Alles geht seinen Gang
Kurt Hofmann
Zum Filmfestival in Locarno 2024
19.08.2024
Damit hatten nur wenige, immerhin aber Thierry Méranger von Les Cahiers du Cinema in einer Umfrage der Festivalzeitung „Pardo“ gerechnet: dass Kurdwyb Ayub mit ihrem neuen Film „Mond“ zu den Hauptpreisträgerinnen zählen würde – der Spezialpreis der Jury ist ein großer Erfolg für die junge Filmemacherin.
Concorso Internazionale
Die ehemalige Kampfsportlerin Sarah erhält nach dem Karriereende ein überraschendes Angebot: sie soll – unter bestmöglichen finanziellen Voraussetzungen – von Wien ins jordanische Amman übersiedeln, um dort drei Töchter einer reichen Familie zu trainieren. Deren Bruder hat sie engagiert, um diese in Martial Arts zu unterweisen.
Aber die verzogenen Gören erweisen sich zunächst als wenig motiviert, schauen lieber Soaps, oder widmen sich, stets begleitet von Bodyguards, dem Shoppen.
Als die drei allerdings, in ihrem „Goldenen Käfig“ stets beobachtet und reglementiert, feststellen, dass sie in Sarah eine Freundin haben könnten, schmieden sie einen riskanten Plan, für dessen Gelingen Sarahs Mithilfe unabdingbar ist...
„Mond“ ist Kurdwyn Ayubs erster Film, der nicht in ihrem Umfeld angesiedelt ist oder auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Eine Konstruktion also, der man das bisweilen auch anmerkt. Da sind die Nöte der armen reichen Mädchen und da ist Sarah, überzeugend verkörpert von Tanztheater-Superstar Florentina Holzinger, die ein anderes Frauenbild repräsentiert und sich nicht korrumpieren lässt... „Mond“ erzählt vom Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten – das produziert unvermeidlicherweise auch Klischees, aber „Es geht um Schwestern, egal woher sie kommen und um Käfige, egal wo sie stehen“ (Kurdwyn Ayub), also, in der Folge, um das genaue Hinsehen, um den präzisen Blick auf die Verhältnisse...
Und der diesjährige Siegerfilm „Akiplesa“? Fast scheint es, als wäre die Jury unter dem Vorsitz von Jessica Hausner einer ausgefeilten Dramaturgie gefolgt: wenn wir in „Mond“ den reichen Mädchen, die vom Leben außerhalb des „Goldenen Käfigs“ träumen, begegnen, so treffen wir in „Akiplesa“ von Saula Biluvalté (Litauen 2024) auf zwei arme Mädchen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als den tristen Verhältnissen, denen sie entstammen, zu entfliehen und als Models Karriere zu machen.
Marija und Kristina sind Außenseiterinnen, werden von den anderen an der örtlichen Modelschule gemobbt, aber wider alle (vor allem finanzielle) Hindernisse wollen sie nicht aufgeben. Schlank sein ist (ihnen) wichtig, also wird aus dem Dark Net sogar ein Bandwurm organisiert... Aber schon das unabdingbare Musterfoto für die Agenturen können sich die Beiden nicht leisten. Um an das Geld zu kommen, müssen Grenzen überwunden und die Selbstachtung in Frage gestellt werden...
Marija und Kristina sind gerade dreizehn Jahre alt und Heidi Klum ist fern. An der örtlichen „Modelschule“ werden allenfalls Grundbegriffe vermittelt – schwer vorstellbar, dass auch nur eine der „Absolventinnen“ jemals Karriere macht, doch die Hoffnung währet immerdar...
Drei lange Vermisste sind in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, doch die Nachricht soll unterdrückt werden. Die örtlichen Polizeibehörden halten die wieder Aufgetauchten unter Verschluss. Spätestens, als Mitglieder einer „Spezialabteilung“ auftauchen und die „Angelegenheit“ übernehmen, verdichten sich die Hinweise, dass das Trio offenbar kontaminiert ist und Seuchengefahr besteht.
Wenn nichts zu sehen ist, ist auch nichts vorhanden... Worüber nicht gesprochen wird, das hat nicht stattgefunden... Das kann und wird auch in autoritären Verhältnissen auf die Dauer nicht funktionieren und prompt macht sich im Ort Unruhe breit... All dies sei aber, so erklärt uns der tunesische Film „Agora“ den Fall, ohnedies bloß den Träumen einer blauen Hündin und einer schwarzen Krähe entsprungen... Diese Vorgangsweise von Regisseur Ala Eddine Slim ist schlau, aus zweierlei Gründen: zum einen entgeht „Agora“ dadurch der Gefahr einer hyperrealistischen, allzu linearen Erzählweise, die hier „poetisch“ konterkariert wird, zum anderen wird dadurch die Zensur düpiert, denn wie in „Agora“ Probleme unter der Tuchent gehalten werden (sollen), wird zwar beispielhaft vorgeführt, hat jedoch, siehe tierische Träume, niemals stattgefunden...
