Die Welt ist aus den Fugen
Kurt Hofmann
Zu Crossing Europe 2022 in Linz
05.05.2022
Auch in der ersten Saison des neuen Intendantinnenduos Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler war auf altbekannte Qualitäten Verlass: Weitab der Feelgoodmarke „Eurofilm“ setzten (vorwiegend) junge FilmemacherInnen beim Festival des Europäischen Films abermals neue Akzente abseits des Mainstream.
Einer muss das Opfer sein: Nach diesem Motto haben sich AbsolventInnen einer belgischen Grundschule entschlossen, den elfjährigen Neuankömmling Abel auszugrenzen, zum Paria zu erklären. Immer in der Gruppe und stets ohne Anlass, fallen sie über den schmächtigen Jungen her und quälen ihn. Dessen siebenjährige Schwester Nora will ihm helfen, doch Abel beschwört sie, weder dem alleinerziehenden Vater noch den LehrerInnen davon zu erzählen. Als sich Nora schließlich doch dem Vater anvertraut, wird für Abel, den „Verräter“, alles nur noch schlimmer. Seinen minderjährigen PeinigerInnen gehen die Einfälle, Abel zu erniedrigen, nicht aus. Schließlich vermeint er, die „Lösung“ gefunden zu haben: er schließt sich einer Clique an, die einen noch hilfloseren, unbedarften Jungen ins Visier genommen hat...
„Un Monde“ (Playground; Belgien 2021; Regie: Laura Wandel; Competition Fiction) befasst sich mit einer nicht zu leugnenden Alltäglichkeit an Schulen: dem Mobbing – wie eine/r buchstäblich zu Müll erklärt (seine PeinigerInnen stecken Abel in die Mülltonne), zum Spielball sadistischer Kindheitsphantasien wird, deren Wurzel freilich im Oben und Unten, in der Ellenbogengesellschaft der Erwachsenen, denen man in einem System der Egoismen die Solidarität ausgetrieben hat, liegt.
„Un Monde“ zeigt einen Teufelskreis des sich täglich potenzierenden Wahnsinns. Wie hilflose, aber auch desinterssierte LehrerInnen abwinken, wenn sie außerhalb der schulischen Routine Interesse zeigen, Gespräche führen müssten. Warum mitfühlende PädagogInnen kapitulieren, wenn ihnen vermittelt wird, dass Interventionen zu aufwendig und daher nicht vorgesehen sind.
Die Schule, zeigt Laura Wandel, ist hier zur Ausbildungsstätte einer rücksichtslosen Gesellschaft verkommen, in der es ein Miteinander nur noch gegen Schwächere gibt.
Eine Attacke: Margaret hat ihre Mutter geschlagen und die Einrichtung der familiären Wohnung zertrümmert. Christina, erfolgreiche Pianistin und Matriarchin einer vieltöchtrigen Familie, sieht ihre Karriere zerstört, als sie erfährt, dass die Attacke ihrer ältesten Tochter einen Teil ihrer Hörfähigkeit zerstört hat. Sie erteilt Margaret Hausverbot, berechnet die Anzahl der Meter, von denen aus sich diese ihr nicht nähern darf, zieht eine Grenzlinie, lässt sie vielmehr durch ihre halbwüchsige jüngste Tochter, das Küken der Familie, mit Farbe markieren.
Doch die Verhältnisse, die sind nicht so: Margaret ist zwar ungebärdig (insbesondere, wenn sie provoziert wird... ), aber im Gegensatz zu ihrer rücksichtslosen, nur sich selbst liebenden Mutter, mitfühlend.
Hinter der Linie, von Müllhalden, von Dächern aus, beobachtet Margaret das Haus ihrer Familie, in dem die gemeinsame Weihnachtsfeier vorbereitet wird. Auf einer freien Fläche nahe der Straße unterrichtet Margaret ihre jüngste Schwester, die sich einem Chor angeschlossen hat, im Gesang. Eine Rückkehr in die Familie scheint für Margaret ausgeschlossen und miteinander zu reden schwierig, da es an Vokabeln einer gemeinsamen Sprache, in der man sich verständigen könnte, fehlt...
