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Einander fremd zu sein

Kurt Hofmann

Zur Viennale 2025

13.10.2025

Von 16. - 28. Oktober 2025 findet in der 63. Ausgabe der Viennale, wie gewohnt im Stadtkino im Künstlerhaus, in der Urania, im Metro und im Filmmuseum statt.
Neben Begegnungen mit „üblichen Verdächtigen“ wie Ethan Coen, Claire Denis, Lav Diaz, Werner Herzog, Jim Jarmusch, Richard Linklater... gibt es Entdeckenswertes sonder Zahl und mit der Jean Epstein gewidmeten Retro die Möglichkeit der Begegnung mit dem Werk eines außergewöhnlichen, vor allem aber in seinen filmischen Mitteln unverwechselbaren Meisters der Siebten Kunst.

Tickets können online (viennale.at) oder telefonisch (01-526594796) erworben werden. Das Einzelticket kostet €10,50.

Im folgenden einige Empfehlungen für die diesjährige Ausgabe des Festivals.

Yahid trifft in einer Werkstatt durch Zufall, im wahrsten Sinn per accident, auf einen, von dem er vermutet, während seiner Inhaftierung (s)ein Folterer, der ihm auf sadistische Weise gequält hat, gewesen zu sein. Freilich waren Yahid während der Verhöre durch diesen Mann stets die Augen verbunden – was er als Erinnerung hat, ist dessen Stimme und das Wissen um eine körperliche Behinderung dieses Büttels des Regimes. Yahid kidnappt seinen vermeintlichen Feind, will sich an ihm rächen. Allerdings fehlt ihm der letzte Beweis, und seine Geisel beteuert, es handle sich um eine Verwechslung, er sei nicht der Gesuchte...
Indem er andere Opfer des Folterers kontaktiert, hofft Yahid, Gewissheit zu erlangen. Doch die Frage ist auch, was, wenn sich die Schuld des Gefangen gehaltenen erweist, mit diesem geschehen soll...

„Yek Tasadof-E Sadeh“ (It Was Just An Accident; Iran/Frankreich 2025), der neue Film von Jafar Panahi, benennt – so deutlich wie nie zuvor – die Zustände im Iran, zu welchen Mitteln der Gottesstaat gegen seine Feinde greift, so nebenbei wird auch die im Land omnipräsente Korruption sichtbar.
Das zentrale Thema des Films ist allerdings ein anderes: wie weit darf Rache gehen, wann ist der Punkt erreicht, wo sich die Opfer mit den Methoden der Täter gemein machen? Oder: ist alles erlaubt, gegen die, welche sich alles erlaubt haben? Panahis „It Was Just An Accident“ist eine (moralische) Spurensuche angesichts fehlender Gewissheiten, so spannend wie stets differenziert.

Eine junge Frau begegnet am Strand einem jungen Mann, der ihr gefällt. Aber wie ihn ansprechen? Plötzlich ein Unterbruch der Szene: Man sieht eine Frau an einem Schreibtisch, die einen Stift in der Hand hält, mit dem sie, sobald alles geklärt ist, etwas zu Papier bringen wird. Es ist die Drehbuchautorin, die überlegt, wie das zuvor Gesehene weiter gehen soll...
Den beiden am Strand fehlen die Worte, sie reden aneinander vorbei. Fürchtend, nicht das Richtige zu sagen, trennen sich ihre Wege...
Ob, was gesagt wird, vom jeweils Anderen auch verstanden wird, ist auch eine Frage in der zweiten Episode von „Tabi to Hibi“ (Two Seasons, Two Strangers; Japan 2025; Regie: Sho Miyake) Eine andere Jahreszeit: Es ist unübersehbar Winter und die Drehbuchautorin, diesmal selbst Teil der Szene, sucht ein Quartier. Aber da sie nicht vorgebucht hat, wird sie überall abgewiesen. Man gibt ihr einen Tipp: oben, in den Bergen, da wäre eine selten aufgesuchte Unterkunft... Angekommen, findet die Drehbuchautorin erst niemand vor, bis sie auf einen kauzigen Alten trifft, der sich als „Hotelbesitzer“ entpuppt. Was der Alte in den kommenden Tagen zu seinem Gast sagt, wie er es sagt und ob beider Sprachverständnis kompatibel ist, ist eine Sache. Aber dem Alten gelingt es auch, die Drehbuchautorin aus ihrer gewohnten Beobachterrolle zu reißen, sie muss auf ihn reagieren...
Gestörte Kommunikation, einander fremd zu sein, Sprache als Vehikel: So wie ihre Hauptfigur, die Drehbuchautorin, bleibt Regisseurin Sho Miyake in der Rolle der Beobachterin, ergreift nicht Partei für eine/n der Agierenden, es kommt, so signalisiert auch die „Film im Film“-Szene zu Beginn, immer darauf an, von Szene zu Szene zu denken. Sho Miyake ist keine, die auftrumpft, weil sie die eine oder andere „brilliante Idee“ vorzuweisen hat, wissend, dass der ruhige Erzählfluss den Film, ihren Film, weiter bringt.

