die Linke

Menüpfad zur ausgedruckten Seite: Home Artikel Kultur & Film Dem Virus zum Trotz
Adresse: https://dielinke.at/artikel/kultur-film/dem-virus-zum-trotz

Seit Jahrhunderten nichts geändert

Kurt Hofmann

Zum Filmfestival in Locarno 2023

15.08.2023

In seinem nunmehr dritten Jahr ist es Festival-Direktor Gioana A. Nazaro endlich gelungen, den eigenen ehrgeizigen Erwartungen gerecht zu werden: Locarno 2023 hatte einen hochwertigen Wettbewerb zu bieten, der den Status von Locarno als A-Festival festigte. Die Retrospektive, kuratiert von Olaf Möller, war dem Mexikanischen Film gewidmet.

Concorso Internazionale (Wettbewerb)

Dass die Wahl der Jury für den „Goldenen Leoparden“ auf „Critical Zone“ des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh fiel, ist auf den ersten Blick etwas überraschend, denn „Critical Zone“ ist zwar ein gelungener, aber keineswegs des beste Film des diesjährigen Wettbewerbs. Betrachtet man allerdings die ungewöhnlich heftigen Proteste der iranischen Behörden gegen dessen Vorführung in Locarno, ergibt sich ein anderes Bild.

Auf vielen Festivals der letzten Jahre wurden iranische Filme mit großteils subtiler, bisweilen sogar heftiger Kritik an den politischen Verhältnissen in diesem Land gezeigt, meist in stillem Einverständnis der iranischen Behörden, welche allfällige Preise dann dennoch für sich verbuchen konnten.

„Critical Zone“ ist ein anderer Fall: Von Religion und Unterdrückung ist da keine Rede, staatliche Repression spielt darin keine Rolle. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Alltag des Drogendealers Amir, der seine Kund:innen in Teheran versorgt. Zu Beginn des Films ist zu sehen, wie Amir nach einer Grenzfahrt daheim mehrere riesige Pakete auspackt und später liebevoll wie Santa Claus in handliche kleine Schachteln verpackt. Draußen warten sie schon auf ihn, wenn er, angeleitet durch sein GPS, mit seinem Auto die Stadt durchquert: Die Pensionist:innen, denen er Haschkeks mitbringt, die Stammkund:innen, die auf härteren Stoff warten, oder auch die besorgte Mutter, die unterwegs zusteigt, ihn als Arzt anspricht und zum Krankenbett ihres süchtigen Sohnes ruft. „Da kommt der gute Doktor!“ verkündet sie ihrem Kind. Und während sie in der Küche Tee zubereitet, hat der auch die entsprechende Medizin für den Filius parat...

„Critical Zone“ ist ein sarkastisches Zerrbild des laut Eigendarstellung obsorglichen Staates, dessen soziale Leistungen allenfalls mit der Beigabe der religiösen Sedierung denkbar sind. Amir benötigt für seine Profession keine Verschleierung: Jede/r weiß, wofür er steht. Aber so etwas wie Amir gibt es doch nicht in der iranischen Republik – oder? Eben hier beginnen die Probleme der iranischen Behörden mit „Critical Zone“, wenn die Kluft zwischen Selbstbild und Realität sichtbar wird. Gegen Ende des Filmes setzt Regisseur Ahmadazeh noch einen weiteren Kontrapunkt: An einer Straßenkreuzung wartet der Teheraner Drogenstrich auf Amir – eine Reihe wird gebildet, nach und nach erhält jede/r eine „milde Gabe“, dem Wohltäter wird die Hand geküsst... Strich-Prostitution: aber so etwas gibt es doch nicht in der iranischen Republik – oder... ?

