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Lob der Imagination

Kurt Hofmann

Zur Viennale 2023

16.10.2023

Auch heuer ist die Viennale, ein Festival von überregionaler Bedeutung, wieder der Höhepunkt des österreichischen Kinojahres.

Es wird ein innovatives Programm geboten: Neben Filmen der üblichen Verdächtigen wie Sofia Coppola, Hong Sangsoo, Yorgos Lanthimos, Alice Rohrwacher, Wim Wenders, Frederick Wiseman etc. ermöglicht das Hauptprogramm viele Entdeckungen. Die Retro im österreichischen Filmmuseum ist diesmal Raúl Ruiz, einem der vielseitigsten Regisseure von Weltrang gewidmet – wer vermeint, auf Grund dessen starker Kinopräsenz schon alles gesehen zu haben, täuscht sich.
Die Schau des Filmarchiv Austria nennt sich „Keine Angst!“ und ist dem österreichischen Kino der Achtziger Jahre (des 20. Jahrhunderts) gewidmet.

Dazu gibt es zahlreiche Schwerpunkte, die James Benning, Narcissa Hirschl, Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval, sowie unter dem Titel „Widerstand, Erinnerung, Neuerfindung“ 50 Jahren des chilenischen Films gewidmet sind.

Dies alles: Not to be missed!

Die Viennale-Kinos sind, wie immer, das Stadtkino im Künstlerhaus, das Metro, das Gartenbau, die Urania und das Österreichische Filmmuseum.

Alle Informationen zur Viennale sind unter: www.viennale.at abrufbar.

Einige Empfehlungen, betreffend das diesjährige Programm:

Das fängt ja gut an: Nach einer Autopanne müssen Leon und Felix, den letzten Teil ihres Weges zu einem abgelegenen Haus an der Ostsee, das den Eltern von Felix gehört, durch unwegsames Gebiet latschen. Leon, der in ländlicher Abgeschiedenheit seinen zweiten Roman fertigstellen will, ist jetzt schon sauer, erst recht, als er entdeckt, dass noch eine weitere Person unerwarteterweise das Haus bewohnt. Aber Nadja, die mit Erlaubnis der Mutter von Felix ebenfalls einige Tage im deutschen Outback verbringen will, lässt sich zunächst nicht sehen, nur hören, als sie gemeinsam mit einem unbekannten Liebhaber nächtens den hochverdienten Schlaf von Leon stört... Doch der Sommer seines Missvergnügens geht für Leon weiter, da sich Nadja, sichtbar geworden, für ihn als in jeder Hinsicht irritierend erweist. Wenn er sie ersucht, seinen Roman zu lesen, erntet er nicht die erwartete Begeisterung – im Gegenteil...
Auch das noch: Und das von einer, die im naheliegenden Dorf als Sommerjob Eis verkauft. Als sein Berliner Verleger eintrifft und sofort von Nadja angetan ist, muss Leon erfahren, dass Nadja Literatur studiert und – im Gegensatz zu ihm – von seinem Verleger ernst genommen wird. Dieser begegnet Nadja „auf Augenhöhe“, während er für Leons Anstrengungen wenig gute Worte hat. Über Nadja ist Leon gleichermaßen verärgert wie er von ihr fasziniert ist. Währenddessen machen Meldungen über Waldbrände die Runde, doch die werden in einem anderen Teil der Region verortet...
„Roter Himmel“, der neue Film von Christian Petzold, beginnt als Komödie. Der Wiener Schauspieler Thomas Schubert verkörpert Leon sehr unterhaltsam „trocken“ als chronischen Grantler und vermittelt kongenial Petzolds Absicht, dessen unzugänglichen Charakter so zu erklären, dass dieser in einem Kokon stecke, den er aus guten Gründen nicht verlässt...

