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Vom umdefinierten Leben

Kurt Hofmann

Zur Berlinale 2023

01.03.2023

Test-, wenn auch nicht einschränkungsfrei sollte der Ablauf der 73.Berlinale sein. Sie verhieß damit Normalität im Ablauf und lockte mit einem vielfältigen Programm.

Das fängt ja gut an: Nach einer Autopanne müssen Leon und Felix, den letzten Teil ihres Weges zu einem abgelegenen Haus an der Ostsee, das den Eltern von Felix gehört, durch unwegsames Gebiet latschen. Leon, der in ländlicher Abgeschiedenheit seinen zweiten Roman fertigstellen will, ist jetzt schon sauer, erst recht, als er entdeckt, dass noch eine weitere Person unerwarteterweise das Haus bewohnt. Aber Nadja, die mit Erlaubnis der Mutter von Felix ebenfalls einige Tage im deutschen Outback verbringen will, lässt sich zunächst nicht sehen, nur hören, als sie gemeinsam mit einem unbekannten Liebhaber nächtens den hochverdienten Schlaf von Leon stört... Doch der Sommer seines Missvergnügens geht für Leon weiter, da sich Nadja, sichtbar geworden, für ihn als in jeder Hinsicht irritierend erweist. Wenn er sie ersucht, seinen Roman zu lesen, erntet er nicht die erwartete Begeisterung – im Gegenteil...
Auch das noch: Und das von einer, die im naheliegenden Dorf als Sommerjob Eis verkauft. Als sein Berliner Verleger eintrifft und sofort von Nadja angetan ist, muss Leon erfahren, dass Nadja Literatur studiert und – im Gegensatz zu ihm – von seinem Verleger ernst genommen wird. Dieser begegnet Nadja „auf Augenhöhe“, während er für Leons Anstrengungen wenig gute Worte hat. Über Nadja ist Leon gleichermaßen verärgert wie er von ihr fasziniert ist. Währenddessen machen Meldungen über Waldbrände die Runde, doch die werden in einem anderen Teil der Region verortet...
„Roter Himmel“, der neue Film von Christian Petzold, beginnt als Komödie. Der Wiener Schauspieler Thomas Schubert verkörpert Leon sehr unterhaltsam „trocken“ als chronischen Grantler und vermittelt kongenial Petzolds Absicht, dessen unzugänglichen Charakter so zu erklären, dass dieser in einem Kokon stecke, den er aus guten Gründen nicht verlässt...
Hier setzt Petzold an, als „Roter Himmel“ kippt und eine - als zweite Erzählebene stets spürbare – undefinierte Bedrohung sichtbar wird, die alle Übereinkommen zwischen den Figuren in Frage stellt...
In „Roter Himmel“, dem zweiten Teil von Petzolds „Elemente“-Trilogie wird sichtbar, dass man Veränderungen, privat wie auch als Folge ausbleibender politischer Einsicht, nicht ignorieren darf. Das ist souverän, auch in der Balance zwischen Komik und Tragik, inszeniert, gleichzeitig ist unübersehbar, dass „Roter Himmel“ nicht nur der zweite Teil von Petzolds „Elemente“-Trilogie ist, sondern auch der zweite Film seit dem Tod von Harun Farocki, der den Stil von Petzolds Filmen wesentlich (mit-)prägte. Vielleicht haben Petzolds Filme jetzt mehr „Leichtigkeit“,möglicherweise fehlt ihnen aber auch die dramaturgische Stringenz und die gesellschaftspolitische Unerbittlichkeit, welche die Petzold/Farocki Filme prägten... Jedenfalls ist es ein von Petzold bewusst gesetzter Neubeginn – man darf auf das „dritte Element“ gespannt sein...

Simon lässt die Puppen tanzen. Er leitet „The Plough“ (den „großen Wagen“, eigentlich: den „Streitwagen“), ein Marionettentheater, und seine Kinder kennen die Welt nur aus dieser Perspektive... Die Geschichten, die hier von Simon und den Seinen erzählt werden, sind ebenso plakativ (um dem kindlichen Publikum gerecht zu werden) wie weise. Nicht zu vergessen das Vergnügen, welches das eingeschworene Ensemble - ergänzt durch wenige andere, mittels der Theater-DNA ebenso als Familienmitglieder ausgewiesene Akteure, für die Simon zwar nicht Vater, doch unübersehbar Vaterfigur ist - beim Spiel empfindet. Die Puppen sprechen, kämpfen, leiden und lieben durch sie – Lob der Imagination.
Als Simon stirbt, soll alles so weiter gehen wie zuvor. Aber das funktioniert nicht: der eine spannt dem anderen die Freundin aus, die angebliche Harmonie bröckelt ebenso wie die kurze Einigkeit nach Simons Tod, weiterzumachen. Einer will Schauspieler werden, der andere Maler, dem einen kommt mangelndes Talent dazwischen, der andere verfällt dem Wahnsinn. Die Frauen der Kompanie wollen das Theater fortsetzen, doch es kommt Streit um neue Konzepte auf – kann „The Plough“ überleben?
„Le Grand Chariot“ (The Plough), der neue Film von Philippe Garrel, erzählt zum einen über die Ablösung der Kinder von der Welt des Vaters, die sie, als er noch da war, nie in Frage gestellt haben. In der Umdefinierung ihrer Leben sind sie neugierig und zugleich ratlos.
Zum anderen erzählt Garrel, dessen Kinder hier seine Kinder spielen, von etwas, das zu Ende geht. So wie das Marionettentheater ein Gegenentwurf zur aufwändigen Maschinerie der großen Theater ist, stellen die Filme von Garrel, der einer der Letzten aus dem Umfeld der Nouvelle Vague ist, einen Gegenentwurf zum computergenerierten Kino der digitalen Einheitlichkeit dar. Kann der „Große Wagen“ , der notwendig ein „Streitwagen“ sein muss, weiterfahren?