„La Ligne“ (The Line; Schweiz/Frankreich/Belgien 2022; Regie: Ursula Meier; European Panorama Fiction) widmet sich den sichtbaren wie unsichtbaren „Linien“ zwischen den Generationen, kurz, der „Familien-Bande“ (Karl Kraus).
Der Konflikt scheint unauflösbar, auch wenn alle darunter leiden. Dass die in dieser Konstellation naheliegenden Klischees in „La Ligne“ vermieden werden, dafür sorgt Valeria Bruni Tedeschi als herrlich überdrehte Christina, welche abweichende Argumente ebenso wie eine unpassende Realität mit einer souveränen Geste wegwischen kann. Sie lebt in ihrem eigenen Universum und erwartet von ihrer Familie lediglich, deren fehlerhafte Existenz ihrer idealen Welt anzupassen – ein bescheidener Wunsch...
„Die Welt ist aus den Fugen“ bemerkt der Dänenprinz Hamlet, der in Wittenberg studiert hat. Das stimmt heute noch und es gab Zeiten, in denen an Deutschlands Universitäten, auch an den Schulen mehr über den Zustand der Welt diskutiert wurde (exklusive der aktuellen Kriegsdiskussionen). Aber es gibt sie noch, die ZweiflerInnen am Zustand der Gesellschaft, an der „Alternativlosigkeit“ der neoliberalen Vorgänge, an den undemokratischen Strukturen in den Ausbildungsstätten, die mehr Partizipation verhindern. Caroline Pitzen hat sie für ihren Film „Freizeit Oder: Das Gegenteil von Nichtstun“ (Deutschland 2021; European Panorama Fiction) aufgestöbert und zum (Miteinander-)Reden gebracht. Antikapitalistische Jugend im Aufbruch?: So ist es. Ist es so? Denn bei Pitzens Film handelt es sich um eine Dokufiction. Wohin die Reise geht in „Freizeit Oder...“, das ist gescriptet, einem Casting der in Frage kommenden Widerständigen folgte die Aufteilung in nach Eignung verteilte Gruppen. Danach aber: Improvisation, Pläneschmieden. Freizeit in Berlin: Sie treffen einander in der Straße, in Wohnungen, Parks, am See... (die Dreharbeiten fanden in vorpandemischen Zeiten statt). Verfehlte Stadtplanung, Sexismus, Mangelnde Mitsprache... - über Ursachen und Folgewirkungen: alles kommt zur Sprache, wird heftig diskutiert. Sie lesen (auf Anregung der Regisseurin) Ronald M. Schernikau, einen, der immer zwischen allen Stühlen saß. Oder sehen gemeinsam „Kuhle Wampe“, nach Brechts Drehbuch entstanden, die Geschichte einer revolutionären Freizeitkolonie. Die Welt ist aus den Fugen, und die wachen, aufmüpfigen ProtagonistInnen in Caroline Pfitzens Diskursfilm wissen das auch.
Adam und Anna sind gewohnt (und erwarten), dass alles funktioniert. Adam arbeitet im gehobenen Management und will, im Bewusstsein seiner Unentbehrlichkeit, in einem gemieteten Ferienhaus in Süditalien ein paar Tage mit seiner ebenso schönen wie „repräsentativen“ Freundin Anna relaxen. Doch nichts klappt im dörflichen Idyll. Der Pool – ausgerechnet – ist vorderhand unbenutzbar, dessen Reparatur offenbar kompliziert, die Arbeiter scheinen nicht ausreichend motiviert, der Lärm der Pressluftbohrer stört die empfindsamen und ruhebedürftigen Ohren des polnischen Erfolgspaares, noch dazu scheint der Vermieter ein Schlitzohr zu sein und bietet statt einer Preisreduktion opulente Mahle in dem ihm gehörenden örtlichen Restaurant an...
Vor der Fertigstellung des Pools verunglückt ein Arbeiter tödlich. Nun werden Adam und Anna gar von der örtlichen Polizei vorgeladen, als wären sie schuld am Versterben des – wie sich herausstellt – illegal beschäftigten Arbeiters. Nichtsdestotrotz sprechen sich Adam und Anna vor ihren Einzelaussagen ab. Denn zugegeben, sie hätten mehr tun können als auf die Behörden zu warten... Während andere LuxusurlauberInnen das Paar zu sinnlosen (Urlaubs)-Aktivitäten nötigen, beginnt Anna daran zu zweifeln, dass alles ignorier- und ausblendbar ist...