Hier setzt Petzold an, als „Roter Himmel“ kippt und eine - als zweite Erzählebene stets spürbare – undefinierte Bedrohung sichtbar wird, die alle Übereinkommen zwischen den Figuren in Frage stellt...
In „Roter Himmel“, dem zweiten Teil von Petzolds „Elemente“-Trilogie wird sichtbar, dass man Veränderungen, privat wie auch als Folge ausbleibender politischer Einsicht, nicht ignorieren darf. Das ist souverän, auch in der Balance zwischen Komik und Tragik, inszeniert, gleichzeitig ist unübersehbar, dass „Roter Himmel“ nicht nur der zweite Teil von Petzolds „Elemente“-Trilogie ist, sondern auch der zweite Film seit dem Tod von Harun Farocki, der den Stil von Petzolds Filmen wesentlich (mit-)prägte. Vielleicht haben Petzolds Filme jetzt mehr „Leichtigkeit“,möglicherweise fehlt ihnen aber auch die dramaturgische Stringenz und die gesellschaftspolitische Unerbittlichkeit, welche die Petzold/Farocki Filme prägten... Jedenfalls ist es ein von Petzold bewusst gesetzter Neubeginn – man darf auf das „dritte Element“ gespannt sein...

Simon lässt die Puppen tanzen. Er leitet „The Plough“ (den „großen Wagen“, eigentlich: den „Streitwagen“), ein Marionettentheater, und seine Kinder kennen die Welt nur aus dieser Perspektive... Die Geschichten, die hier von Simon und den Seinen erzählt werden, sind ebenso plakativ (um dem kindlichen Publikum gerecht zu werden) wie weise. Nicht zu vergessen das Vergnügen, welches das eingeschworene Ensemble - ergänzt durch wenige andere, mittels der Theater-DNA ebenso als Familienmitglieder ausgewiesene Akteure, für die Simon zwar nicht Vater, doch unübersehbar Vaterfigur ist - beim Spiel empfindet. Die Puppen sprechen, kämpfen, leiden und lieben durch sie – Lob der Imagination.
Als Simon stirbt, soll alles so weiter gehen wie zuvor. Aber das funktioniert nicht: der eine spannt dem anderen die Freundin aus, die angebliche Harmonie bröckelt ebenso wie die kurze Einigkeit nach Simons Tod, weiterzumachen. Einer will Schauspieler werden, der andere Maler, dem einen kommt mangelndes Talent dazwischen, der andere verfällt dem Wahnsinn. Die Frauen der Kompanie wollen das Theater fortsetzen, doch es kommt Streit um neue Konzepte auf – kann „The Plough“ überleben?

„Le Grand Chariot“ (The Plough), der neue Film von Philippe Garrel, erzählt zum einen über die Ablösung der Kinder von der Welt des Vaters, die sie, als er noch da war, nie in Frage gestellt haben. In der Umdefinierung ihrer Leben sind sie neugierig und zugleich ratlos.
Zum anderen erzählt Garrel, dessen Kinder hier seine Kinder spielen, von etwas, das zu Ende geht. So wie das Marionettentheater ein Gegenentwurf zur aufwändigen Maschinerie der großen Theater ist, stellen die Filme von Garrel, der einer der Letzten aus dem Umfeld der Nouvelle Vague ist, einen Gegenentwurf zum computergenerierten Kino der digitalen Einheitlichkeit dar. Kann der „Große Wagen“ , der notwendig ein „Streitwagen“ sein muss, weiterfahren?
Jon tötet Julian, der ihn begehrt. Im Gefängnis verliebt sich Iro, seine Wärterin, in ihn. Sie versorgt die wunden Knöchel des „Schwellfußes“dessen Schuhwerk Kothurnen ähnelt: Jon ist (ein Wiedergänger von) Ödipus...
Iro gebärt einen Sohn, sie wartet auf Jon. Dessen Entlassung aus dem Gefängnis verheißt den Beiden eine gemeinsame Zukunft. Bis Iro durch Zufall vom Tod ihres Bruders Julian erfährt und erkennen muss, wer ihn getötet hat – sie stürzt sich in den Tod...
„Music“, der neue Film von Angela Schanalec, erzählt von einem Ödipus, der von seiner Schuld nichts erfährt, aber dennoch durch Blindheit gestraft wird. Jon/Ödipus weiß auch nichts davon, dass er von Hirten adoptiert wurde und eine tote Frau, die sie an ihm vorbeitragen, seine Mutter ist...