Nora, die gefeierte Schauspielerin, leidet an Lampenfieber. Bei der Premiere eines neuen Stücks muss das Theater ihretwegen den Vorstellungsbeginn verlegen...
Trotz all ihrer Erfolge nicht perfekt zu sein: damit kann Nora leben. Als aber bei der Trauerfeier ihrer Mutter in ihrem Elternhaus der lange abwesende und nach der Scheidung ihrer Eltern für sie zum Feindbild geratene Vater auftaucht und ihr, so, als wäre nichts gewesen, auch noch die Hauptrolle in seinem neuen Film anbietet, ist es um Noras Stabilität geschehen... Noras Vater Gustav ist ein ebenso legendärer wie über die Maßen eitler Regisseur. Seit vielen Jahren hat er keinen Film mehr gedreht, dieser aber soll sein – autobiographisch geprägtes – opus magnum werden. Nora lehnt die Rolle sofort, ohne Wenn und Aber, ab, zumal auch noch in ihrem (dem Vater gehörenden) Elternhaus gedreht werden soll. Als Gustav die Rolle einem Hollywood-Star anvertraut, ist es ihr aber auch nicht recht...
„Affeksjonverdi“ (Sentimental Value; Norwegen 2025; Regie: Joachim Trier) ist ein Film über verschüttete Erinnerungen und jahrelang tunlichst vermiedene (klärende) Gespräche, letztlich über die Familien-Bande (Karl Kraus). Triers Film ist psychologisch definiert, fragt nach dem Unterschied vortäuschender und natürlicher Gesten, ist ein Loblied des Was und gleichermaßen des Wie in Theater und Film. Vor allem aber ist „Sentimental Value“ ein Schauspieler*innenfest, allen voran ist – innerhalb eines großartigen Ensembles – der wie stets formidable Stellan Skarsgárd zu nennen, der Gustav, Monster und Genie, in Krisen befangen und Krisen erzeugend, in dessen Widersprüchen zeigt.

Da ist Sangershausen, eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. In DDR-Zeiten wird deren „kulturelles Erbe“ betont, immerhin hat hier einst der Dichter Novalis über Jahre hinweg gelebt und auch sonst erinnern „steinerne Zeugen“ an historisch - zumindest erwähnenswerte – Ereignisse. Doch mit dem Kulturtourismus ist es nun längst vorbei, Sangershausen erscheint ebenso abgewertet wie die DDR. Jetzt zählen nur mehr Stichworte wie Erfolg und Effektivität. Was freilich gleich geblieben ist: das Verhältnis von denen da oben zu denen da unten. Und. Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere...
Da ist Jutta, die als Bedienstete den großen Novalis zur Hand geht und selbst poetische Neigungen verspürt... Da ist – Zeitensprung – Ursula, die zwei Jobs angenommen hat, um sich über Wasser zu halten. Als ihre Chefin, in deren Gaststätte mit zu vermietenden Zimmern eine durchreisende Sänger*innentruppe hofiert, schließt sich Ursula den „coolen“ Frauen der Crew an, erledigt Aufträge für diese, in der Hoffnung, erst Freund*innen zu finden und danach – endlich – Sangershausen entfliehen zu können...
Und da ist Neda, deren Asylstatus einer Karriere als Schauspielerin im Wege steht und die sich deshalb als „Travel-Influencerin“ versucht. Ausgerechnet mit Berichten über die Attraktionen Sangershausens versucht sie Follower*innen zu finden – ein schwieriges Unterfangen...
Die unten sind, wollen nach oben, die Frauen in den Diensten der Herr-schaft haben ihre Sehnsüchte, wider die – Jahrhunderte überdauernden – „ehernen Gesetze“...
Julian Radlmaiers „Sehnsucht in Sangershausen“ (Deutschland 2025) entwickelt anhand der scheiternden Frauen ironische Miniaturen, aber es ist eine liebevolle Ironie, den Scheiternden, die sich im „Besser Scheitern“ (Beckett) versuchen, zugeneigt.
„Sehnsucht in Sangershausen“ ist detailgenau und bedient sich dabei auch der „steinernen Zeugen“ in Sangershausen. Als Ursula mit den „coolen Frauen“ (die sich später als Betrügerinnen erweisen...) herumzieht, steckt eine von diesen einer steinernen Figur als Gag eine Kirsche in die deren Mund markierende Öffnung. Später schleicht sich Ursula, (nunmehr alleine und unbeobachtet), die es sich nicht leisten kann, Kirschen zu kaufen, an die Figur im Denkmal heran und holt sich die Kirsche... Eine allen Tourist*innen, die sich nach Sangershausen verirrt haben, erzählte Tradition aus vergangenen Zeiten ist jene der Steineschlucker, die als „Zirkusnummer“ vor Publikum Steine verzehrten. Was den armen Schluckern bleibt: Steine...
Wenn Ursula und die „Travel-Influencerin“ Neda aufeinander treffen, zwei, die nicht weiter so leben wollen wie bisher, haben diese immer noch Sehnsucht nach Anderem: aus dem, was sie einander erzählen, könnte, im Tauschhandel der Gefühle, ein (gemeinsamer) Plan werden. Scheitert der, gibt es immer noch das Besser Scheitern...

