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Iran: Der Staatsstreich im Rückblick

Die massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen am letzten Freitag des Ramadan und dann diejenigen anlässlich des Jahrestags der Besetzung der US-Botschaft am 4.11.79 haben nicht nur gezeigt, dass die Opposition noch am Leben ist, sondern auch, dass sie sich zunehmend radikalisiert.

27.11.2009

Einige Monate sind seit dem als Präsidentschaftswahl verkleideten Staatsstreich im Iran vergangen. Es schien, als habe sich der Sieger festigen und die Oppositionskräfte in die Defensive drängen können.
Die massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen am letzten Freitag des Ramadan und dann diejenigen anlässlich des Jahrestags der Besetzung der US-Botschaft am 4.11.79 haben nicht nur gezeigt, dass die Opposition noch am Leben ist, sondern auch, dass sie sich zunehmend radikalisiert. Was auch immer in den nächsten Wochen und Monate geschehen mag – das islamische Regime hat seine Festung verlassen und die Zugbrücke hinter sich unwiederbringlich zerstört.
Das iranische Volk wachte am 13. Juni auf und sah sich mit einem Regime konfrontiert, dass fundamental verschieden war von dem am Abend zuvor. In der Nacht, eine Stunde bevor die Wahllokale schlossen, ging die Meldung über die offizielle Pars-Website, Ahmadinejad habe mit rund 63% der Stimmen gesiegt, sie verschwand dann und tauchte zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale erneut auf. Der Betrug war Teil eines Plans, der Wochen zuvor von den sepah pasdaran (Revolutionsgarden) ausgearbeitet worden war. Mit einem Streich hatten sie weite Teile des klerikalen Establishments entmachtet.
Diese Wahlen waren das letzte Kapitel eines politischen Projekts der Pasdaran und der Usulgaran (Prinzipalisten), das vor allem das Ziel verfolgte, das Land ein für allemal von den vielen Fraktionen zu befreien, die die herrschende Elite von Anfang an gelähmt haben. Nachdem sie zuvor die Stadtparlamente und dann das nationale Parlament erobert hatten, war es ihnen nun wichtig sicherzustellen, dass das Präsidentenamt in den Händen der Usulgaran verbleibt. Schluss mit der Fähigkeit der verschiedenen Fraktionen, den Wahlprozess für Manöver um Macht und Einfluss zu nutzen, Schluss mit der zweiten Hälfte der "Islamischen Republik", der "Republik". Die Revolutionsgarden und eine Handvoll Mullahs, die mehr oder weniger dem Obersten Führer, Khamenei, verbunden sind, hatten den Boden für ein ungehindertes "Kalifat" bereitet – oder?

Der Protest

Das Ausmaß des Betrugs war derart, dass das Volk explodierte. Die Straßen Teherans wurden von Menschen überflutet, die über die Unverfrorenheit der Ergebnisse überrascht waren. Jeder hatte ein gewisses Maß an Betrug erwartet, aber nicht eine so offenkundige Fälschung. Die Leute hatten die Höhe der Wahlbeteiligung und das Vorwahlfieber registriert. In den letzten 30 Jahren hatte eine so hohe Wahlbeteiligung stets einen höheren Anteil an Proteststimmen bedeutet. Die Pasdaran waren wirklich geschockt, wahrscheinlich waren sie auch überrascht. Sie hatten sich auf Proteste vorbereitet. Aber ein solche Menschenmenge in den Straßen Teherans hätten sie sich nicht träumen lassen. Deshalb hielten sie sich zurück, als am dritten Tag nahezu 3 Millionen Menschen auf die Straßen gingen.
Erst als die Proteste schrittweise ihren natürlichen Schwung verloren, griffen sie ein und gingen scharf gegen die Demonstranten vor, bis nur noch Demonstrationen von höchstens einigen hundert Menschen möglich waren. In den ersten Tagen nach der Wahl war der gesamte Sicherheitsapparat des Regimes mobilisiert. Sie hatten alle Register gezogen. Sie gingen zunächst nicht auf Konfrontation, sondern spielten auf Zeit in der Hoffnung, dass die Straßenproteste langsam von selbst ermüden würden. So war es denn auch.

