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Ihr Leben 2.0

Kurt Hofmann

Zu Crossing Europe 2023

03.05.2023

„Crossing Europe“, das Festival des europäischen Films in Linz, bot auch im zweiten Jahr der Intendanz von Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler ein vielfältiges Programm abseits der Klischees.

Was für eine glückliche Familie: vom ständig filmenden Vater, einem Regisseur, werden in zahlreichen Homevideos fröhliche, lebhafte Kinder gezeigt, irgendwie ist die Mutter auch dabei, wenngleich sie selten bis nie die Protagonistin dieser Aufnahmen ist. Für den meist abwesenden, weil vielbeschäftigt in der Welt herumreisenden Vater sind die bei seinen Besuchen in der Familie aufgenommenen Szenen Beweismaterial: so sind wir, zufrieden und jede/r an seinem/ihrem Platz...

Allerdings war Valerie, die Ehefrau, einst vielgefragte Make-Up-Künstlerin beim Film, bis sie der Kinder wegen aussteigt – für ihren Mann ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie ihren Beruf aufgibt...

Ihr Leben 2.0: Als Faustine, die Tochter, erwachsen und in vierter Generation Filmemacherin, das Material sichtet, welches sich im Lauf der Jahre angehäuft hat, entdeckt sie, wie manipulativ die vom Vater in den Homevideos vermittelte Sicht ist und stellt eine eigene, ummontierte Version her...

„Une Vie Comme Une Autre“ (A Life Like Any Other; BE/FR 2022; Regie: Faustine Cros) folgt einer bis dahin unentdeckten Spur: der von Faustine zur Rede gestellte Vater versteht die Welt nicht mehr – es war doch immer alles paletti in der Familie, da kann ihn seine Erinnerung doch nicht trügen...

Eben weil der Vater kein Tyrann ist, sondern „bloß“ ein Ignorant, geht „A Life Like Any Other“ über den Beispielsfall hinaus: wie da eine ins Unglücklichsein und die Depression getrieben wird und lange Zeit keine/r etwas merkt, weil eine einzementierte Geschlechterordnung als ebenso selbstverständlich empfunden wird wie die behauptete Harmonie in der Familie, das ist exemplarisch.
Die Tochter entdeckt zudem beim Sichten des Materials, wie die Mutter über Jahre hinweg Distanz zu ihren Kindern entwickelt hat, weil ihr die Luft zum Atmen durch die aufgezwungene Rolle abgeschnürt worden ist – Faustine, dies sehend, beginnt ihre Mutter zu verstehen...

Tymek steht am Beginn einer großen Karriere als Pianist. Er lebt in der Stadt und sieht sich als sensiblen Künstler imstande, sowohl in der Musik als auch im Alltag auf Zwischentöne zu achten.
Sein jüngerer Bruder ist in einem kleinen Ort, wo beide aufgewachsen sind, geblieben. Auch er wollte Musiker werden, doch hat er die Ausbildung geschmissen, weil es ihm, so Tymek, an Konsequenz fehle.
Der Urlaub in seiner Heimatstadt führt Tymek zurück zum Männerbündischen. Man trifft einander in einem Kebabladen, der aus der Sicht der Einheimischen nur den Fehler hat, dass er von Arabern geführt wird, welche die „kulturelle Überlegenheit“ der Polen nicht begreifen wollen...

Dass die ständigen Provokationen der eingeschworenen Clique zur Eskalation führen müsssen, ahnt Tymek zwar, da es aber, anders als in der Musik, im Leben kein vorgeschriebenes Finale gibt, versagt der sensible Künstler und schließt sich dem feigen, doch vertrauten Mob an – home, sweet home...

In „Chleb I Sól“ (Bread and Salt; PL 2022; Regie:. Damian Kocur) wird sichtbar wie eine – männlich dominierte - Gruppe funktioniert, die keine Ziele hat, außer nach unten zu treten, gegen eine Minderheit. Dass es in der tiefsten Provinz keine Perspektive gibt, ist eines – dass der Zeitvertreib in der Einöde nicht zwangsläufig zu Rassismus führen muss, ein anderes.
Woran es fehlt, ist die Courage, sich den alltäglichen Ritualen, verbunden mit Alkohol und Gewalt, zu entziehen und den Gruppenzwang in Frage zu stellen. Hier scheitert auch der heimgekehrte Tymek, dessen „Sensibilität“ entzaubert wird.

Damian Kocurs „Chleb I Sól“ (Bread and Salt) war der Siegerfilm des diesjährigen Festivals - eine gute Wahl.

Da sie ihr Freund, mit dem sie in Tiflis zusammenziehen will, immer wieder am Telefon vertröstet, noch einen Job in einer fremden Stadt erledigen zu müssen, sucht Tina „für den Übergang“ eine Bleibe und findet bei Meg Unterschlupf, die allerdings eine dauerhafte Lösung für das zu vermietende Zimmer vorziehen würde.

Tina lässt sich immer wieder neue Ausreden für die ausbleibende Mietzahlung einfallen, bis sie ihre ehemalige Schwiegermutter, die ihr in inniger Feindschaft verbunden ist, beklaut...