Der Gangsterboss Charles Mahr erteilt einen Auftrag und Taz ist bereit, ihn auszuführen: Murder by Contract. Alles geht seinen Gang, doch Taz will, über ihre Mission hinaus, Zusammenhänge erkunden: das könnte ein Fehler sein... Mit „La Mort viendra“, dem neuen Film von Christoph Hochhäusler (Deutschland 2024) stand – schon das war höchst erfreulich – ein Genrefilm im Wettbewerb und Hochhäusler kennt die Ingredienzien des Genres. Da sind die Spuren, die gelegt werden (müssen), da ist die Zeichnung der Charaktere: all dies gelingt Hochhäusler im Sinne Melvilles perfekt und macht „La Mort viendra“ damit zu einem der anspruchsvollsten und interessantesten Filme des Festivals. Andererseits ist „perfekt“ auch das Stichwort für die Schwachstelle des Films, denn anders als Melville interessiert sich Hochhäusler nicht für seine Figuren und deren Beziehungen zueinander, alles „stimmt“, doch es ist ein kaltes Feuer, welches Hochhäusler in „La Mort viendra“ entfacht.
Marie ist dabei, sich als Autorin zu etablieren, aber ebenso wichtig ist es ihr, als junge Mutter alles „richtig“ zu machen. Sie tauscht sich in eine Müttergruppe mit anderen aus und wird von einer aus der Gruppe, die vorgibt, ihre Bücher zu kennen, mit dem Wunsch nach näherem Kontakt bedrängt. Ein Fan, eine Stalkerin? Eines Tages stößt Marie auf eine Sensationsmeldung: eine Französin habe, so die Schlagzeile, ihre zehn Monate alten Zwillinge in der Badewanne ertränkt... Das interessiert Marie erst als Schriftstellerin, doch schon bald wird es für sie zur Obsession: was, wenn auch sie ein solch düsteres Verlangen hätte? Ihr Freund versucht, sie zu beruhigen, doch Marie lässt sich nicht von ihrer fixen Idee abbringen, also wird die seltsame Frau aus der Müttergruppe für Marie immer mehr zur Vertrauten, nistet sich bei Marie ein... „Salve Maria“ (Spanien 2024; Regie: Mar Coll) führt vor, wie sich Maries Ängste zu Wahnvorstellungen verdichten, entwickelt ein System der Andeutungen und der (bedrohlichen) Töne. Wann immer Marie versucht, zur Ruhe zu kommen, dringt etwas an ihr Ohr, das sie nachhaltig irritiert... „Salve Maria“ von Mar Coll ist – fast – ein Horrorfilm, leider nur fast, denn dessen Intensität nimmt dank „Erklärungsversuchen“ gegen Ende des Films ab – schade, denn „Salve Maria“ macht bis dahin alles richtig und bleibt jedenfalls als einer der stärksten Wettbewerbsbeiträge im Gedächtnis.
Zhili ist innerhalb Chinas als die „Metropole der Kinderkleidung“ bekannt. In der Stadt, die in der Provinz Zhejiang liegt, haben 14.000 Firmen ihren Sitz, die jährlich 1,45 Milliarden Kleidungsstücke für den nationalen und internationalen Markt produzieren.
Soweit die beeindruckenden Zahlen der Produktion. Aber wie, unter welchen Bedingungen, die Kleidung in den Textilwerkstätten hergestellt wird das ist die andere Seite der Medaille, für die sich Wang Bings Doku „Qing chun (Ku)“ (Youth-Hard Times) interessiert. Eines ist es , den Zustand der Werkstätten und die häufig veralteten und fehleranfälligen Maschinen (es soll „möglichst günstig“ produziert werden...) in Anschein zu nehmen, ein anderes, wie die Arbeiter:innen, häufig aus entlegenen Provinzen kommend und meist im jugendlichen Alter, von ihren Vorgesetzten behandelt werden. Aber was passiert, wenn der Chef samt Kasse verschwindet und die Arbeiter:innen um die (ohnedies schon Monate ausstehenden) Löhne geprellt werden? Zunächst nichts, so zeigt uns „Quing chun (Ku)“, denn die Partei wiegelt ab und die herbeigerufene Polizei, als sie denn endlich kommt, interessiert sich mehr für die protestierenden Arbeiter:innen (unbotmäßig...) denn für den mit der Kasse verschwundenen Chef. Der Versuch der Selbstorganisation ist trotz heftiger Diskussionen in Versammlungen schwierig, weil die Angst vor Konsequenzen Entscheidungen behindert. Schließlich soll die Einrichtung der Werkstätte verkauft werden, doch die Käufer:innen erweisen sich als gewieft im Drücken der Preise...