Die Errungenschaften

An dem Tag, als 3 Millionen Paar Füße über die Straßen Teherans trampelten, riefen die reformistischen Führer die Demonstranten auf, schweigend zu marschieren. Dabei waren in den Tagen zuvor schon Parolen wie "Tod dem Diktator" und "Tod dem Khamenei" zu hören gewesen – es gibt kein besseres Beispiel für die Beschränktheit der reformistischen Bewegung. Als Khamenei, der Oberste Führer, dem Volk sagte, es solle aufhören, sich über ein paar Millionen Stimmen aufzuregen und nach Hause gehen, hielten die Reformisten lieber den Mund.
Die Entwicklung der Parolen drückte die reformistische Führung aber zusehends an den Rand und drohte, sie zu überholen. Es fing an mit "Was ist mit meiner Stimme geschehen?", ging weiter mit "Tod dem Diktator", "Tod dem Ahmadinejad", "Tod dem Khamenei" bis hin zu "esteqlal, azadi, jomhuri irani" ("Unabhängigkeit, Freiheit, Iranische Republik"). Das haben die Menschen in den Straßen gerufen, und als das nicht mehr möglich war, nachts von den Dächern der Häuser. Der fast heilige "Führer" wurde nicht nur Ziel von Witzen, die Leute verlangten sogar seinen Tod. Das war seit 30 Jahren nicht vorgekommen, und wäre für die Mehrheit der Iraner noch wenige Monate zuvor unvorstellbar gewesen.
"Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische Republik" lautete die zentrale Parole der Revolution von 1979. Das war eine demokratische, antiimperialistische Revolution, die der Illusion aufsaß, diese Ziele seien durch ein islamisches Regime zu erreichen. Indem diese Parole aufgegriffen und modifiziert wurde, stellten die Menschen eine klare Verbindung zur Revolution von 1979 her, erklärten sie als unbeendet, bekräftigten ihre demokratischen und antiimperialistischen Ziele und verlangten nach neuem Werkzeug, um sie zu verwirklichen.
In dieser Parole zeigen sich die Keime einer wahren Erhebung gegen die Islamische Republik, die gleichermaßen demokratisch wie unabhängig von ausländischem Einfluss ist. Sie arbeitete sich immer stärker in den Vordergrund und wurde am 4.November sogar zur Parole "Na dolate coup d'etat; na mennate Amerika" ("Weder Staatsstreich, noch Stützen auf Amerika") zugespitzt. Keine Rede hier von einer "bunten Revolution"!

Die dritte Errungenschaft war die Herstellung von Kontakten und eines rudimentärer Skeletts unabhängiger Organisationen. Die Teilnahme der Jugend, insbesondere der Studenten, an den Aktivitäten in den Wahlhauptquartieren der reformistischen Kandidaten machte es möglich, neue Bekanntschaften zu schließen, Freundschaften und politische Beziehungen zu knüpfen, die im Zuge der Straßendemonstrationen weiter gefestigt wurden. In einer Reihe von Fällen wurde die Führung dieser Straßen- und Nachbarschaftsaktionen von Linken übernommen.

Viertens: Sogar Teile der herrschenden Elite wurden gezwungen, erstmals zuzugeben und sogar dagegen zu protestieren, dass es Prügel, Folter und gar Vergewaltigung gab. Selbst der Sohn eines Mitglieds der Usulgaran wurde gefoltert. Folter ist für das Regime nichts Neues und wurde von Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert. Die reformistischen Führer, die heute dagegen protestieren, wissen das sehr gut – einige haben früher selbst an Verhören teilgenommen und der Regierung gedient, als Folter und Hinrichtung in industriellem Ausmaß praktiziert wurden. Das Gleiche gilt auch für Vergewaltigung, die in einem bestimmten Stadium systematisch gegen weibliche politische Gefangene angewandt wurde. Trauernden Familien wurden in den Jahren 1981–1983 nicht nur die Kugel überreicht, die ihre Lieben getötet hatte (sie mussten selbst die Kosten dafür tragen), sondern auch ein "Ehe"-Ring durch den Pasdar, der sie vergewaltigt hatte – ein makabres Ritual.
Inzwischen werden Männern wie Frauen vergewaltigt, um sie zu terrorisieren. Das zuzugeben, bedeutet, dass eine weitere rote Linie überschritten wurde. Die ethischen Ansprüche der ersten "Herrschaft Allahs auf Erden" in der modernen Zeit liegen in Scherben.

