratlosigkeit zuzugeben und eben zu improvisieren, als „entgültige“, stets repressive Lösungen zu präsentieren, das macht Fingerscheidsts Film ebenso deutlich wie er auch für das immer neue Nachdenken über eine wie Benni und wie ihr zu helfen sei, plädiert. Denn nicht, ob „Problem“-Kinder eine Gefahr für das (Erziehungs-)System sind, ist die offene Frage, vielmehr ist es jene nach den starren Regeln des „Systems“, die allemal zu sprengen wären…
Das Dorf Irénée-les Neiges im winterlichen Quebec: leere Bauernhöfe, verlassene Häuser, gerade eben noch 215 EinwohnerInnen. Offenkundig gibt es hier ein Infrastruktur-Problem, doch die DörflerInnen, allen voran die umtriebige Bürgermeisterin, bestreiten das. Als der junge Simon stirbt, entsteht ein neues Tabu: obwohl er offenkundig Selbstmord begangen hat, wird sein Tod als Unfall protokolliert. Als die Bezirksverwaltung in Form einer Seelsorgerin psychologische Hilfe für Angehörige und FreundInnen Simons schickt, wird diese von der Bürgermeisterin unmissverständlich hinauskomplementiert. Traumata seien hierorts nicht vorhanden und wer Probleme habe, könne sich ja an sie wenden. Plötzlich tauchen kleine, maskierte Menschen mit Mützen und Ponchos im Dorf auf, um, nachdem sie gesichtet wurden, wieder zu verschwinden. Auch Simon scheint wieder zu Leben erwacht…
Wenn in „Ghost Town Anthology“ im zweiten Teil des Films von Denis Coté die Toten unmissverständlich zurückgekehrt sind, so hat dies wenig mit Mystery oder anderen esoterischen (Film-)Übungen zu tun. „Ghost Town Anthologie“ ist vielmehr ein Lehrstück über Verdrängung und deren Folgen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird ignoriert, dass der Ort längst schon eine Art „Geisterstadt“ (mit kleineren Dimensionen) ist, verlassen und voller Probleme. Erst die wiedergekehrten Toten lassen durch ihre Präsenz keinen Rückzug auf die verordneten Notlügen mehr zu…
Nackt und bloß kommen wir zur Welt. Yoav, für den die Übersiedlung nach Paris einer Wiedergeburt gleicht, hat sich allerdings nicht vorgestellt, seine Grundidee gleich so wortwörtlich durchleben zu müssen. Als er in einer – zwar nicht ihm gehörenden, doch leeren - Wohnung ein Bad nimmt, werden ihm prompt seine Kleider ebenso wie seine übrige Habe gestohlen. Der nackte Yoav ruft vergeblich um Hilfe, auch sein Läuten an allen Türen wird scheinbar nicht gehört.
Bis … sich ein junges, begütertes Paar seiner annimmt … Yoav entdeckt rasch, dass sich seine neuen Freunde im Austausch für Gefälligkeiten und eine Wohngelegenheit von ihm Geschichten erwarten, denn Yoav ist ein begnadeter Erzähler. Er berichtet den Beiden von seiner Zeit beim israelischen Militär und seinen „Heldentaten“, hat aber auch kein Problem damit, neue Schwänke zu erfinden… Davon abgesehen will er vorrangig eines: Franzose werden. Im Einbürgerungskurs will er die an ihn gestellten Anforderungen, und seien diese noch so absurde Anmaßungen, doppelt und dreifach übertreffen. Überhaupt, Yoav, der sich vorgenommen hat, für den Rest seines Lebens kein Hebräisch mehr zu sprechen, will ein Superfranzose werden. Bald schon nervt er mit seiner Attitüde seine zukünftigen Landsleute gewaltig, denn die Französinnen sind ihm viel zu wenig französisch…
