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Der Blick über die Mauer

Kurt Hofmann

Zur Diagonale 2015

24.03.2015

2014: Ein gutes Kinojahr. Es waren z.B. neue Arbeiten so unterschiedlicher FilmemacherInnen wie Ulrich Seidl und Jessica Hausner zu sehen, ebenso wie bemerkenswerte „kleine“ Filme wie Umut Dag und Sudabeh Mortezai, die im Kino erstaunlicherweise gleich gut aufgenommen wurden wie auf diversen Festivals: Und: viele spannende Neuerscheinungen im dokumentarischen wie im experimentellen Bereich.

Die Diagonale 2015, zum letzten Mal von Barbara Pichler geleitet, deren unprätentiöser, gelassener Stil ihre Intendanz gleichermaßen prägte wie deren Souveränität, bot eine beachtliche Bilanz im Rückblick und einige ansehnliche Premieren in der Vorschau. Dass mit „Ich seh ich seh“, dem raffinierten Vexierstück von Veronika Franz und Severin Fiala, heuer ein Genrefilm als bester Spielfilm ausgezeichnet wurde, war angesichts von dessen innovativen Qualitäten ebenso nachvollziehbar wie im Lichte des schon jetzt internationalen Echos.

Die „Anderlfabrik“ in Schrems/N.Ö.: Hier wird Qualität erzeugt. Man schreibt das Jahr 2004 und es ist absehbar, dass es das letzte Jahr des traditionsreichen Textilunternehmens sein wird. Den Arbeitern ist jeder Handgriff „in Fleisch und Blut übergegangen“, trotzdem herrscht keineswegs Routine vor, wenngleich allen präsent ist, dass es dem Ende zugeht. Schon jetzt, in der (finalen) aktiven Phase, ist die „Anderlfabrik“, was sie einige Jahre später offiziell sein wird: ein Museum. Nach der Schließung ist für die Gekündigten nichts mehr, wie es war. Weil sie sich „neu orientieren müssen“,  wie ihnen das AMS vermittelt? Vielmehr, weil die Idee einer Perspektive über Jahre hinweg, obsolet geworden ist. Nikolaus Geyrhalter, dessen zentrale Stellung im österreichischen Dokumentar- und Essayfilm von der Diagonale 2015 auch durch eine Personale gewürdigt wurde, beobachtet in „Über die Jahre“ ein Jahrzehnt lang, wie es für die Handvoll von ihm ausgewählten ehemaligen ArbeiterInnen der „Anderlfabrik“ weiter geht. Das zeitigt zwar keine weiterführenden Ereignisse, es ist, wie es ist, in Gegenden wie diesen, in einem System wie diesem, aber Geyrhalter bringt die „sprachlosen“ Ausgestoßenen zum Reden, nach und nach, „Über die Jahre“ hinweg geben sie mehr und mehr über sich preis. Was von ihnen nach der Fabriksschließung erwartet wird? „Flexibilität“: das heißt, zumal in einer strukturschwachen Region, heute hier, morgen da, so überhaupt Arbeit vorhanden ist. Für die meisten der im fortgeschrittenen Alter“ befindlichen ArbeiterInnen ist es aber das Aus, allenfalls verkleistert durch „weiterführende Kurse“. Sie sind zurückgeworfen auf ein improvisiertes Leben, dargeboten auf der Bühne der (tiefsten) Provinz. Jede/r von ihnen hat sich für sich selbst eine Geschichte zurecht gelegt, manche glauben auch daran…

„Über die Jahre“, als bester Dokumentarfilm der Diagonale 2015 ausgezeichnet, versteht es, den Blick auf ein Leben im Schatten zu werfen, weder denunzierend noch anheimelnd. Die (einstigen) ArbeiterInnen derr „Anderlfabrik“ sind Unbeachtete, und um eben dies geht es in „Über die Jahre“: Achtung.