Fünfzehn Jahre nach dem gewaltsamen Tod einer Umweltaktivistin und Künstlerin will der hartnäckige Ermittler Papauran diesen Cold Case aufklären. In einem langen Gespräch mit einem Staatsanwalt diskutiert Papauran zu Beginn von „Essential Truth of the Lake“ den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit, wie sich Formalitäten und Vorwände vor den Aufklärungswillen drängen... Soweit das Programmatische im neuen Film des philippinischen Meisterregisseurs Lav Diaz. Was dann aber passiert, oder vielmehr nicht passiert, entfernt sich zunehmend vom Kriminalistischen und dem üblicherweise in diesem Genre anstehenden Showdown. Denn Papauran hat es nicht eilig. Er lässt sich von den durch ihn zu Befragenden verköstigen und beherbergen, zieht irgendwann dann weiter, ohne Essentielles erfahren zu haben. Ein Müßiggänger der Ermittlung, der aber möglicherweise, so deutet es Lav Diaz an, ohnedies schon längst alles weiß... Auch Diaz lässt sich, wie immer Zeit, sein kritisch-philosophisches Slow Cinema ist aber diesmal mit viel Ironie gewürzt...

Von ferne erinnert der neue Film von Lav Diaz an „Twin Peaks“ von David Lynch. „Essential Truth of the Lake“ ist aber ebenso voll der Querverweise auf die griechische Antike. Das fängt mit dem Vornamen des Detektivs Papauran an: Hermes. Hermes, der Götterbote, aber auch: der Totenführer... Und setzt sich fort mit ständigen Verweisen auf die Odyssee – durch Papauran während seiner Ermittlungen oder auch nur in der Namensgebung der Figuren... Wem das nicht auffällt, der/die darf immer noch, zusehend während entspannter 215 Minuten, versuchen, ein filmisches Puzzle des Götterboten Lav Diaz zusammenzusetzen...

„Do Not Expect Too Much of the End of the World“: So ein Titel kann nur dem rumänischen Regisseur Radu Jude einfallen und im Gegensatz zum Weltende waren die Erwartungen in Judes neuen Film (zu Recht) hoch.

Angela fährt durch Bukarest. Sie ist fast rund um die Uhr für ein multinationales Unternehmen tätig, um Unfallopfer für Videos zum Thema „Sicherheit am Arbeitsplatz“ zu casten. Deren Perspektive spielt dabei keine Rolle, die Dramaturgie der Aufnahmen folgt den Vorgaben des obersten Konzernchefs mit dem beziehungsreichen Namen Hans Frank... Freilich lohnt sich der Einsatz für Angela kaum – Aufwand und Bezahlung stehen in keinem Verhältnis. Als Kontrast erfindet Angela via Handy auf Instagram die androgyne Kunstfigur Bobitzá, einen, der die Verheißungen des allgegenwärtigen Turbokapitalismus mit unflätigen Kommentaren versieht, eine „Unperson“ ohne Marketingwert...

Dem schwarzweißen Alltag von „Do Not Expect...“ aus dem Jahr 2023 stellt Radu Jude Sequenzen aus dem 1981 entstandenen Farbfilm „Angela Moves On“ über eine Bukarester Taxifahrerin, die sich in einen Fahrgast verliebt, gegenüber. Damals: eine stereotype Geschichte, langsam erzählt, auf Einverständnis setzend. Heute: Angela darf sich „Produktionsassistentin“ nennen, wissend, dass die zynische Realität des rastlosen „Immer weiter!“ keine Perspektive für sie bereithält...
„Do Not Expect...“ erhielt den Spezialpreis der Jury

Ein klappriger Bus fährt durch eine trostlose Gegend. Kaum zu glauben, dass einer der Fahrgäste hier ein Ziel hat, gar aussteigen will. Aber ein Mann mittleren Alters mit allerlei Gepäck macht sich auf den Weg. Es ist Anatoliy, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, um seiner sterbenden Mutter beizustehen. Ania, die er von klein auf kennt, hat sich in den letzten Jahren um die Alte gekümmert. Dass sie weiterhin deren Pflege übernimmt und mehrmals die Woche kommt, erscheint Anatoliy selbstverständlich. Er hat nicht nachgefragt, ob Ania vielleicht andere Pläne hätte, bedankt sich aber höflich, gibt ihr ein wenig Geld und bietet ihr immer wieder an, sie in der winterlichen Düsternis heimzubegleiten, was diese lächelnd ablehnt. Manchmal erkennt die demente Mutter Anatoliy, bisweilen verlangt sie aber auch lautstark nach dessen abwesenden Bruder... Als sie endlich stirbt, finden sich die Dorfbewohner:innen zu einer Totenwache in Anatoliys Haus ein. So, wie sich in dem Dorf seit Jahrhunderten nichts geändert zu haben scheint, wirken auch dessen greise Bewohner:innen, als seien sie seit jeher da... Zum Begräbnis ist auch der Bruder gekommen und erschießt danach Anatoliys geliebten Hund. Nun, da Anatoliy wieder in die Stadt zurückkehrt, hätte er für diesen ohnedies keine Verwendung mehr, meint er lakonisch... Und auch Ania, die seit Kindertagen in Anatoliy verliebt ist, erklärt sich nicht. Einer geht, eine bleibt – das ist der Lauf der Welt...

