Im sechzigsten Jahr
Kurt Hofmann
Zur Viennale 2022
18.10.2022
60 Jahre Viennale: Wer auf das Wiener Filmfestival mit internationalem Flair zurückblickt, muss dessen Geschichte in zwei Teilen erzählen: da wären die ersten dreißig Jahre, verbunden mit Slogans wie „Filme , die uns nicht erreichten“ und der Selbstdefinition als „Festival der Festivals“, zu deren Beginn ein wenig der „Hauch der großen Welt“ mit rotem Teppich und manchen Stars vermittelt werden sollte. Aber deren Mehrwert waren immerhin Begegnungen mit Filmen von Fellini, Bergman, Antonioni... Als Alternative zum US-Mainstreamkino, Heimatfilmkitsch und Pauker-Geblödel war in Wien lange Zeit nur das (1964 von Kubelka und Konlechner gegründete) österreichische Filmmuseum für die Cinephilen da, erst viel später etablierte sich nach und nach eine selbstbewußte und innovative Programmkinoszene, wie wir sie heute kennen.
Die Viennale in „Hälfte 1“: ein bemühtes (lokal eingegrenztes) Festival, das einem „ausgehungerten“ Publikum von FilmenthustiastInnen (wenig strukturiert zwar, aber immerhin) Neues und (bisweilen) Ungewohntes, die Sicht auf verschiedene Regiehandschriften bot. Freilich: von der Viennale bis zur nächsten Viennale – das war damals stets ein ganzes Jahr der Vorfreude...
Die Viennale in „Hälfte 2“: Seit den 1990er Jahren, begonnen durch die Direktion Alexander Horwath, fortgesetzt und vollendet durch Langzeit-Direktor Hans Hurch, kongenial weitergeführt durch dessen Nachfolgerin Eva Sangiorgi, ist die Viennale ein anderes Festival geworden: dramaturgisch durchdacht, in mehrere Sektionen gegliedert, global orientiert, abseits anderswo gepflegter Festival-Eitelkeiten. Der Höhepunkt des Festivals ist aber immer noch, wie schon in „Hälfte 1“, die Retro im österreichischen Filmmuseum. Möglich wurde die Richtungsänderung der Viennale durch die Etablierung einer Programmkinoszene in der Stadt, welche ein neugieriges und zunehmend auch „forderndes“ Publikum heranzog, dem die übliche Viennale-Routine nicht mehr genügen konnte sowie auch durch eine geänderte Haltung der (städtischen) Förderer, die schließlich auch (keineswegs selbstverständlich) die richtigen Personalentscheidungen trafen – ein Glücksfall...
Heute ist die Viennale ein international anerkanntes, vielfach (für seine kompromisslose und konsequente Programmierung) bewundertes Festival: weiter so!
Zum diesjährigen Programm: Da ist zwischen 20.10. und 1.11.2022 neben den neuen Werken „üblicher Verdächtiger“ wie David Cronenberg, Kelly Reichardt, Jafar Panahi, Park Chan-wook, Claire Denis, Werner Herzog, Ulrich Seidl (entgegen der Vorverurteilungen) wie immer auch viel Entdeckenswertes in den Festivalkinos Metro, Gartenbau, Stadtkino im Künstlerhaus, Urania und dem österreichischen Filmmuseum zu sehen.
Die Jubiläumsausgabe widmet sich zudem dem Argentinischen Film Noir, dem hundertjährigen iranischen Filmpoeten Ebrahim Golestan, dem Wegbereiter des afrikanischen Kinos Med Hondo sowie der (US-) Queen of Comedy Elaine May. Die Schau des Filmarchiv Austria beschäftigt sich unter dem Titel „Österreich real“ sehr aktuell mit Krisen bzw. dem österreichischen Dokumentarfilm in Krisenzeiten.
Ein Juwel innerhalb des hochwertigen Jubiläumsprogrammes ist die heurige Retro im österreichischen Filmmuseum, dem japanischen Kinorevolutionär Yoshida Kiju gewidmet. Not to be missed!
Im folgenden einige Empfehlungen zum Programm der Viennale 2022.
In „So-Seol-Ga-Ui Yeong-Hwa (The Novellist’s Film; Südkorea 2022), dem neuen Film von Hong Sangso, begegnen wir einer Schriftstellerin, die nicht mehr schreiben und einer Schauspielerin, die nicht mehr spielen will. Aber die Schriftstellerin will ein Drehbuch schreiben für die Schauspielerin, die sie bewundert (und: vice versa!), gar Regie führen bei dem geplanten Film, was sie zuvor noch nie getan hat – etwas beginnen, was frau nicht kann: endlich eine neue Herausforderung...
Eigentlich wollte die Schriftstellerin in der Stadt, die sie schon fast vergessen hatte, eine Buchhändlerin besuchen, mit der sie einst befreundet war. Die Beiden haben einander nichts und zugleich viel zu sagen. Komplimenten folgen harte Konter, dazwischen wird getrunken, so halten es auch die weiteren Auftretenden in „The Novellist’s Film“: miteinander reden, übereinander reden, innehalten. Vielleicht wird ein neuer Ansatz gefunden, vielleicht auch nicht...