Etwas stimmt nicht: Kinder und Jugendliche, die in der Psychiatrie gelandet sind. Wie geht man mit ihnen um? Was ist zu tun und was zu lassen? Constantin Wulff ist in „Wie die anderen“ diesen Fragen nachgegangen und dabei einem engagierten, aber häufig desillusionierten therapeutischen Personal im niederösterreichischen Landesklinikum Tulln begegnet. Immer wieder, so offenbart sich in den Teambesprechungen, stoßen die HelferInnen an Grenzen: weil es an finanziellen und personellen Ressourcen fehlt, aber auch, weil es zwar für alle Situationen Schemata gibt, doch jede/r Jugendliche, jedes Kind, anders ist. Manche flüchten sich da in Routine, die meisten verzweifeln eben daran. (Seelische) Verletzungen zu heilen, Blockaden vorsichtig aufzubrechen, ohne dabei erneut zu verletzen: das ist, inmitten eines strengen Regelwerks, das wenig Improvisation zulässt, ein schwieriges Unterfangen. Denn es werden von therapeutischen und ärztlichen Personal Ergebnisse verlangt, die Leistungsgesellschaft macht auch vor den Toren einer Kinder- und Jugendklinik nicht halt. Einstufen heißt hier auch Kategorisieren, Zwischentöne sind nicht gefragt. Nicht jedes Kind/ jede/r Jugendliche kann ihre/seine Probleme auch artikulieren, nicht alle, die es können, ziehen für sich die „richtigen“ Schlüsse. Aber was ist „richtig“ und wie kann sich die Rückkehr in geordnete Verhältnisse“, die Psychosen oft erst ausgelöst haben, gestalten? Sich täglich bewußt sein, dass sie diese Fragen nicht schlüssig beantworten können, das macht die Qualität verantwortungsvoller Therapeuten aus. Constantin Wulffs „Wie die anderen“ kommentiert all dies nicht, beobachtet vielmehr mit einem genauen, einfühlsamen Blick, dem nichts entgeht. Miteinander reden, den anderen zuhören: das ist, so viel wird deutlich, die bessere Medizin als die Produkte der Pharmaindustrie…

Der Countertenor Gottfarb hat eine berühmte Stimme und hört auch viele Stimmen: in der Oper, sowieso, als multiple Persönlichkeit, notgedrungen. Wenn aber einer schon in sich gespalten ist und mit den anderen Teilen seines Ichs auch noch in einer WG lebt, dann befinden wir uns in einem Film von Mara Mattuschka. In „Stimmen“, dessen Hauptfigur nicht zufällig Gottfarb heißt (ein Opern-„Gott“ in seinen „Farbschattierungen“…) wird nicht gekleckert, sondern geklotzt, und es ist höchst vergnüglich, dabei zuzusehen, wie einer gegen sich selbst intrigiert und dabei von den „anderen“ ausgetrickst“ wird, was das Zeug hält… Naturgemäß werden in Form der verschiedenen Persönlichkeits-TeilhaberInnen unterdrückte Sehnsüchte sichtbar: In Lexi, dem ungebärdigen jungen Mann, der Wunsch nach dem Ausbrechen aus dem Konventionellen, in Sandra, der unwiderstehlichen jungen Frau, nicht ausgelebte sexuelle Begierden, in Alexander, dem „autistisch“ zurückhaltenden „Bruder“, das Verlangen nach Stille angesichts der Blitzlicht- und Seitenblicke-Gesellschaft, und in Xandi, dem aufgeweckten Kind, die Leerstelle im Rückblick auf die verschwundene Unbekümmertheit. Oder auch: der fehlende (An-)Teil des Rebellischen, Weiblichen, Sensiblen, Impulsiven, allesamt notwendig zur Vervollständigung des Puzzles (hier allerdings auch: jeder Begriff – ein Klischee…)

Vor allem ist diese multiple Posse aber ein großer Spaß, eine virtuose Reise ins Innere des eitlen Großkünstlers Alex Gottfarb anhand seiner Veräußerlichungen. „Wer ist stärker, i oder i?“ heißt es bei Nestroy. Mir wird’n kann Richter brauchen, und einen Psychoanalytiker schon gar nicht (der allerdings mehrfach, stets ratlos, im Film auftaucht…), um das zu klären… So genau will das Mara Mattuschka in „Stimmen“ auch nicht wissen und die meisten ZuschauerInnen würden einem Weiterbestehen dieser unkontrollierbaren Wohngemeinschaft wohl ohne weiteres zustimmen…

Vor Jahrzehnten schon ist John, Geliebter und Sehnsuchtsfigur, verschwunden, mutmaßlich gefallen in Vietnam. Nun entdeckt der Filmemacher Hans Scheugl ein Foto von dessen Haus im Internet. Er korrespondiert mit dem wiederaufgetauchten Freund, doch das Faksimile, das im Film sichtbar wird, ist in Schreibmaschinenschrift geschrieben. Der Ansprechpartner des Schreibens ist der „junge“ John, dem offen gebliebene Fragen gestellt werden, den er an gemeinsame Erlebnisse und gemeinsame Pläne erinnert. Dem alten, „aktuellen“ John wird in „Dear John!“ bei Auftauchen des Fotos von dessen Haus nur flehend „Don’t open the door“ zugerufen…