Der Ort des Geschehens in „Stepne“ liegt in der Ostukraine. Der Zeitpunkt des Geschehens muss, einzig ein Smartphone verrät es, mit dem gegen Ende des Filmes einer telefoniert, der an der Verlassenschaft interessiert ist, nahe der Gegenwart sein, aber (noch?) keine Rede vom Krieg.Eher schon von Tschechow... Maryna Vroda (unter anderem...) eine Meisterin des Lichts und der Stimmungen, hat verdientermaßen den Preis für die Beste Regie erhalten. Allein den schemenhaften Leichenzug für lebendig erklärte Gespenster, die eine Tote zu Grabe tragen, wird man lange im Gedächtnis behalten...

Ein All-inclusive-Hotel in Griechenland: hier sollen die Tourist:innen bei Laune gehalten werden. Stimmung!: Dafür sind allen voran die Animator:innen und deren „Anführerin“ Kalia zuständig. Was diese allabendlich vorzeigen, erweist sich (eine Überraschung) nicht nur als stupide, sondern (auch) als stupend. Eine junge Frau, die ursprünglich vom Zirkus kommt, hat sich beworben und passt auch ins Anforderungsprofil. Denn für jeden Auftritt wird hart trainiert, es werden Choreographien entwickelt, Kostüme geschneidert, ganz so, als würde für eine Theateraufführung geprobt. Und sie ziehen weiter, wie eine Zirkustruppe, die allerorten ihre Kunststücke vorführt. Mitten drin Kalia, die wie keine andere das Spiel mit dem (touristischen) Publikum beherrscht...

Sofia Exarchous „Animal“, eine Dokufiction (mit österreichischer Produktionsbeteiligung), die bisweilen an die Arbeiten von Covi/Frimmel erinnert, verschweigt nicht, wie schon der Titel verrät, die harten Arbeitsbedingungen bei geringer Bezahlung, fordert aber Respekt für ihre Protagonist:innen ein. Sie müssen immer „funktionieren“, auch wenn ihnen nicht der Sinn danach steht. Zuletzt wird ausgerechnet Kalia, die immer schon da war, das hinterfragen...

Außerhalb des Wettbewerbs

Concorso Cineasti Del Presente

Ein Dorf in Indien: Der Priester der christlichen Sekte, die dort den Ort beherrscht, kündigt apokalyptische Zustände an: eine 80tägige vollständige Dunkelheit werde kommen, aber das Dorf könne mit der Kraft des Glaubens all das überleben. Doch damit die Herde intakt bleibt, müssen die Schäfchen auch einen (solidarischen) Obulus leisten... Da sind auch „die“ von „draußen“, die irgendwann das Dorf überfallen werden und ein als verschwunden gemeldetes Kind wohl schon getötet haben... Schnell ist so ein Gerücht verbreitet und die Vorboten der Apokalypse identifiziert: erst werden Flüchtlinge aus einer benachbarten Region verdächtigt, dann endlich finden sie einen, der ihre Sprache nicht spricht und daher wohl der Schuldige ist: er wird gelyncht...

„Rimdogittanga“ (Rapture; Indien 2023; Regie: Dominic Sangma) ist ein Lehrstück über Manipulation: ein korrupter Priester, ein Gerücht, das ein Dorf in Aufruhr versetzt. Nichts von dem, was vorausgesagt wird, trifft auch ein. Aber die Apokalypse ist schon da - wenn auch nicht in Form einer Dunkelheit - denn die (geschürte) Angst und das Mißtrauen haben sich durchgesetzt...