Fünftens ist die Tatsache, dass sich die Protestbewegung im Allgemeinen unter dem "grünen" Schirm abspielte, ein Zeichen für die Reife des iranischen Volkes. Es gibt nicht eine grüne Bewegung, sondern verschiedene. Am einen Ende finden wir die Anhänger der besiegten Kandidaten, Mousavi und Karrubi, am anderen radikale Strömungen, die das islamische Regime stürzen wollen. Und dann gibt es die Linke. Dazwischen gibt es verschiedene Gruppierungen, die überwiegend nicht klar definiert sind, sich noch in einem fließenden Zustand befinden, noch keine klaren Konturen hervorgebracht haben. Die Protestler hält zusammen, was sie nicht wollen. Was sie wollen, schält sich erst heraus, in unterschiedlichem Tempo und manchmal widersprüchlich. Deshalb vertreten manchmal dieselben Individuen konträre Ansichten.
Schließlich hat die Fähigkeit, alle modernen Kommunikationsmittel einzusetzen, die Bewegung in ihren Einzelheiten rund um die Welt getragen. Blogs und Internetseiten haben die Welt im Minutentakt auf dem neuesten Stand gehalten. Eine sich mit dem Internet auskennende Jugend – keineswegs nur aus der großstädtischen oberen Mittelschicht – hat alle Bemühungen, den Informationsfluss zu blockieren, ins Leere laufen lassen. Zahllose Server im Ausland wurden genutzt, um die Blockaden des Regimes zu umgehen. Die iranische Protestbewegung wurde wahrhaftig international.

Die Lehren

Diese Errungenschaften wurden mit Blut bezahlt. Mehr als hundert Menschen wurden getötet, Tausende geschlagen, gefoltert und vergewaltigt. Viele wurden gebrochen und gezwungen, im Fernsehen absurde Geständnisse über Beziehungen zu ausländischen Botschaften und Agenten abzulegen. Geständnisse wie das von Said Hajjarian, ein früherer Verhörbeamter und ein Theoretiker der reformistischen Bewegung, grenzten ans Komische, als er ausländische, an den Universitäten benutzte, Lehrbücher für die Korruption der Jugend verantwortlich machte.
Und jetzt das erste Todesurteil. Der Preis ist hoch. Aber ohne die Brutalität kleinreden zu wollen, ist er doch viel geringer als den, den wir 1979 beim Angriff auf Kurdistan, bei der blutigen Niederschlagung der Linken und der Mojahedin 1981–1983 und beim Massaker an Tausenden von politischen Gefangenen zum Ende des Iran-Irak-Kriegs 1988 zahlen mussten. Das liegt auch daran, dass die reformistischen Führer für die radikalen Elemente einen gewissen Schutzschirm darstellten.
Die Reformisten haben aber auch große Fehler begangen: Ihre Aufforderung an die Millionen Demonstranten zu schweigen, wo sie durch ihre schiere Zahl dem Regime einen ernsten Schlag hätten versetzen können, war ein gewaltiger Fehler; die tagtägliche Wiederholung der Demonstrationen trotz abnehmender Zahl und eines zunehmend selbstbewussten und brutalen Sicherheitsapparats; das Bestehen auf Parolen, die nur die Wahlen zum Inhalt hatten – all das schwächte die Fähigkeit der Wahlproteste, sich mit anderen sozialen Bewegungen – z.B. der Frauenbewegung oder den nationalen Bewegungen – zu verbinden. Es hätte Sinn gemacht, Parolen in den Vordergrund zu stellen, die die demokratischen Forderungen der Völker und Nationen des Iran aufgreifen. Die Gelegenheit, verschiedenen soziale Bewegungen anzusprechen, vor allem auch die Barackensiedlungen und die jugendlichen Proteste in den ärmeren Stadtvierteln im Süden Teherans, war einzigartig.
Am kritischsten war das Versäumnis, sich mit der schnell eskalierenden Arbeiterbewegung zu vereinigen. Die Arbeiter befanden sich zu der Zeit überall im Land im Streik, machten Sit-Ins, nahmen Geiseln, führten Besetzungen durch, Straßenblockaden und Demonstrationen. Denn die Wirtschaft des Landes ist im freien Fall, die Inflation nimmt rasant zu. Hunderttausende Arbeiter werden entlassen oder sehen ihre Jobs unmittelbar bedroht; sie werden durch Zeitarbeiter ersetzt.
Schließlich blieb der Protest vorwiegend auf die Hauptstadt Teheran begrenzt. Es hat zwar ähnliche Proteste in Isfahan, Shiraz, Mashad, in Kurdistan und anderen Gebieten gegeben, aber sie waren dort weniger groß.
Was wir vor uns haben, ist weniger eine Bewegung als vielmehr deren Keime. Was fehlt, ist eine entschlossene Organisation. Und was auch fehlt, ist eine vereinigte Linke mit einer klaren Vorstellung über ihre Ziele, einer klaren Strategie und einem Verständnis der notwendigen taktischen Schritte. So etwas wie diese Proteste ist ein Moment, der nur einmal in einer Generation kommen mag.

Mehdi Kia
(Der Autor ist Redakteur der inzwischen nur noch im Internet präsenten Zeitschrift Iran Bulletin – Middle East Forum, www.iran-bulletin.org)

Quelle: SoZ, Übersetzung: A. Holberg