Ist ausgerechnet Felix Salten, der Verfasser von „Bambi“, auch ein Autor von „Josefine Mutzenbacher“? Vom („reinen“) Kitsch zum Porno, was wäre eine Pointe von wienerischer Konsequenz, die einst schon Karl Kraus amüsierte...
Aber darum geht es Ruth Beckermann in ihrem neuen Film „Mutzenbacher“ (Österreich 2022) nicht. Alles, was die Mutzenbacher im Roman von sich gibt, wird von einer männlichen Perspektive aus erzählt. So etwa, wenn das halbwüchsige Kind Lustgefühle bei einem Missbrauch durch den Vater erlebt – eine pädophile Männerphantasie.
Konsequenterweise ist „Mutzenbacher“ bei Ruth Beckermann zum Männerfilm geworden, er könnte auch „Männerperspektiven“ heißen. Entlang des Romans werden sexuelle Phantasien erfragt, Textstellen gelesen und Reaktionen erwartet, erste sexuelle Erlebnisse erzählt und Chöre mit dem wienerischen Arsenal der sexuellen Benennungen gebildet. Einer der von Beckermann Gecasteten ziert sich erst, eine Textstelle aus „Josefine Mutzenbacher“ vorzulesen. Es dürfe keinesfalls eine Passage sein, welche seine Enkel mißverstehen könnten. Schließlich liest er doch vor und versinkt geradezu im Text. „Aber g’fallen hat’s dir schon!“ bemerkt Ruth Beckermann trocken aus dem Off...
„Ich meine, wir alle verwandeln uns in eine Art Monster, schon allein durch die Tatsache, dass wir von Augenblick zu Augenblick älter werden“ sagte David Cronenberg 1992 in einem Interview für „Dark Stars“ (Gaschler/Vollmer, belleville-Verlag, S.293).
Es geht um Körperoptimierung: Saul soll mittels immer neuer (zu implementierender) Organe zu einer menschlichen Maschine werden, bald schon alles „unter Kontrolle“ haben. Gemeinsam mit seiner Partnerin Caprice gibt er „Performances“ – der „neue Mensch“ als Kunstobjekt, der Schmerz umgewandelt in „meaning“...
Mit „Crimes of the Future“ (Kanada/Großbritannien/Griechenland 2022) kehrt Cronenberg zu seinen Anfängen zurück, radikales Körperkino ist da zu sehen. „Crimes of the Future“ ist ein Science-Fiction-Film, der in der Zukunft ebenso angesiedelt ist wie in der Vergangenheit („Freaks“ wurden schon früh auf Schauen bewundert... ) und für die Gegenwart Fragen stellt. Denn „Fiction“ ist so manches von dem, was in „Crimes of the Future“ angesprochen wird, in der gegenwärtigen wissenschaftlichen (...Science)Forschung, in körperoptimierten Experimenten, nicht mehr. Dr. Frankenstein lebt und er hat eine Botschaft, auf die viele gewartet haben...
Von der Schweiz aus über Albanien, Nepal, die Malediven, nicht zu vergessen Österreich, bis hin zum „Burning Man Festival“ in den USA: alle plagt das Problem, wie sie ihren Müll loswerden.
Nikolaus Geyrhalter hat sich dem in „Matter Out of Place“ (Österreich 2022) mit gewohnter Akribie gewidmet. Vorweg: Keine/r kann den gordischen Knoten in Sachen Müllproblem durchschlagen, die ebenso unterschiedlichen wie (teilweise) einfallsreichen Methoden an den verschiedenen Orten in diversen Ländern werden von Geyrhalter (und seiner Kamera) registriert – er wertet nicht, sondern zeigt, was ist.
Deutlich wird aber, dass dem Wort „entsorgen“ die Sorge innewohnt...
Der Schattenriss eines Rituals betonter Männlichkeit und Disziplin. Ein Gesang aus kolonialen Zeiten. Mehr ist über die Fremdenlegionäre, denen Ida mit ihrer Crew per Schiff auf der Spur ist, auch nicht zu sagen. Vielleicht aber über Ida: „There is a boat in Marseille. Owned by a woman. She lives there with her crew... Not much is known about her. I imagine her life very free, always in movement“ sagt da einer über sie. Via Korsika reisen Ida und ihre Crew zum Hauptquartier der Legion in Algerien. Wie sich die Matrosen kleine Geschichten erzählen, wie sie sich verhalten zur See und was auf deren Grund sein könnte...
„Human Flowers of Flesh“ (Deutschland/Frankreich 2022) ist ein Kino der Reduktion, der Andeutung, des Assoziativen. Regisseurin Helene Wittmann ist dabei ebenso auf den Spuren von Angela Schanalec wie auf jenen von Claire Denis, die 1999 mit „Beau Travail“ einen exemplarischen Film zu toxischer Männlichkeit drehte. Wenn Ida am Ende des Films auf einen Legionär trifft, wird dieser wieder, wie schon in „Beau Travail“ von Denis Lavant verkörpert: eine Andeutung – mehr braucht es hier nicht...