100 Jahre russische Revolution, Teil 5
Die Julitage und der Kornilow-Putsch von Manuel Kellner Der Sturz der Kapitalherrschaft durch Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hat viele spätere antikapitalistische Bewegungen inspiriert. Die bürokratische Diktatur diskreditierte jedoch die sozialistische Idee. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bleibt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?* Eine große Demonstration am 18.Juni in Petrograd hatte den inzwischen überwältigenden Einfluss der Bolschewiki unter den Arbeiterinnen und Arbeitern der Hauptstadt gezeigt. Mehr war durch Demonstrationen allein nicht zu erreichen. Doch für einen Aufstand war es zu früh, weil im großen Russland insgesamt noch keine Mehrheit zu sehen war, die einen solchen Umsturz gedeckt hätte. Darum bemühten sich die Bolschewiki, die siedenden Gemüter zu kühlen und die Massen der Hauptstadt von Aktionen abzuhalten, die nur zu unnötigen Konfrontationen geführt hätten. In der Süddeutschen Zeitung vom 8.März 2017 heißt es dazu: «Die linksradikalen Bolschewisten versuchen im Juli 1917 einen Staatsstreich und werden von regierungstreuen Truppen zusammengeschossen.» Das ist die Mutter aller Fake News, die bürgerliche Journalisten immer noch voneinander abschreiben, mit dem Ziel, die Bolschewiki als Putschisten zu verleumden. Mit der historischen Wahrheit, also mit dem, was sich in den Julitagen wirklich abgespielt hat, hat diese an den Haaren herbeigezogene Behauptung nichts zu tun.
18.08.2017
Der Generalstreik und die bewaffneten Massendemonstrationen am 3. und 4.Juli (a.St.) entsprachen der explosiven Stimmung unter den Arbeitern und den meisten Soldaten der Hauptstadt. Die Bolschewiki hatten unbewaffnete Demonstrationen vorgeschlagen, nahmen aber an der Aktion teil, um sie in friedliche Bahnen zu lenken. Die Parteiorganisation der Bolschewiki von Petrograd rief am 6.Juli zum Abbruch der Aktionen und zur Wiederaufnahme der Arbeit auf.
Ab dem 5.Juli muss sich Lenin wegen der absurden Beschuldigung, ein bezahlter Agent des Deutschen Reichs und der Hohenzollern zu sein, vier Monate lang versteckt halten. Unter Beschuldigungen wie der, einen bewaffneten Aufstand zu planen, aber auch mit der mehr oder weniger offenen Verleumdung, im Sold der Deutschen zu stehen, wurden viele Bolschewiki verhaftet, ihre Zeitung Prawda verboten. Die Provisorische Regierung erteilte sich selbst Sondervollmachten, was sie nicht nur mit der Gefahr von links, sondern auch mit der Gefahr eines reaktionären Militärputschs begründete.
Die Reaktion erhob nun ihr Haupt, und die von den Mehrheitssozialdemokraten beherrschten Räte schienen ihre revolutionäre Rolle ausgespielt zu haben. Die Bolschewiki stützten sich in dieser Zeit zunehmend auf die basisnahen Fabrikdelegierten und -komitees, in denen sie bereits eine eindeutige Mehrheit hatten.
Die Atempause für die Regierung Kerenski konnte aus vielen Gründen nicht lange andauern. Der wichtigste Grund dafür war der völlige Misserfolg der beschlossenen kriegerischen Offensive. Vom 18.Juni bis zum 6.Juli fielen nach Angaben des Hauptquartiers an der Südwestfront 56.000 Mann. Als Ursache des Scheiterns wurde die Tatsache genannt, die Vorgesetzten hätten bis hin zum Oberbefehlshaber bei den Soldaten keine Autorität mehr genossen.
Der Oberkommandierende der Armee, L.G.Kornilow, entpuppte sich mehr und mehr als Kandidat für einen Militärputsch nicht nur gegen die Räte, sondern auch gegen die Provisorische Regierung. Sein extrem reaktionäres Programm verwirklichte allerdings bereits die Regierung Kerenski in wichtigen Teilen: Feldgerichte und Todesstrafe für Soldaten, Erhöhung des Brotpreises um das Doppelte, Schutz der Großgrundbesitzer vor Enteignungen, Vorbereitung der Räumung des revolutionären Petrograd, Zusammenziehung von konterrevolutionären Truppen um die Hauptstadt im Einvernehmen mit Kornilow.
Am 26.August schiebt Kornilow den schwankenden Kerenski beiseite und führt Truppen gegen Petrograd. Die Bolschewiki sind zu dieser Zeit bestenfalls eine halblegale Partei, von der Kerenski-Regierung verfolgt, die ihrerseits von den Menschewiki und Sozialrevolutionären gedeckt wird. Die Partei Lenins und Trotzkis zögert aber keine Sekunde, um mit ihren politischen Gefängniswärtern gemeinsame Sache gegen den Putschgeneral zu machen.
Noch im Gefängnis erteilt Trotzki einer Delegation Kronstädter Matrosen, die am liebsten gleichzeitig mit Kerenski und Kornilow abgerechnet hätten, folgenden Rat: «Legt euer Gewehr auf die Schulter von Kerenski und schießt auf Kornilow.»
Überall wurden einheitliche Verteidigungskomitees gebildet, in denen die bolschewistische Minderheit bald die führende Rolle spielte. Kornilows Putschversuch endete ohne viel Blutvergießen, weil ihm seine Soldaten angesichts der Breite des Widerstands und der Aussicht, auf ihre Brüder und Kameraden schießen zu müssen, nicht mehr gehorchen wollten.
Trotzki schrieb 1932 rückblickend: «Nach dem 3.September schlug Lenin … den Menschewiki und Sozialrevolutionären … vor: Nehmt die Macht, wir werden euch gegen die Bourgeoisie helfen; garantiert uns volle Agitationsfreiheit, und wir gewährleisten euch friedlichen Kampf um die Mehrheit im Sowjet … Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre lehnten … den neuerlichen Vorschlag einer Einheitsfront gegen die Bourgeoisie ab.»
Der Artikel von Fritz Kellner entstammt einer Serie zur Oktoberrevoultion (Teil 5), die laufend in SOZ erscheint, siehe: http://www.sozonline.de/?s=100+jahre+russische+revolution
* In Teil 4 ging es um die Rolle der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit.