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Anspruch und Realität

Kurt Hofmann

Zur Retrospektive Márta Mészáros im österreichischen Filmmuseum (6.9.-18.10.2022)

07.09.2022

Vom zwei Dutzend Langspielfilme umfassenden Werk der ungarischen Regisseurin Márta Mészáros hat das österreichische Filmmuseum für seine Schau zwölf ausgewählt, welche die realsozialistische Periode und damit auch die wichtigste Zeit im Schaffen von Márta Mészáros beleuchten.

Wie selbstverständlich stehen durchwegs Frauen im Mittelpunkt der Filme von Márta Mészáros und die unterschiedlichen Charaktere eint deren Eigensinn. Wenn im realsozialistischen Ungarn Anspruch und Realität weit auseinanderklaffen, so sind die Protagonistinnen der Feministin Mészáros jeweils der Widerpart in einer männlich dominierten konservativen Gesellschaft, deren „revolutionärer“ Impetus bloß eine Behauptung ist.

Über Jahrzehnte hat Edit, die Frau eines renommierten Ökonomen, in einer Beziehung ohne Liebe repräsentiert, die ihr zugewiesene Rolle angenommen. Als sie sich nach dessen Tod für sich selbst zu interessieren beginnt, entführt sie ihr ältester Sohn und sperrt sie in einem entlegenen Landhaus ein, um sie zur „Räson“ zu bringen. Deren Bewachung hat er seiner Verlobten zugewiesen, die aber letztlich erkennen muss, dass dieser sie nur für ein Leben „an der Seite von...“ akzeptiert und sich von ihm löst.

„Holduvar“ (Gewitterwolken; Ungarn 1969) interessiert sich für das abgehobene Leben der ungarischen Oberschicht und behandelt damit ein im ungarischen Film jener Tage tabuisiertes Thema. Jede Figur in „Holduvar“ steht für eine Haltung. Jene Edits für ein spätes Erkennen, das der Angepasstheit folgt, jene ihres Sohnes für eine frühe Verknöcherung im Sinne einer selbsternannten Parteielite, jene seiner Verlobten für eine neue Generation von Frauen, die das Schattendasein von privilegierten Frauen wie Edit verachtet und doch in Gefahr ist, deren Fehler zu wiederholen. Ablösung: Und da ist noch Edits zweiter, jüngerer Sohn, mit seiner Familie nur noch lose verbunden, ziellos und vergnügt mit seinen FreundInnen durch die Gegend ziehend. Ihm und Seinesgleichen, begierig auf ein Leben ohne vorgeschriebenes „Szenario“, gehört, wie das Schlussbild in „Holduvar“ andeutet, die Zukunft... Das Entstehungsjahr von „Holduvar“: 1969.

Jutka arbeitet in einer Textilfabrik und hat sich in Andras, einen Studenten, verliebt. Camouflage: Erst schwindelt Jutka Andras an und behauptet, eine Kommilitonin zu sein, um von ihm als „gleichwertig“ betrachtet zu werden. Als sie ihm gegenüber ihre Lüge aufdeckt, überredet Andras sie, ihr falsches Selbstbild aufrechtzuerhalten, um für seine Eltern, denen er sie als neue Freundin vorstellen will, akzeptabel zu sein. Unglücklicherweise ersucht Jutka für das erste Zusammentreffen mit den Eltern von Andras ihren Vater, einen Schwadroneur, ihr beizustehen. Der erfindet gleich eine neue Familiengeschichte...

„Szabad lélegzet“ (Freier Atem; Ungarn 1973) verweist auf seltsame „Klassenverhältnisse“ im realsozialistischen Ungarn. Anspruch und Realität: das funktioniert in der Gesellschaft nicht, ebenso wie für Jutka, die nicht weiß, wo sie hingehört. „Frei atmen“ kann sie nur unter ihresgleichen. Aber da ist diese Sehnsucht, eine „Andere“ zu sein, die zugleich für sie eine Qual ist. Jutka muss sich entscheiden und sie wird wissen, was sie zu tun hat...
„Szabad lélegzet“ ist kein Märchen über Achenbrödel und den Prinzen, vielmehr eine Parabel über eine Gesellschaft zwischen Anspruch und Realität.