2015 dreht Scheugl im Prater, entdeckt dabei „Typen“, erzählt im Off über die Begegnung mit einem schönen Jüngling, filmt im Prater des Jahres 2015 aber unter anderem einen älteren, unbehausten Mann mit Pferdeschwanz, barfuß auf einer Parkbank liegend. Entsetzlich, wenn John heute so aussähe – doch das bleibt unausgesprochen. „Don’t open the door!“… „Dear John!“ ist eine Erzählung über uneingelöste Optionen. Der „Filmbrief“ vermischt sich mit Partikeln eines „realen“ Briefwechsels mit „John“, auch dessen Abschiedsbrief, als er zur US-Army eingezogen wird, just als Scheugl überlegt, Wien gegen die USA einzutauschen, nicht allein Johns wegen, auch des freieren Atmens wegen, wird Teil dieser Erinnerungen, die gegenwärtig sind.

Filmsequenzen, Briefschnipsel, assoziatives Material: all dies wird in „Dear John“ gewissermaßen als „Dokument“ aufgerufen und ist dabei ebenso wahr wie Teil des Scheugelschen Tarnen und Täuschen. Das gefundene Bild, die stets präsente Erinnerung, die uneingelöste, aber immer noch einzufordernde Option: das ist die Klammer, die Scheugls „Dear John“, zugleich das Wiederauftauchen eines wichtigen Regisseurs, zusammenhält.

Ein zentraler Teil der „Diagonale“ ist die historische, dem Filmexil gewidmete Reihe von Synema, diesmal der vertriebenen Avantgarde gewidmet. In „The Robber Symphony“ (GB 1936; Regie: Friedrich Feher) tingelt ein vazierendes Familienunternehmen, der halbwüchsige, doch schon lebenstüchtige Giannino, seine Mutter und sein Großvater, mit einem Walzenklavier durch die Lande.

Eines Tages rastet das kleine Ensemble, zu dem als treue Reisebegleiter noch ein Esel, der den Wagen zieht, und ein Hund, stets wachsam, gehört, in einer zwielichtigen Schenke, nicht ahnend, dass diese zugleich das Hauptquartier des „Schwarzen Teufels“, des Anführers einer weithin bekannten und verschrienen Räuberbande ist. Wie auch, denn die Räuber sind nicht nur listig, sondern auch musikalisch, tragen sie doch statt Gewehren Klarinetten mit sich, können, wie sich später herausstellt, ein Publikum auch mit Seiltanz unterhalten… Wenngleich die musikalische und artistische Ausbildung in erster Linie der Tarnung dient, gewissermaßen ein künstlerischer Paravent zur Verdeckung von Straftaten ist, diese Räuber haben es nicht nur faustdick hinter den Ohren, sie dürfen sich auch, im Wortsinne wie in ihrer eigenen Profession KünstlerInnen nennen… Solchermaßen sind die RäuberInnen für Giannino und die Seinen auch ein gutes Publikum, und beklatschen den Auftritt des rüstigen Großvaters und der Mutter von Giannino, die als Duett auftreten… Aber wehe, wehe Giannino, noch ein Kind, doch für weibliche Reize schon nicht unempfänglich, lässt sich von einer hübschen Räuberin dazu überreden, abends die Haustür aufzulassen, und schon ist die Hausbesitzerin ihrer Golddukaten beraubt. Die Beute wird in einem Strumpf verstaut, so lang, dass vielfache Beute hineinpassen würde. Fast wird der Dieb auf frischer Tat erwischt und so versteckt er den Strumpf – im Walzenklavier… „Störet meine Kreise nicht!“ hatte der Philosoph Diogenes einst ausgerufen, und ebenso sieht das der „Schwarze Teufel“, welcher wie einst jener in einem Fass lebt, wenngleich etwas kommoder, denn seine Spießgesellen müssen auch noch in das leere Weinfass passen, welches als Hauptquartier, Versteck und "Trojanisches Pferd" dient. Als Giannino umständehalber alleine, mit seinem Wägelchen, darauf das Walzenklavier, weiterzieht, beginnt eine der originellsten Verfolgungsjagden der Filmgeschichte, doch jede Finte der Räuber, wie pfiffig sie es auch anstellen, scheitert. Dabei ist etwa die Idee, wie man auf einem offenen Marktplatz den Strumpf mit der Beute aus dem Walzenklavier holt, genial: die auf dem Marktplatz Versammelten - einschließlich Giannino – beobachten fasziniert ein Mitglied der Bande beim Seiltanz, während die anderen RäuberInnen mit einem Dutzend identer Wägelchen samt Walzenklavier aufgetaucht sind… Ob im offenen Meer, ob über verschneite Berge: Kaum hat sich die Natur schon wieder gegen Giannino verschworen, haben sich auch schon die RäuberInnen auf seine Fersen geheftet, zumindest sprichwörtlich. Aber sprichwörtlich ist auch das Hauptquartier des „Schwarzen Teufels“ zu verstehen: “Ein Fass mit doppeltem Boden!“ oder auch: „Das schlägt dem Fass den Boden aus!“