Blind sein - das heißt bei Schanalec auch: blind sein für..., frei von Erkenntnis. Doch der blinde Tor wird mit Kreativität beschenkt und zum Sänger – Musik als Heilung?
Naturgemäß wird das bei Schanalec nicht linear erzählt, das Assoziative erscheint Schanalec-Unerfahrenen wie immer als Wirrwarr, andere forderten den „korrekten“ Umgang mit dem Mythos oder störten sich an der zeitgenössischen Verortung. Schanalec legt Fährten, die nicht falsch sein können, weil ihre Zuschauer*innen sie weiter denken müssen und hat verdientermaßen den Drehbuchpreis erhalten...
Ein Schiff auf der Seine, am Eingang ein Schild: „Nicht für jedermann. Eintritt nur für Verrückte!“ Ver-rückt hat sich die Sicht auf die Realität für diejenigen, welche die psychiatrische Tagesklinik „L’Adamant“ in Paris frequentieren. Integration statt Stigmatisierung könnte ein mögliches Motto des „L’Adamant“ sein,denn es werden (künstlerische) Begabungen gefördert, eine „Bar“ ermöglicht Unterhaltungen, in denen das Gegenüber ernst genommen wird und an den wöchentlichen Sitzungen nehmen auch PatientInnen teil, dürfen ihre Meinungen äußern, sich „einbringen“.
Es ist ein freundliches, humanistisches Konzept, doch von offener Psychiatrie a la Basaglia oder gar Anti-Psychiatrie ist nicht die Rede. Hinter der Freundlichkeit werden immer wieder Grenzen sichtbar, etwa dann, wenn eine ehemalige Tänzerin fragt, warum sie keinen Workshop für interessierte PatientInnen leiten darf und mit ihrem Wunsch bei den Klinikverantwortlichen nur auf Unverständnis stößt. Argumentiert wird diese Untersagung nicht, doch es wird klar, dass selbst ein Hauch von echter Selbstverwaltung unerwünscht ist, weil er Folgen zeitigen könnte...
In Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant“, dem Siegerfilm der diesjährigen Berlinale, werden (von den PatientInnen) Geschichten erzählt, über ihr Leben, wie es war und wie es hätte sein können. Des Weiteren: Über ihre Möglichkeiten und wie sie darin von Anderen ständig unterschätzt werden. Dass sich die Eigensicht bisweilen von der Realität unterscheidet, darf vermutet werden, aber jener behaupteten Realität steht wiederum das gesellschaftliche Konstrukt einer Realität (als Behauptung) gegenüber... Dies wissend, hört Nicolas Philibert den PatientInnen zu, kommentiert weder ihre Geschichten noch die Möglichkeiten der Einrichtung, die sie frequentieren.
„Heilung“, soviel wird klar, ist für die meisten nicht in Sicht, doch wie sollte die auch aussehen?

1982: Der Schriftsteller James Baldwin will erneut Bilanz ziehen, was sich für die People of Color in den USA geändert hat, wie dominant der Rassismus, insbesondere im heimatlichen Süden, noch ist. Er besucht zentrale Orte des Protests in den 1960er-Jahren, befragt dessen ProtagonistInnen, doch die Schlussfolgerung ist ernüchternd: vieles habe sich (per Gesetz) geändert, aber in Wahrheit nichts. Man sieht einen Sheriff, der die Eintragung ins Wahlregister verhindert, Verhaftungen aus geringstem Anlass, Misshandlungen...
Doch die Entscheidung, dem zu widerstehen, ist auch in den nachfolgenden Generationen präsent – auf diese richten sich, so Baldwin beim Besuch einer Schule, alle Hoffnungen...

