Etwas liegt in der Luft
Kurt Hofmann
Locarno 2022: Die 75.Ausgabe
17.08.2022
Im Jubiläumsjahr des Festivals präsentierte sich dieses unaufgeregt, wenngleich in der Programmauswahl vielfältiger und ambitionierter als in der vorangegangenen ersten Saison von Direktor Nazzaro, zumal mit starken österreichischen Beiträgen im Wettbewerb.
Der Wettbewerb
Oft genug ist es so, dass Juryentscheidungen nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegeln. Deshalb war die Entscheidung, „Regra 34“ (Rule 34; Brasilien 2022; Regie: Julia Murat) den „Goldenen Leoparden“ zu verleihen, so wie ein nachträgliches Geschenk an das Festival zu dessen Jubiläumsausgabe.
„Regra 34“ (Rule 34; Brasilien 2022; Regie: Julia Murat), der heurige Gewinner des „Goldenen Leoparden“,ist ein mutiger und engagierter Film, der die alte Erkenntnis, dass das Private politisch ist, thematisiert. Die Jusstudentin Simone betreut Opfer von Missbrauch und häuslicher Gewalt und betont in Diskussionen an der Uni ihre feministische Perspektive. Doch die „private“ Simone chattet über ihre sexuellen Vorlieben im Internet, betreibt eine eigene Live Cam Performance, diskutiert mit ihren FreundInnen über ihre Präferenz für SM-Praktiken. Ein Widerspruch? Mitnichten. Denn der usurpatorische (männliche) Übergriff hat nichts mit Simones Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu tun. Simone lotet Grenzen aus und zieht ebenso Grenzen, redet mit anderen, was sie antreibt und versteckt sich nicht: das Private ist politisch...
Der Schattenriss eines Rituals betonter Männlichkeit und Disziplin. Ein Gesang aus kolonialen Zeiten. Mehr ist zu den Fremdenlegionären, denen Ida mit ihrer Crew per Schiff auf der Spur ist, auch nicht zu sagen. Vielleicht aber über Ida: „There is a boat in Marseille. Owned by a woman. She lives there with her crew... Not much is known about her. I imagine her life very free, always in movement“ sagt da einer über sie. Über Korsika reisen Ida und ihre fünfköpfige Crew zum Hauptquartier der Legion nach Algerien. Wie sich die Matrosen kleine Geschichten erzählen, wie sie sich verhalten zur See und was auf deren Grund sein könnte... „Human Flowers of Flesh“ (Deutschland/Frankreich 2022) ist ein Kino der Reduktion, der Andeutung, des Assoziativen. Regisseurin Helene Wittmann ist dabei ebenso auf den Spuren von Angela Schanalec, wie auf jenen von Claire Denis, die 1999 mit „Beau travail“ einen exemplarischen Film zu toxischer Männlichkeit drehte. Wenn Ida am Ende des Films auf einen Legionär trifft, wird dieser wieder, wie schon in „Beau travail“ von Denis Lavant verkörpert: ein Querverweis, eine Andeutung – mehr braucht es hier nicht...
In einem Limbus treffen Hitler, Stalin, Mussolini und Churchill aufeinander, auch Napoleon schaut vorbei. Der ebenfalls anwesende Jesus ist zu erschöpft, um sich den aneinander vorbei Monologisierenden anzuschließen, doch während er bereits w.o. gegeben hat, verbreiten die anderen putzmunter ihre altbekannten Platitüden...
Für österreichische ZuschauerInnen wartet hier ein Deja-vu, bringt doch in Thomas Bernhards Stück „Der Theatermacher“ der heruntergekommene Schauspieler Bruscon in seinem von ihm verfassten Stück „Das Rad der Geschichte“ eben dieses Personal auf die Bretter der Wirtshausbühnen, wo er mit seinen als „DarstellerInnen“ geknechteten Familienmitgliedern gastiert...
Während Bernhard den Größenwahn Bruscons karikiert, wirken die Auftritte von Sokurovs in seinen Zwangsvorstellungen gefangenen „Ensemble“ wie ein Perpetuum mobile...
Alexander Sokurov war der Regiestar des diesjährigen Festivals und hat die historischen Gestalten mittels Deepfake-Verfahren re-animiert. Indes, was bedeuten die Nachrichten aus der Vorhölle, welche „Skazka“ (Fairytale; Belgien/Russland 2022) übermittelt? Man mag zunächst an Dante denken, doch fehlt „Skazka“ der erzählerische, wie auch philosophische Mehrwert. Trotz aller ironischen Distanz und dem Ausbleiben des Moralisierenden (die Wiedergänger!) spiegelt Sokurovs „Märchen“ aber nur eine geschichtspessimistische (-fatalistische?) Sicht wider, die jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt als undenkbar in Frage stellt.
