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Arabische Kettenreaktion

Helmut Dahmer

Der Gürtel der heutigen arabischen Staaten – von Marokko im Westen bis zu Ägypten, von Jordanien bis zu den Golfstaaten – entstand in der Ära der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges. Unter wechselnden Ideologien versprachen deren „Gründer“, Monarchen und Offiziere, ihren Völkern eine Modernisierung und empfahlen sich wechselnden Bündnispartnern als Garanten von Stabilität...

02.03.2011

Vor 100 Jahren trieben die europäischen Mächte dem Desaster des ersten Weltkriegs entgegen. Kriegsgegner sammelten sich in der Arbeiterbewegung und in den Friedensgesellschaften. Sie bezeichneten die zunehmende Verflechtung der Nationalwirtschaften (samt den von ihnen beherrschten Kolonien) durch Handelsbeziehungen und Militärbündnisse – also das, was wir heute „Globalisierung“ nennen – gern als die „Verkettung“ dieser Länder. Sie verstanden, daß das Schicksal der einzelnen Nationalstaaten – Bestand oder Zerfall, Krieg und Frieden, Reform oder Revolution – entscheidend von der internationalen, ökonomisch-politischen Kette abhing, in die sie eingehängt waren. Versuche, sich vom Weltmarkt unabhängig zu machen, nationale Autarkie anzustreben, waren ebenso zum Scheitern verurteilt wie isolierte nationale Revolutionen und Konterrevolutionen.

Der Gürtel der heutigen arabischen Staaten – von Marokko im Westen bis zu Ägypten, von Jordanien bis zu den Golfstaaten – entstand in der Ära der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges. Unter wechselnden Ideologien versprachen deren „Gründer“, Monarchen und Offiziere, ihren Völkern eine Modernisierung und empfahlen sich wechselnden Bündnispartnern als Garanten von Stabilität. Basis ihrer Ökonomien konnten reiche Ölvorkommen (wie in Libyen) oder sonstige Bodenschätze sein, die Agrarexporte oder auch (wie in Tunesien) der Tourismus. Die Kontrolle über die Nationalwirtschaften teilten sich die neuen Potentaten und ihre Clans mit den Führungskadern von Armee und Geheimpolizei und mit ausländischen Investoren, und dies System warf für alle Beteiligten riesige Gewinne ab. Über kurz oder lang degenerierten die Regime, nachdem sie alle autonomen gesellschaftlichen Organisationen (Stämme, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Parteien) unterjocht, verboten oder korrumpiert hatten, zu grausamen Kleptokratien. Während die herrschende Minderheit in „orientalischem“ Luxus schwelgte, fielen für die Bevölkerungsmehrheit nur mehr Almosen ab, und eine wirkliche wirtschaftliche Entwicklung wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Wachsende Arbeitslosigkeit war die Folge, Zehntausende versuchten, über das Meer die europäischen Wohlstandsoasen zu erreichen. Auf periodische Versorgungsmängel folgten Brotaufstände und Streiks. Lokale und regionale Aufstände wurden mit Hilfe des privilegierten Militärapparats niedergeschlagen, der, obwohl von den USA (und europäischen Mächten) alimentiert, einen Großteil des Sozialprodukts verschlang.

Was das schwächste Glied in einer Kette von kleineren und größeren Staaten ist, also dasjenige, das am ehesten „bricht“, weiß man zumeist erst hinterher. Ebensowenig läßt sich vorhersagen, ob ein solcher Bruch eine Kettenreaktion auslöst, und wo sie haltmacht. In diesem Fall war es das kleine Tunesien, dann folgte das große Ägypten, Bahrain schloß sich an, und schließlich war Libyen an der Reihe. Jahrzehntelang hatten unterschiedliche Traditionen, Ökonomien und Herrschaftscliquen diese Völker voneinander getrennt. Doch nachdem die tunesischen Demonstranten gezeigt hatten, wie man einen korrupten Autokraten loswird, konnte nichts mehr sie abhalten, diesem Beispiel zu folgen. Ein lange latent gebliebenes, gemeinsames Interesse – das am Sturz der Tyrannen – brach sich Bahn und stiftete eine neue, transnationale Solidarität der Protestler und Aufständischen. Diese verborgene Kette wurde zur Zündschnur.