„I Heard It Through The Grapevine“ (USA 1982; Regie: Dick Fontaine), ist kein „historischer“ Film, in Zeiten, da südliche Bundesstaaten die Gesetze ändern, um PoC an der Wahlteilnahme zu hindern und nahezu wöchentlich Übergriffe, ja Morde durch die Polizei und rassistische FanatikerInnen vermeldet werden. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, das wird, Dick Fontaines Film aus 1982 sehend, deutlich...
Fünfzehn Jahre nach dem gewaltsamen Tod einer Umweltaktivistin und Künstlerin will der hartnäckige Ermittler Papauran diesen Cold Case aufklären. In einem langen Gespräch mit einem Staatsanwalt diskutiert Papauran zu Beginn von „Essential Truth of the Lake“ den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit, wie sich Formalitäten und Vorwände vor den Aufklärungswillen drängen... Soweit das Programmatische im neuen Film des philippinischen Meisterregisseurs Lav Diaz. Was dann aber passiert, oder vielmehr nicht passiert, entfernt sich zunehmend vom Kriminalistischen und dem üblicherweise in diesem Genre anstehenden Showdown. Denn Papauran hat es nicht eilig. Er lässt sich von den durch ihn zu Befragenden verköstigen und beherbergen, zieht irgendwann dann weiter, ohne Essentielles erfahren zu haben. Ein Müßiggänger der Ermittlung, der aber möglicherweise, so deutet es Lav Diaz an, ohnedies schon längst alles weiß... Auch Diaz lässt sich, wie immer Zeit, sein kritisch-philosophisches Slow Cinema ist aber diesmal mit viel Ironie gewürzt...
Von ferne erinnert der neue Film von Lav Diaz an „Twin Peaks“ von David Lynch. „Essential Truth of the Lake“ ist aber ebenso voll der Querverweise auf die griechische Antike. Das fängt mit dem Vornamen des Detektivs Papauran an: Hermes. Hermes, der Götterbote, aber auch: der Totenführer... Und setzt sich fort mit ständigen Verweisen auf die Odyssee – durch Papauran während seiner Ermittlungen oder auch nur in der Namensgebung der Figuren... Wem das nicht auffällt, der/die darf immer noch, zusehend während entspannter 215 Minuten, versuchen, ein filmisches Puzzle des Götterboten Lav Diaz zusammenzusetzen...

„Do Not Expect Too Much from the End of the World“: So ein Titel kann nur dem rumänischen Regisseur Radu Jude einfallen und im Gegensatz zum Weltende waren die Erwartungen in Judes neuen Film (zu Recht) hoch.
Angela fährt durch Bukarest. Sie ist fast rund um die Uhr für ein multinationales Unternehmen tätig, um Unfallopfer für Videos zum Thema „Sicherheit am Arbeitsplatz“ zu casten. Deren Perspektive spielt dabei keine Rolle, die Dramaturgie der Aufnahmen folgt den Vorgaben des obersten Konzernchefs mit dem beziehungsreichen Namen Hans Frank... Freilich lohnt sich der Einsatz für Angela kaum – Aufwand und Bezahlung stehen in keinem Verhältnis. Als Kontrast erfindet Angela via Handy auf Instagram die androgyne Kunstfigur Bobitzá, einen, der die Verheißungen des allgegenwärtigen Turbokapitalismus mit unflätigen Kommentaren versieht, eine „Unperson“ ohne Marketingwert...
Dem schwarzweißen Alltag von „Do Not Expect...“ aus dem Jahr 2023 stellt Radu Jude Sequenzen aus dem 1981 entstandenen Farbfilm „Angela Moves On“ über eine Bukarester Taxifahrerin, die sich in einen Fahrgast verliebt, gegenüber. Damals: eine stereotype Geschichte, langsam erzählt, auf Einverständnis setzend. Heute: Angela darf sich „Produktionsassistentin“ nennen, wissend, dass die zynische Realität des rastlosen „Immer weiter!“ keine Perspektive für sie bereithält...

„Do Not Expect...“ erhielt den Spezialpreis der Jury.
Ein All-inclusive-Hotel in Griechenland: hier sollen die Tourist:innen bei Laune gehalten werden. Stimmung!: Dafür sind allen voran die Animator:innen und deren „Anführerin“ Kalia zuständig. Was diese allabendlich vorzeigen, erweist sich (eine Überraschung) nicht nur als stupide, sondern (auch) als stupend. Eine junge Frau, die ursprünglich vom Zirkus kommt, hat sich beworben und passt auch ins Anforderungsprofil. Denn für jeden Auftritt wird hart trainiert, es werden Choreographien entwickelt, Kostüme geschneidert, ganz so, als würde für eine Theateraufführung geprobt. Und sie ziehen weiter, wie eine Zirkustruppe, die allerorten ihre Kunststücke vorführt. Mitten drin Kalia, die wie keine andere das Spiel mit dem (touristischen) Publikum beherrscht...
Sofia Exarchous „Animal“, eine Dokufiction (mit österreichischer Produktionsbeteiligung), die bisweilen an die Arbeiten von Covi/Frimmel erinnert, verschweigt nicht, wie schon der Titel verrät, die harten Arbeitsbedingungen bei geringer Bezahlung, fordert aber Respekt für ihre Protagonist:innen ein. Sie müssen immer „funktionieren“, auch wenn ihnen nicht der Sinn danach steht. Zuletzt wird ausgerechnet Kalia, die immer schon da war, das hinterfragen...