Jon tötet Julian, der ihn begehrt. Im Gefängnis verliebt sich Iro, seine Wärterin, in ihn. Sie versorgt die wunden Knöchel des „Schwellfußes“dessen Schuhwerk Kothurnen ähnelt: Jon ist (ein Wiedergänger von) Ödipus...
Iro gebärt einen Sohn, sie wartet auf Jon. Dessen Entlassung aus dem Gefängnis verheißt den Beiden eine gemeinsame Zukunft. Bis Iro durch Zufall vom Tod ihres Bruders Julian erfährt und erkennen muss, wer ihn getötet hat – sie stürzt sich in den Tod...
„Music“, der neue Film von Angela Schanalec, erzählt von einem Ödipus, der von seiner Schuld nichts erfährt, aber dennoch durch Blindheit gestraft wird. Jon/Ödipus weiß auch nichts davon, dass er von Hirten adoptiert wurde und eine tote Frau, die sie an ihm vorbeitragen, seine Mutter ist...
Blind sein - das heißt bei Schanalec auch: blind sein für..., frei von Erkenntnis. Doch der blinde Tor wird mit Kreativität beschenkt und zum Sänger – Musik als Heilung?
Naturgemäß wird das bei Schanalec nicht linear erzählt, das Assoziative erscheint Schanalec-Unerfahrenen wie immer als Wirrwarr, andere forderten den „korrekten“ Umgang mit dem Mythos oder störten sich an der zeitgenössischen Verortung. Schanalec legt Fährten, die nicht falsch sein können, weil ihre Zuschauer*innen sie weiter denken müssen und hat verdientermaßen den Drehbuchpreis erhalten...

Ein Schiff auf der Seine, am Eingang ein Schild: „Nicht für jedermann. Eintritt nur für Verrückte!“ Ver-rückt hat sich die Sicht auf die Realität für diejenigen, welche die psychiatrische Tagesklinik „L’Adamant“ in Paris frequentieren. Integration statt Stigmatisierung könnte ein mögliches Motto des „L’Adamant“ sein,denn es werden (künstlerische) Begabungen gefördert, eine „Bar“ ermöglicht Unterhaltungen, in denen das Gegenüber ernst genommen wird und an den wöchentlichen Sitzungen nehmen auch PatientInnen teil, dürfen ihre Meinungen äußern, sich „einbringen“.
Es ist ein freundliches, humanistisches Konzept, doch von offener Psychiatrie a la Basaglia oder gar Anti-Psychiatrie ist nicht die Rede. Hinter der Freundlichkeit werden immer wieder Grenzen sichtbar, etwa dann, wenn eine ehemalige Tänzerin fragt, warum sie keinen Workshop für interessierte PatientInnen leiten darf und mit ihrem Wunsch bei den Klinikverantwortlichen nur auf Unverständnis stößt. Argumentiert wird diese Untersagung nicht, doch es wird klar, dass selbst ein Hauch von echter Selbstverwaltung unerwünscht ist, weil er Folgen zeitigen könnte...
In Nicolas Philiberts „Sur l’Adamant“, dem Siegerfilm der diesjährigen Berlinale, werden (von den PatientInnen) Geschichten erzählt, über ihr Leben, wie es war und wie es hätte sein können. Des Weiteren: Über ihre Möglichkeiten und wie sie darin von Anderen ständig unterschätzt werden. Dass sich die Eigensicht bisweilen von der Realität unterscheidet, darf vermutet werden, aber jener behaupteten Realität steht wiederum das gesellschaftliche Konstrukt einer Realität (als Behauptung) gegenüber... Dies wissend, hört Nicolas Philibert den PatientInnen zu, kommentiert weder ihre Geschichten noch die Möglichkeiten der Einrichtung, die sie frequentieren.
„Heilung“, soviel wird klar, ist für die meisten nicht in Sicht, doch wie sollte die auch aussehen?