„Synonymes“ von Nadav Lapid hat bei der Berlinale 2019, durchaus nicht unverdient, den „Goldenen Bären“ gewonnen. Tom Mercier spielt den Yoav stets wie unter Strom stehend, eine hyperaktive Nervensäge, ein Kolumbus der Identitätsfindung, dessen Entdeckerwille, sein neues Land angehend, allemal zu weit geht… „Synonymes“ ist eine Satire über nationalistischen Wahn. Indem er die staatsoffiziellen Dogmen nicht nur einzuhalten, sondern überzuerfüllen bereit ist, macht ausgerechnet der anpassungswillige Wartesaal-Franzose aus Israel deren Absurdität sichtbar. Freiheit, Gleichheit, Brüder- und Schwesterlichkeit: wer wäre da nicht dafür? Aber immer neue Barrieren im Namen der Integration, die Neu-FranzösInnen dressieren sollen wie Tanzbären, dass ist dort, wie bekanntermaßen auch anderswo im stolzen Europa leider Usus geworden. Erst ein Integrations-Clown wie Yoav macht das mit seinen Faxen deutlich…
Ein Film spaltete Publikum wie Kritik: Es war „Ich war zuhause, aber“ von Angela Schanalec, der wichtigste Film der diesjährigen Berlinale. „Worum geht es?“ – das war die erste und wichtigste Frage der FreundInnen des Narrativen, der durcherzählten, dramaturgisch grundierten Handlung. Vielleicht… um Wahrhaftigkeit? Dafür spricht die Titelreferenz an Ozus „Ich wurde geboren, aber“ ebenso wie jene durch einen unvermittelt auftauchenden Esel, der an Bressons „Zum Beispiel Balthasar“ erinnert. Bresson, Ozu: Zwei Regisseure, die für Wahrhaftigkeit und Purismus stehen… Referenzen, Querverweise, lose Szenen: das sind Charakteristika im Werk von Schanelec. Wahrhaftigkeit: Astrid, die Hauptfigur in „Ich war zuhause, aber“ kongenial verkörpert von Schanelec’ Lieblingsdarstellerin Maren Eggert, ist (wie Schanelec) die Witwe eines Regisseurs und trifft auf der Straße einen Regisseur, der in seiner neuen Arbeit eine Tänzerin mit einem Sterbenskranken konfrontieren will - zwecks Originalität. Hier die perfekte Körperbeherrschung, dort das hilflose Ausgeliefertsein an den eigenen Körper: welch ein Zynismus, befindet Astrid, so kunst - wie lebensfeindlich und verachtet diese aufgesetzte Kunst-Lüge.
Oder: Der Fahrradkauf. Astrid kauft von einem alten, behinderten Mann, der durch ein Kehlkopfmikrophon (vermittelt) zu ihr spricht, ein gebrauchtes Fahrrad und wird bezüglich dessen Zustand betrogen. Er könne doch, meint der alte Mann, das Fahrrad reparieren. Aber Astrid will das Geld zurück: der Händler hat ihr Vertrauen gebrochen. Und schließlich: der verschwundene und wieder zurückgekehrte ältere ihrer beiden Söhne. Kaum angekommen, liegt er mit Blutvergiftung im Spital. Wenig später sieht man ihre Kinder in einer Schulaufführung des „Hamlet“ – der Giftmord an Hamlets Vater, eine durch und durch vergiftete Gesellschaft, die mit Täuschung agiert. So das Stück, doch seine kindlichen ProtagonistInnen, die mit tiefem Ernst, doch ohne tieferes Verständnis des Stückes agieren, sind eben(noch) ohne Trug, der Täuschung, der geplanten Unwahrhaftigkeit nicht fähig…
Solche wie beiläufig erzählte Szenen wechseln einander ab, legen eine Spur… möglicherweise. Denn das Kino von Angela Schanalec ist eines der Assoziationen, auch eines des genauen Blickes im Detail und der verschwommenen Ansicht auf das „große Ganze“. Im Kino der Behauptungen ist das eine Todsünde. Noch Tage nach der Pressevorführung unter JournalistInnen oder beim interessierten Publikum in Straßengesprächen waren aufgeregte Dispute über diesen einen Film - „Ich war zuhause, aber“- zu hören. Wenn das ästhetisch Andere solch eine Wirkung hinterlässt… Eben dies ist auch der Auftrag an Carlo Chatrian: Mehr Stacheln ins faule Fleisch der an den „gehobenen Durchschnitt“, an die Filme „auf die man sich einigen kann“, Gewohnten zu setzen.