Da „Skazka“ schon in Cannes offenkundig wegen der „Russenklausel“ abgelehnt wurde, war es wohl keine sehr schlaue Idee Sokurovs, der NZZ, die seinen Film in der Printausgabe ignoriert hatte, ein Interview zu geben, dessen einziges Thema selbstverständlich Putin war. Tags darauf galt der Kriegsgegner Sokurov als „Putin-Versteher“... Wer das Interview genauer liest, entdeckt allerdings einen eitlen Großkünstler, der einem althergebrachten Irrtum unterliegt: So, wie (angeblich) vor Jahrhunderten die Fürsten den an ihren Höfen angesiedelten Künstlern ihr Ohr leihten, will auch Sokurov Putin mit Ratschlägen versorgen. Dass dieser auf Sokurovs Ezzes hört, ist allerdings kaum anzunehmen, zumal schon das Zwiegespräch zu Zeiten der Fürstentümer ein (schönes) Mädchen war, aber ebenso lautet ja der englische Titel von Sokurovs Film: Fairytale...
Von der Schweiz aus über Albanien, Nepal, die Malediven, nicht zu vergessen Österreich, bis hin zum Burning Man Festival in den USA: Alle plagt das Problem, wie sie ihren Müll loswerden. Nikolaus Geyrhalter hat sich dem in „Matter Out of Place“ (Österreich 2022) mit gewohnter Akribie gewidmet. Vorweg: Keiner kann den gordischen Knoten in Sachen Müllproblem durchschlagen, die ebenso unterschiedlichen wie (teilweise) einfallsreichen Methoden an den verschiedenen Orten in diversen Ländern werden von Geyrhalter (und seiner Kamera) registriert, Er lässt Statements einfließen, wertet nicht, sondern zeigt, was ist. Schlüsse zu ziehen (etwa auch aus Geyrhalters Titelgebung) ist den Zusehenden jedenfalls nicht verwehrt.
Ein katholisches Mädcheninternat in den 1980er-Jahren: Kleine Intrigen, Übergriffigkeiten gegen Einzelne, sonst das Wahren der Disziplin aus Angst vor Sanktionen, wenig Enthusiasmus in Sachen Glauben, aber die eingeübten Parolen haben die Zöglinge allzeit parat...
Doch da ist ein Mädchen, das der jungen, fanatischen Nonne, die alle antreibt, gefallen will: sie hat sich von ihr zum Tragen eines Bußgürtels überzeugen lassen und zeigt ihrem Vorbild stolz ihre Wundmale... Naturgemäß ist das nicht gesundheitsfördernd: das kranke Kind wird versteckt und isoliert, ist offiziell auf Reisen... Endlose, dunkle Gänge, bedrohliche Musik: Ruth Mader legt „Serviam – Ich will dienen“ (Österreich 2022) konsequent als Horrorfilm an und der Schrecken spiegelt sich auch im Spiel von Maria Dragus, die als junge Nonne den stets gleichen starren Gesichtsausdruck konserviert – eine nie abzunehmende Maske...
„Serviam – Ich will dienen“ überzeugt durch Stringenz und dramaturgische Geschlossenheit. Wahrlich: ein starkes Stück.
Abseits des Wettbewerbes
Ein Friedhof in the middle of nowhere. Dort sehen einander Herman und Nate, Vater und Sohn, nach Jahren wieder. Herman ist mit seinem Transporter gekommen, auf dem alles, was er benötigt, Platz gefunden hat: von den Alltagsgegenständen über Sperrmüll, bis hin zu Erinnerungsstücken... Vor dem Treffen hat er ein Band für Nate besprochen, nicht damit rechnend, dass das Scheidungskind auch eintrifft. Doch Nate kommt und hat sogar seinen sechsjährigen Sohn mitgebracht. Geredet wird nicht viel, doch aneinander vorbei, obgleich die Beiden, so, wie sie durch die Gegend stolpernd von ihrem Scheitern erzählen, wie eineiige Zwillinge wirken. Irgendwann geht das Kind verlustig, doch das, erzählt Nate, wäre mit dem Jungen, der ein „Loch im Kopf“ habe, schon früher mal passiert: er sei dann auf dem Dach eines Hauses gefunden worden...
„A Perfect Day for Caribou“ (USA 2022; Regie: Jeff Rutherford; Concorso Cineasti del presente) ist bestes US-Independent-Kino auf den Spuren von zwei Chaoten, verwandte Seelen allemal...
1987: Der androgyne Robin wird in seiner neuen Schule misstrauisch beäugt – Junge oder Mädchen? Robin setzt sich im Turnunterricht zwischen die getrennten Geschlechter...
Einer, der ihn kurz nach seinem Eintreffen verprügeln will, wird sein Freund. Bis sie beide für ein Mädchen zu schwärmen beginnen, das sich für Robin entscheidet – aber der will seinen Freund auch nicht verlieren. „Was bist du?“ fragt ihn der. Doch Robin zuckt die Achseln...
„Before I Change My Mind“ (Kanada 2022; Regie: Trevor Anderson; Concorso Cineasti del presente) ist der so aktuellen Frage der Geschlechtsidentität gewidmet – allerdings 1987 angesiedelt, als derlei noch kein Thema sein durfte.
Wie Robin es mit kindlichem Charme und Chuzpe schafft, sich nicht unterkriegen zu lassen, das wird in Trevor Andersons coming-of-age-Film sensibel erzählt.
Argentinien, 1974: Etwas liegt in der Luft. Noch ist nicht absehbar, dass zwei Jahre später das Militär putschen und ein brutales Regime mit faschistischen Zügen errichten wird, aber eine gewaltsame Machtergreifung durch die Rechten wirkt in diesem Jahr schon wie ein realistisches Szenario. Allerdings erfreuen sich 1974 auch die Linke, zumal die radikale Linke, nach wie vor großer Sympathien im Land und die Hoffnung auf eine andere, gerechtere Gesellschaft ist ungebrochen.
Hier setzt Santiago Fillols Film „Martadero“ (Argentinien 2022; Concorso Cineasti del presente) ein. Da ist ein US-amerikanischer Regisseur, der in der argentinischen Pampa „Martadero“, einen Film über Klassenkampf und Revolution, drehen will.
Freilich ist dessen Militanz vorgeschoben, es soll halt viel Blut fließen und die Wut der aufständischen Unterdrückten möge den erwünschten Rhythmus vermitteln...
Rasch hat der Filmemacher sein Budget aufgebraucht und sucht, gemeinsam mit seiner aus Argentinien stammenden Regieassistentin, die in den USA studiert hat, nach einer billigeren Lösung. Letztere stellt die familiäre Ranch als Drehort zur Verfügung. ArbeiterInnen und BäuerInnen aus der Umgebung werden ebenso engagiert wie Mitglieder eines linken ArbeiterInnentheaters.
Bald schon kommt es durch das autoritäre Gehabe des Regisseurs zu ersten Konflikten, doch die Regieassistentin, die auch Kamerafrau und erste Vertraute des Filmemachers ist, kalmiert und leitet, nachdem der Regisseur durch einen seltsamen Besuch angeblicher „ProduzentInnen“ für „dringende Gespräche“ abberufen wird, auch die Dreharbeiten. Die SchauspielerInnen des ArbeiterInnentheaters aber, unzufrieden mit der Perspektive des Films, wollen die Filmrollen stehlen, um die Aufführung von „Martadero“ zu verhindern...
Santiago Fillols „Martadero“ erzählt von einem doppelten Irrtum. Zum einen ist da der Gringo, der den Einheimischen auf der Leinwand den revolutionären Rhythmus vortanzen (und damit auch sein „fortschrittliches“ Image pflegen) will, doch in Wahrheit nur auf mögliche Filmpreise schielt. Zum anderen sind da die ArbeiterInnenschauspieler, tatsächlich im Untergrund politisch aktiv, welche die Wirkung des Films ebenso falsch einschätzen, wie ihr eigenes Potential, künstlerisch, wie politisch.
Schließlich wird der Regisseur vom Geheimdienst vorgeladen, der ihm eine Liste vorlegt, auf dem AktivistInnen, seine SchauspielerInnen, stehen – er soll sie ausliefern. Etwas liegt in der Luft...
Die Retro war diesmal Douglas Sirk, dem Meister des Melodramas, gewidmet. Entdeckenswert, wie souverän Sirk auch in anderen Genres agiert. Etwa in der 1945 entstandenen Gaunerkomödie „A Scandal in Paris“, wo es George Sanders vom Meisterdieb zum Polizeipräsidenten bringt – ein Sirk-Film mit Lubitsch-Touch... Oder im Psychothriller „Sleep, My Love“ (USA 1947), in dem eine bedauernswerte Claudette Colbert mittels eines raffinierten Plans von ihrem Ehemann erst in den Wahnsinn und in der Folge in den Tod getrieben werden soll...
Für Cinephile war der Besuch der Retro jedenfalls Pflicht und Vergnügen.