Kein falscher Schritt, nichts preisgeben, was alte Verletzungen aufreißen könnte: die introvertierte Tina trifft auf die extrovertierte Meg, die kontaktfreudig und immer von Freund*innen umgeben ist. Zwei Welten treffen aufeinander, es kommt unvermeidlicherweise zu Konfrontationen. Aber siehe da: Gegensätze ziehen sich an...

„Chemi Otaki“ (A Room of my own; GE/DE 2022; Regie: Ioseb „Soso“ Bliadze) erzählt subtil und variantenreich eine einfache Geschichte: ausgerechnet in der lauten, impulsiven, experimentierfreudigen Meg findet Tina eine, der sie sich anvertrauen kann, die ihr hilft, sich zu öffnen.
Langsam, fast unmerklich, wird aus Freundschaft mehr...
„A Room of my own“ , der Titel ist „ausgeborgt“ von Virginia Woolf, zeigt zwei Frauen, die ihre Lebensentwürfe neu definieren.
Mitten in einer Krise und angesichts der durch COVID-19 notwendigen Einschränkungen entdecken sich Tina und Meg in ihren eigenen Krisen als Gegenstück der jeweils Anderen, werden Komplizinnen.

Die ukrainische Elitesoldatin Lilia hat im Dombass gegen russische Separatistin gekämpft und wurde von diesen gefangengenommen. Nach ihrer Entlassung aus der Haft wird sie daheim als Heldin gefeiert. Was ihr Mann, ein Hundertprozentiger in Sachen Ehre und Treue zum Vaterland, zunächst nicht weiß, ist, dass Lilia schwanger zurückgekehrt ist – das Ergebnis einer Vergewaltigung. Statt mit den Anderen patriotische Rituale zu feiern, zieht sich Lilia zurück. Sie will über das, was geschehen ist, nicht reden, am wenigsten mit ihrem Mann...

„Bachennya Metelyka“ (Butterfly Vision; UA/CZ/HR/SE 2022; Regie: Maksym Nakonechnyi) spielt vor dem „Großen Krieg“ und ist nicht nur die Studie einer Traumatisierung.
Lilias Schicksal – im Krieg gefoltert und vergewaltigt zu werden – steht für viele gepeinigte Frauen, ebenso wie Lilia sich nach außen verhärtet und kaum Verständnis findet.
Das Kind sei von ihrem Mann, vermeint die Familie, und feiert Lilias Schwangerschaft, die sich ein zweites Mal entwürdigt findet. Und ihr Mann, der Hundertprozentige, rühmt sich im Freundeskreis der Niedermetzelung eines Roma-Lagers durch seine Einheit...
„Butterfly Vision“ stellt sich entschieden gegen das Euphorische, gegen die üblichen Schemata. Da ist nichts, was zu feiern wäre, am Soldatentum und am Krieg: Maksym Nakonechnyis Film zeigt vielmehr – ungeschminkt – dessen schmutzige Realität.

Aris soll in einer fremden Stadt einen neuen Job antreten. Aber auf seine Frage, wo sich denn sein Hotel befinde, erhält er von Einheimischen keine Antwort, wird vielmehr aufgefordert, still zu sein, denn es wäre gerade Schweigezeit im Ort und die sei strikt einzuhalten... Überall in der Gegend befinden sich seltsamerweise und unübersehbar Antennen...
Unterwegs begegnet Aris Anna, eine, die immerhin mit ihm redet und ihm sagen kann, wie er zum Hotel kommt – bis zum Hotel begleitet sie ihn aber nicht...
Aris findet das Hotel verlassen vor. Kein Portier ist sichtbar. Niemand antwortet auf sein Klingeln...
Am nächsten Morgen: zwei Stubenmädchen finden auf ihrem Rundgang den im Foyer schlafenden Aris und wecken ihn...
Was ist los in dieser Stadt? Aris entdeckt, dass die Antennen die „Nachrichten“ verschwundener Personen, vorwiegend Frauen, hörbar machen sollen. Ein seltsames Gemurmel aus dem Nirgendwo schwebt über der Stadt...
Aris beobachtet merkwürdige Rituale, einzig Anna, die, wie sich herausgestellt hat, ebenfalls im verlassenen Hotel wohnt, scheint sich diesen zu entziehen. In nächtlichen Spaziergängen kommen Aris und Anna einander näher, doch auch Anna hat, wie alle anderen, ein Geheimnis, von dem Aris nichts weiß...
Szenenwechsel: die beiden Stubenmädchen sind nun plötzlich Krankenschwestern und das Hotel eine Klinik, in welcher komatöse Patient*innen vor sich hinträumen...

Realität - Fiktion? Christus Passalis lässt das in „Isihia 6-9“ (Silence 6-9; GR 2022) offen, legt immer wieder neue Spuren, denen man folgen kann oder auch nicht. Wie Besitz- und Verlustdenken zu Wahn führen, wie Kontrollwahn jede Kommunikationsmöglichkeit verhindert – all dies ist in jeder guten Science-Fiction-Story (wie auch hier) ein Abbild der Realität.

„Isihia 6-9“ (Silence 6-9) war der (kafkaeske) Ausnahmefilm von Crossing Europe 2023 – ein erneutes Beispiel für die Vielfalt und Originalität des Neuen Griechischen Films.