Wang Bing vermittelt mit „Qing chun (Ko)“ (Frankreich/Luxemburg/Niederlande 2024) eine erschreckende Bilanz der Lage der Arbeiter:innen in China (welches angeblich ja nach wie vor von der „Kommunistischen“ Partei regiert wird...) Diese sind rechtlos, schlecht bezahlt, die Arbeits- und (nicht zu vergessen) Wohnbedingungen sind „improvisiert“, die Solidarität für die Mitverschworenen häufig angesichts des äußeren Drucks brüchig... Ein Desaster, dokumentiert durch den unbestechlichen Blick der (Hand-)Kamera. Erstaunlich, wie (und dass) es Wang Bing gelungen ist, das Vertrauen der jugendlichen Protagonist:innen zu erringen und – dies teilweise wohl den chaotischen Verhältnissen vor Ort geschuldet – Dreherlaubnisse zu erhaschen, im Zweifelsfall diese mögliche Hürde wohl auch ignorierend...
Noch einmal Dokumentarisches: Nach vierzig Jahren kehrt Fida, die in den 1980er-Jahren in Beirut aufwuchs, in ihre Geburtsstadt zurück. Sie ist ein Kind des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990), dem nie etwas anderes begegnet ist als Gewalt. Erwachsen, ausgerüstet mit einer Kamera, kehrt sie zurück – als Anwältin des Kindes Fida – stellt den örtlichen Protagonisten der Bürgerkriegsparteien Fragen, fordert retrospektiv dessen Recht auf eine unbeschwerte Kindheit ein... Mithilfe von Miniaturfiguren und Modellen stellt Fida – eine kindliche Perspektive verwendend – Situationen nach und konfrontiert ihre Gesprächspartner mit dem ausweglosen Alltag eines Kindes, dieses Kindes, im Beirut der 1980er-Jahre. Dies alles in unaufgeregter Atmosphäre, die netten älteren Herren, die damals das Sagen hatten, zeigen Verständnis, denn Schuld hatten die anderen, nicht so empathischen Bürgerkriegsparteien, im Zweifelsfall Israel...
„Green Line“ (Frankreich/Libanon/Qatar 2024; Regie: Ballyot) erzählt über den Mangel an Einsicht, auch nach Jahrzehnten, über ein vierzig Jahre älteres „Kind“, das plötzlich „aufmuckt“ und unangenehme Fragen stellt... „Green Line“ zeigt den Krieg von innen, der von außen kommende steht den Fidas von 2024 wohl noch bevor: eine abschreckende Perspektive...
Verschüttete Erinnerungen: Als zum Geburtstag von Karens Mann Markus der „Rest der Familie“, angeführt von Karens Schwester Jule eintrifft, long time no see, platzen alte Wunden auf: an eine Kindheit, die alles andere als idyllisch war, an Eltern, die vor den Kindern Geheimnisse hatten, an ein Haus als Festung im Geschlechter – und Generationenkrieg ... Die Feierstunde wird zur Abrechnung, nicht nur zwischen den Kindern von gestern, sondern auch zwischen den Generationen, die hier aufeinander treffen: auch die Nachgeborenen fühlen sich verraten...
Eine dystopische Familie, in der jede/r den/die Anderen hasst: passenderweise hat sich Ramon Zürcher als Anlass dieser Schlacht in „Der Spatz im Kamin“ (Schweiz 2024) eine Geburtstagsfeier ausgesucht und als deren Ort ein Haus, aus dem es kein Entkommen gibt...
Diese keineswegs neue Konstruktion nicht in Klischees abgleiten zu lassen, gelingt Zürcher durch zahlreiche Perspektivwechsel sowie durch die Beimengung surrealer Elemente. Das schauspielerische Atout des Films ist – inmitten eines hervorragenden Ensembles – aber einmal mehr Maren Eggert, die Meisterin des Uneindeutigen, der Zwischentöne (auf der Bühne wie vor der Kamera). Obgleich sie in „Der Spatz im Kamin“ in ihrer Rolle als alle und jede/n beherrschende Hausherrin scheinbar festgelegt ist, gelingt es ihr, Schicht um Schicht ihrer Figur freizulegen, hinter deren Dominanz deren Verletzlichkeit zu zeigen. „Der Spatz im Kamin“ aber interessiert sich frei nach Karl Kraus, für die Familien-Bande: wehe, wenn sie losgelassen...