Unzweifelhaft, wir beobachten während zweieinhalb Stunden atemberaubenden Kinos auch ständig eine Vaudeville-Aufführung. Der „Schwarze Teufel“ ist eher ein Krampus und seine Bande ein lustiges, vielfältig talentiertes Volk. Hier kommt es nicht auf Suspense an, sondern darauf, wie eine Pointe sitzt. Erstaunlich auch, wie wenig die sonst im Kino oft so zweifelhafte Kombination Kind-Tiere stört, aber so, wie Giannino sich präsentiert, ist dieser ernsthafte Junge ein Sendbote des Handlungsflusses und nicht der Rührung, sogar das Viehzeug legt Wert auf eine gute Charge und outriert nicht…

„The Robber Symphony“ von Friedrich Feher hat das „gewisse Etwas“, überwältigt, auch acht Jahrzehnte nach seinem Entstehen, durch Ideen und Variantenreichtum.

Einmal mehr zählten die historischen, dem Filmexil gewidmeten Programme von Synema zu den Höhepunkten der Diagonale. Seit der Übersiedlung auf den Nachmittagstermin hat sich die Synema-Reihe sogar zu einem Publikumsmagnet entwickelt. So gesehen, besteht kaum ein Zweifel, dass diese auch unter der Intendanz Höglinger/Schernhuber ein integraler Teil des Diagonale-Programmes sein wird.

Im Rahmen des Mia Hansen-Løve gewidmeten Specials (ein „must“ des diesjährigen Programmes der „Diagonale“) war „Le père de mes enfants“ (FR/DE 2009) zu sehen.

Der Filmproduzent Gregoire Canvel ist ein Jongleur des Lebens. Seine Familie ist ihm wichtig, aber ebenso sind seine Filme für ihn wie Kinder, die es zu beschützen gilt. Ob er seine Wohnung oder sein Büro öfter betritt, könnte er selbst nicht sagen. Ständig läutet das Telefon, und beinahe unausgesetzt ist es eine Hiobsbotschaft, die ihn ereilt. InvestorInnen, Banken, GläubigerInnen: alle wollen ihr Geld zurück, denn die von ihm produzierten Filme sind ausnahmslos Arbeiten von AutorInnenfilmern… Ein Kassenschlager ist da nicht zu erwarten, selten genug spielt ein Film die Kosten wieder ein. Als er vermeint, einen „shooting star“ engagiert zu haben, fällt der vor allem durch Starallüren auf und bringt die Firma von Canvel durch massive Kostenüberschreitung noch mehr in die Bredouille. Canvel schlägt Haken, beruhigt diejenigen, die Geld von ihm verlangen, pumpt gleichzeitig andere an, hält durch seinen Charme und sein Engagement seine leidgeprüften MitarbeiterInnen bei der Stange. Fährt mit der Familie ans Meer, um doch nach dem ersten dringlichen Anruf auf seinem Handy wieder, Besserung versprechend, abzureisen. Canvel steht mit dem Rücken zur Wand, irgendwann ist auch ihm klar, dass es kein Vor und kein Zurück mehr gibt. Er erschießt sich auf offener Straße… „Le père de mes enfants“ ist nicht nur eine Hommage an Humbert Balsan, den langjährigen Produzenten der Regisseurin, der am Ende auch keinen anderen Ausweg als den Suizid wusste, es ist vor allem eine Liebeserklärung an all jene „Verrückten“, welche sich, blind für die Folgen und offenen Auges für die Siebte Kunst, auf Projekte einlassen, die andere als aussichtslos einstufen und nicht einmal in Erwägung ziehen. Und zugleich: eine Kritik an den „Canvels“, die in ihrem Egoismus zugunsten des „höheren Ganzen“ jene vernachlässigen und zugleich permanent ausnützen, die ihnen am nächsten stehen. Freilich, auch das zeigt „Le père de mes enfants“: einer wie Canvel kann nicht anders.