Yasha und Madina sind „unzertrennliche“ Freundinnen. Nach Schulschluss albern sie auf dem Heimweg herum, schmieden Pläne für „später“, für ein Studium in der Stadt, doch vergessen dabei nicht, dass sie die Schminke aus ihrem Gesicht entfernen müssen, bevor sie zuhause ankommen. Der Ort ist ein Dorf in Tschetschenien und was siebzehnjährige Mädchen zu tun und zu lassen haben, ist genau festgelegt. Yasha lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf einem Bauernhof, muss auch die Tiere im Stall versorgen, sich wennnötig um den kleinen Bruder kümmern. Freizeit ist für sie nur begrenzt vorgesehen, für Grenzerweiterungen ist geschickte „Taktik“ vonnöten...
Yasha hört mit, als ihre ältere Schwester die Mutter besucht und diese anfleht, ihr bei der Trennung von ihrem gewalttätigen Mann zu helfen, doch die wiegelt nur ab, verweist auf deren gemeinsames Kind und darauf, dass sich „das alles“ schon einrenken werde...
Auch Yasha hat keine Hilfe zu erwarten, als eine „Tante“, eine Heiratsvermittlerin, eintrifft und mit der Mutter einig ist, dass siebzehnjährige Mädchen, ehe sie auf „blöde Gedanken“ kommen, mit „dem Richtigen“ zusammengebracht werden sollten...
Yasha versucht, zu fliehen, wird von der besten Freundin an die Familie verraten und zurückgebracht. Dort wartet schon eine Versammlung der Matronen des Ortes, die überlegen, was mit dem aufmüpfigen Mädchen geschehen soll...
„Kletka Ishet Ptitsu“ (The Cage is looking for a Bird; Regie: Malika Museva) zeigt ein mehrheitlich von Frauen (wohl eine späte Folge des Krieges) bewohntes Dorf – doch für die nächste Generation, die Mädchen, ist dadurch nichts besser geworden – alles soll so bleiben wie ehedem, der Käfig wartet auf den Vogel... Allerdings, auch das wird in Musevas Film sichtbar: Mädchen wie Yasha, die nicht mehr an die „ehernen Gesetze“ glauben, werden immer wieder versuchen, ihrem „Käfig“ zu entfliehen, eine nach der anderen...

1982: Der Schriftsteller James Baldwin will erneut Bilanz ziehen, was sich für die People of Color in den USA geändert hat, wie dominant der Rassismus, insbesondere im heimatlichen Süden, noch ist. Er besucht zentrale Orte des Protests in den 1960er-Jahren, befragt dessen ProtagonistInnen, doch die Schlussfolgerung ist ernüchternd: vieles habe sich (per Gesetz) geändert, aber in Wahrheit nichts. Man sieht einen Sheriff, der die Eintragung ins Wahlregister verhindert, Verhaftungen aus geringstem Anlass, Misshandlungen...
Doch die Entscheidung, dem zu widerstehen, ist auch in den nachfolgenden Generationen präsent – auf diese richten sich, so Baldwin beim Besuch einer Schule, alle Hoffnungen...
„I Heard It Through The Grapevine“ (USA 1982; Regie: Dick Fontaine), ist kein „historischer“ Film, in Zeiten, da südliche Bundesstaaten die Gesetze ändern, um PoC an der Wahlteilnahme zu hindern und nahezu wöchentlich Übergriffe, ja Morde durch die Polizei und rassistische FanatikerInnen vermeldet werden. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, das wird, Dick Fontaines Film aus 1982 sehend, deutlich...

Robert ist ein Undercover-Cop. Seine „Eintrittskarte“ in die Online-Drogenszene ist die Transfrau Leni, mit der er einst, als sie noch ein Mann war, liiert war...
„Bis ans Ende der Nacht“ von Christoph Hochhäusler ist nicht nur ein Thriller über verdeckte Ermittlungen, sondern auch ein langsames, schmerzliches Aufdecken über das Verhältnis der Protagonist*innen zueinander. Dazu gehört auch die „schillernde“ Zielperson, der Drogenhändler, dessen Rolle im Dreigestirn ungeklärt ist. Gut-böse: das interessiert Hochhäusler in seinem Film noir nicht. Je mehr die drei einander anlügen, desto mehr kommen sie der Wahrheit näher...
„Bis ans Ende der Nacht“ war ein Höhepunkt der diesjährigen Berlinale. Ein eigenwilliger Genrefilm weitab der Klischees und Erwartungshaltungen, in dem Thea Ehre als Leni ein sensationelles Filmdebüt feierte, welches ihr zu Recht den Preis für die beste Schauspielerin des Festivals bescherte.