Concorso Cineasti del Presente
Die junge Lehrerin Juci trifft in „Fekete pont“ (Lesson Learned; Ungarn 2024; Regie: Balint Szimier) auf demotivierte Schüler:innen und Lehrer:innen, die „Dienst nach Vorschrift“ anstelle pädagogischer Bemühungen betreiben. Dass Juci andere Unterrichtsmethoden einführen will, wird nicht gerne gesehen. Alles soll bleiben, wie es ist, Vorschriften und Rituale sind einzuhalten... Schon bald wird klar, dass „Fekete pont“ kein Schulfilm ist. Die Unbeweglichkeit, die Verbissenheit, mit der alles Ungewohnte abgelehnt wird, wie selbst eine streunende Katze, die alle Kinder lieben (und füttern) von einer älteren Lehrerin zur drohenden Infektionsgefahr erklärt und heimlich vergiftet wird und ein despotischer Schulwart absurde Regeln aufstellt, an die sich alle zu halten haben, macht klar: was hier gezeigt wird, ist keine Schule, sondern ein erstarrtes Land, das sich nach innen wie außen abschottet...
„Lessons Learned“ heißt Balint Szimiers Film im englischen Titel: nichts geht mehr – die Schule als Exempel.
Tunesien, 2024: zwei Hirtenjungen, Cousins, der jüngere verehrt den (etwas) älteren und folgt ihm auf allen Wegen, werden in den Bergen von vermummten Gestalten, die Aktivisten des IS sein könnten, überfallen. Den älteren Jungen namens Nizar halten sie für einen „Spion“, der in ihr Revier eingedrungen sei. Er wird von ihnen gefoltert und getötet. Den postmortal abgeschlagenen Kopf übergeben sie dem dreizehnjährigen Achraf, verbunden mit dem schrecklichen Auftrag, er möge dieses „Geschenk“ der Familie des Ermordeten bringen – zur Mahnung.
Wie soll Achraf der Mutter seines Freundes entgegentreten, wie das selbst nicht Verarbeitbare den Anderen berichten? Das Dorf beschließt, den Körper Nizars zu bergen, um Nizar den religiösen Vorschriften gemäß beerdigen zu können. Achraf soll sie zu dem Ort des unbeschreiblichen Geschehens führen, doch das Gebirge ist von den Bedrohern vermint und der traumatisierte Achraf verläuft sich auch prompt...
„Les Enfants rouges“ (Red Path; Tunesien/Frankreich 2024; Regie: Lotfi Achour) erzählt über Freundschaft, Angst und den Zusammenhalt eines terrorisierten Dorfes, das der (unsichtbaren) Gefahr stets gewahr sein muß.
Hier, „in the middle of nowhere“ ist keine rettende (staatliche) Instanz in Sicht, bis da (wenn überhaupt) Hilfe auftaucht, hat alles keinen Sinn mehr. Die da leben, müssen dem jeweils Anderen vertrauen, es geht nur miteinander.
Retrospettiva
Die diesjährige Retrospektive „The Lady with the Torch“ war der Glanzzeit der Columbia Pictures gewidmet – das Studio feiert heuer sein 100-jähriges Bestehen.
Hier sei mit „The Glass Wall“ein weithin unbekanntes Juwel aus den 1950er-Jahren herausgegriffen: Der Film ist ein einstiger Locarno-Sieger.
Da ist einer eben aus dem KZ entkommen und sucht Zuflucht in den USA. Um dort von den Behörden anerkannt zu werden, benötigt er einen Bürgen. Doch von dem Einzigen, der für ihn aussagen könnte, einem US-amerikanischer Jazzmusiker, dem er zur Flucht aus dem KZ verholfen hat, kennt er nur den Vornamen.
So wird ihm nicht geglaubt. Von der Ausweisung bedroht, springt er von Bord des Schiffes, das ihn in die USA gebracht hat, irrt durch New York auf der Suche nach seinem Freund und wird von den Medien, obwohl er nichts verbrochen hat, zum „Staatsfeind“ erklärt...
„The Glass Wall“ (USA 1953; Regie: Maxwell Stone) war der erste US-Film für den großen Vittorio Gassman in ungewohnter Rolle. Am Ende findet sich der Flüchtling, mit dem Rücken zur Wand, im (glasverbauten) UN-Gebäude wieder, wo er in einem leeren Saal eine Rede hält:
„You came here to bring peace to the world, but what is the world as long as there is one man who can’t walk free? As long as there is one displaced person without a home? There won’t be peace.“
Hier finden wir uns mittels einer Zeitreise (Entstehungsjahr von „The Glass Wall“:1953) in der Gegenwart wieder...
Kurt Hofmann