In der „Carte Blanche“ des Mia Hansen-Løve-Schwerpunktes war „Le pélican“ von Gerard Blain zu sehen, ein Film, dem man trotz des Entstehungsjahres 1973 nachdrücklich allen Verleihern, die ein wenig nur von der Kinoliebe des Gregoire Canvel aus „Le père de mes enfants“ haben (also mangelden Erfolg an der Kinokassa nicht in jedem Fall als Hinderungsgrund sehen…), für einen verspäteten Kinoeinsatz empfehlen möchte. 

Der Pianist Paul erhält in einer Bar von einer zwielichtigen Gestalt ein dubioses, doch verlockendes Angebot: wenn er an einer „Tournee“, die als Tarnung für über die Grenze zu schaffendes Schmuggelgut dient, teilnähme, hätte er für Jahre ausgesorgt. Paul überlegt, zögert, weil ihm seine Familie, seine Frau, sein von ihm vergötterter dreijähriger Sohn, zu wichtig sind, um ein Risiko einzugehen. Doch die Frau drängt ihn zu dem Coup, der prompt misslingt. Aus dem Gefängnis entlassen und während der Haft geschieden, sucht Paul den Kontakt mit seiner Exfrau, weil er ein Besuchsrecht für seinen mittlerweile zwölfjährigen Sohn haben möchte. Doch die Scheidung hat ihm ein Kontaktverbot auferlegt. Als er entdeckt, dass seine Frau reich geheiratet hat und in einer Villa lebt, wird ihm klar, dass seine Chancen gering sind, das Kind wieder zu sehen. Mehr als ein Angebot auf „Auszahlung“ durch den neuen Ehemann seiner Exfrau erhält er nicht, verlässt das Haus mit einem Fluch und „mietet“ sich im leerstehenden Nachbarsgrundstück ein, beobachtet tagaus, tagein, über die Mauer gelehnt, mit einem Feldstecher seinen Sohn, der ihn nicht mehr kennt. Eines Tages entführt er den Zwölfjährigen, gibt sich zu erkennen, erobert langsam (ein wenig) Vertrauen bei dem Kind… Als er ihn nach einem Tag zurückbringt, wartet schon die Polizei… Den Jungen sieht er kurz darauf wieder, doch offenbar haben diesem dessen Erziehungsberechtigten eine Greuelgeschichte erzählt. Er läuft weg vor Paul. Der aber weiß keinen Ausweg mehr und ist durch kein Gebot der Vernunft mehr zu bremsen…

„Le pélican“, ein von Bresson geschätzter Film, ist „bressonesk“ genug, um alles auf das notwendigste zu reduzieren. Kein Beiwerk, keine falsche Emotion, stattdessen Klarheit und Genauigkeit. In dieser Reduktion ist „Le pélican“ aber von einer Unbedingtheit, und Ehrlichkeit, die selten im Kino zu finden ist. Wenn Blain etwa die Leere und Monotonie des Neureichen-Alltags charakterisieren will, genügt es schon, die Exfrau Pauls, am Pool liegend, immer die gleiche Platte, Kaufhausmusik, auflegen zu lassen. Wenn wiederum Paul, der verzweifelte Vater, sich Tag für Tag über die Mauer lehnt, um mit dem Feldstecher den verlorenen Sohn zu beobachten, ist dies alles andere als monoton für die ZuseherInnen, denn man spürt, wie Pauls Verzweiflung sich in der schier ewigen Wiederholung dieses Vorgangs stetig steigert, dass dieser Mann reagieren muss, wie vernunftwidrig und aussichtslos dies auch sein mag… Der Schauspieler Gerard Blain zeigt in der Hauptrolle als Paul, mit welch geringem gestischen und mimischen Aufwand man maximale Wirkung erzielen kann. Dem Regisseur Gerard Blain ist es gelungen, einer hochemotionalen Geschichte durch eine reduzierte Formensprache nichts an Kraft zu nehmen, sondern diese erst recht zur Geltung zu bringen.