Zwei Frauen, die einander einmal geliebt haben. Jetzt beklagt sich die eine über Vernachlässigung, die andere über Larmoyanz... Ein Opfer, eine Täterin? Aber so einfach ist das nicht. Die „Täterin“ trifft auf einen Exfreund. Tanz mit mir, sagt der, und... Wenig später sehen wir die beiden auf der Bühne, in eben dieser Konstellation...

„Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ – ein schöner Titel für den Film von Katharina Lüdin (Deutschland 2023) über Theater und Leben. Off-Theater-Akteur:innen, die miteinander spielen. Improvisation ist angesagt, im Leben wie auf der Bühne. Katharina Lüdins Film zeigt, wie notwendig es für alle ist, immer in der „Rolle“ zu bleiben...

Spanien, 2011: Eine Meldung im Radio: die ETA legt die Waffen nieder. Doch deren Erklärung wird von der offiziellen Propaganda verworfen. Man dürfe den Terroristen nicht trauen... Eine junge Frau will an die Grenze. Sie hat Gründe, das Land zu verlassen. Einer bietet ihr an, ihr zu helfen. Vorläufig, so sagt er, bringe er sie zu einem Bauern, bis er sie dann abhole. Doch die junge Aktivistin wartet Wochen, bis sie den Bauern, der nicht mit ihr spricht, ihr Leid klagt. Seit Monaten habe sie ihre Eltern nicht gesehen. Der antwortet ihr in einem Satz, um danach wieder zu schweigen: er, der Bauer, habe die Seinen schon seit Jahren nicht gesehen...

„Negu hurbilak“ (Spanien 2023; Regie: Colectivo Negu) zeigt eine junge baskische Aktivistin im Niemandsland nahe der Grenze, die nicht vor und nicht zurück kann. Der wortkarge Bauer und die abweisende Landschaft, die ins Nichts führt: „So geht es nicht weiter/Aber was ist der Ausweg?“ heißt es dazu bei Brecht...

Piazza Grande

Nora arbeitet in der Kanzlei eines Wirtschaftsanwaltes. Als dieser aus Gefälligkeit für einen Freund einen Mordfall annimmt, beauftragt er Nora mit der Vertretung des Klienten. Es wird Noras erster Fall vor Gericht und die Ambition obsiegt über die Nervosität. Keine/r nimmt sie ernst – nicht der ermittelnde Polizist, in den sie sich unglücklicherweise verliebt, nicht die Richterin, nicht ihr Chef, nicht ihr Klient, der sie dreist belügt. Nora beschließt, nicht mehr nach den Regeln zu spielen, entdeckt die dirty tricks für sich. Die hehren Ideale hat sie begriffen, haben im Justizsystem keinen Platz. Vielleicht ist sie zynisch geworden, jedenfalls aber erfolgreich...

„Première affaire“ (First Case; Frankreich 2023; Regie: Victoria Musiedlak) erzählt über eine, die sich emanzipiert: von ihrer Familie, die ihr nichts zutraut, in einer überheblichen, männerdominierten Welt der Justiz, in der eine wie sie üblicherweise nur als Randfigur fungiert. Das geht mit (zwischenmenschlichen) Verlusten einher, doch nette Mädchen von nebenan, das hat Nora begriffen, werden für ihre Freundlichkeit nicht belohnt...

Retrospektive

Für Rafael gibt es in Mexiko keinen Job. Um legal in den USA Arbeit zu finden, benötigt er Papiere, die ihm wegen einer Vorstrafe verweigert werden. Also wendet er sich an einen Fluchthelfer. Doch der ist korrupt und schickt die ihm Anvertrauten in den sicheren Tod. Rafael überlebt, doch er sinnt auf Rache...

„Espaldas mojadas“ (Wetbacks; Regie: Alejandro Galindo), entstanden in Mexiko 1955, ist zwar möglicherweise nicht, wie Kurator Olaf Möller meint, „der politisch dringlichste Film des Jahres 2023“, dafür ist er zu überdeutlich inszeniert, doch der Zorn des Protagonisten (samt Bestrafung des Schurken ...) wirkt wohltuend angesichts so mancher Betulichkeit in der aktuellen Debatte ...