„Cicha Ziema“ (Silent Land; Polen/Italien/Schweiz 2021; Regie: Aga Woszczynska; Competition Fiction), von der Jury als Bester Spielfilm ausgezeichnet, erzählt über das Oben und Unten im Europa. Der tote Arbeiter, dessen illegalen (und damit rechtlosen) Status Adam und Anna wohl billigend (da kostensparend) vorausgesetzt haben, ist für die Beiden ebenso inexistent wie dessen plötzlich aufgetauchte Witwe, diese sind Störfaktoren wie die örtliche Bevölkerung, der man notgedrungen ab und zu über den Weg laufen muss. Alles vor Ort ist ineffizient oder aufdringlich, die Wichtigkeit und das Ruhebedürfnis des erfolgreichen Duos wird nicht ausreichend beachtet... Auch als die Polizei ihre Ermittlungen im Todesfall endgültig einstellt, fühlt sich Anna nicht ohne Schuld. Kann es sein, dass ihre perfekte Beziehung ebenso eine Illusion ist wie ihr Bild einer perfekten, fugenlos funktionierenden Welt... ?
Plötzlich einer unvorhergesehenen Situation ausgesetzt zu sein, der man nicht entrinnen kann, das ist die Basis von Schauergeschichten und – der Filme des belgischen Regisseurs Fabrice Du Welz, dem bei Crossing Europe 2022 ein Tribute gewidmet war.
Der Beginn von „Calvaire“ („The Ordeal; Belgien 2004; Regie: Fabrice Du Welz; Tribute Fabrice Du Welz) erinnert zunächst an jenen von Ulrich Seidls aktuellen Film „Rimini“: da ist ein drittklassiger Unterhalter, der sich als Schlagerstar gibt und vor einem „gereiften“ Publikum auftritt. In „Calvaire“ ist die Hauptfigur allerdings deutlich jünger, der Ort kein Hotel, sondern ein Altersheim und der „Entertainer“ flüchtet vor den ihn nach dem Auftritt bedrängenden Seniorinnen, statt diese auszunehmen... Mitten auf dem Weg zu einem „Weihnachtsauftritt“ wohl vor ebenso „ausgewähltem“ Publikum streikt der Transporter des Protagonisten in einer unwirtlichen Gegend. Ein Schild weist auf eine Herberge hin. Obgleich diese so heimelig wie Bates Motel scheint, sieht der Sangeskünstler keine andere Möglichkeit, als sich kurzfristig dort einzuquartieren. Hier trifft er auf Herrn Bartel, der ihm außer der Unterkunft auch Hilfe bei der Reparatur des Transporters anbietet. Abends sucht der Herbergswirt die Nähe seines Gastes, bedrängt ihn, doch einen Song zum Besten zu geben. Fatalerweise erinnert die Musik den Einsiedler Bartel an dessen Ex-Freundin Gloria, die Sängerin war. Nun hält er seinen Gast für eine Reinkarnation von dieser und nimmt ihn/ „sie“ als Geisel...
Rundherum der Wald, die vertraute Kulisse der Angst: Dorthin flüchtet der vermeintliche Showman unversehens, als er sich kurzerhand befreien kann. Später, im naheliegenden Dorf, trifft er auf seltsame Gestalten, die alles andere tun, als ihm behilflich zu sein...
Auffallend in „Calvaire“ ist die Absenz von Frauen. Es ist nicht nur Bartel, der von seiner Gloria vor Jahren verlassen wurde, da ist auch noch ein verrückter Waldläufer, der seine Tage mit der Suche nach seiner einzigen Bezugsperson, einer entlaufenen Hündin verbringt, und da ist die Dorfgemeinschaft, ein sinisterer Männerbund, der in der Dorfschenke seltsame Stammestänze vollführt...
Die Frauen, denen der „Schlagerstar“ im ersten Teil von „Calvaire“ im Altenheim begegnet, gehen auf den Tod zu. Im zweiten Teil, in der Einöde, sind sie offenbar ausgestorben. Was bleibt, ist: männlicher Wahn – der Horror...