Masha will Model werden. In der Modelschule in Weißrussland, die sie besucht, ist sie der Star. Viele ihrer Mitstudierenden hassen sie deswegen und schicken ihr anonyme Botschaften. Aber Masha sieht halt auch so aus, wie Zeitschriften Models anpreisen: blond, schlank, eine fahle, blasse Haut – ein ätherisches Wesen... Und Masha tut alles, um den Anforderungen zu genügen: sie will perfekt sein. Dafür nimmt sie auch private „Sonderwünsche“ der Agenturchefin in Kauf und steht dann eben in der „pole position“... Aber Perfektion hat ihren Preis: Masha bezahlt ihn mit Depressionen, die immer wieder ein Aussetzen nötig machen.
Ist beides möglich: erfolgreich und auch zufrieden zu sein? Masha trifft bei ihrer Suche nach einer Antwort auf Misha, der als Leichenbeschauer arbeitet, auf engstem Raum mit seiner Mutter wohnt und heimlich Bilder verstörender Gewalt anfertigt. Nichts an Misha „passt“ zu Masha, schon gar nicht sein unperfektes, chaotisches Leben. Trotzdem oder – gerade deshalb – interessiert sie sich für ihn...
„White Snail“ (Österreich/Deutschland 2025), ist der erste Spielfilm des österreichisch-deutschen Regieduos Elsa Kremser und Levin Peter.
Anspruch auf Perfektion: den konnte nicht nur das Model Masha im Film erheben, auch Kremser/Peter waren in Licht, Kadrierung, Schnitt, Ton... auffällig um Perfektion bemüht. Trotzdem ist es kein steriler Film geworden, vielmehr einer, der Menschen in ihren Widersprüchen und Verzweiflungen zeigt. Und: leise, vorsichtig, im Rahmen eines Telefonats, das Masha mit ihrem Vater führt und von diesem gemahnt wird, ja kein falsches Wort zu sagen, wird doch auch die politische Situation in Weißrussland angesprochen...

Der Film, Rado Judes „Dracula“ (Rumänien 2025) erweckt den berühmtesten Untoten der Filmgeschichte zu neuem Leben.
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ verkündet der Theaterdirektor im Vorspiel von Goethes „Faust I“, doch der „Dracula“ von Rado Jude tendiert eindeutig zu „Faust II“, um beim gewählten Vergleich zu bleiben. Keine durchgehende Geschichte, vielmehr auseinanderstrebende Geschichten, in 14 Episoden aufgeteilt. Vieles ist (bewusst) trashig, alles ist mit Ironie und klugen Assoziationen durchsetzt. Méliés wird von Rado Jude ebenso als Referenz genannt wie Ed Wood. Auch das unvermeidliche Thema AI kommt zur Sprache und prompt wird eine AI-Dracula-Pornoversion in Auftrag gegeben... Dass der wie stets kapitalismuskritische Rado Jude die Bemerkungen von Karl Marx zum vampiristischen des Kapitals ins Spiel bringt, ist klar, aber auch die Bibel darf eine Vorlage liefern...
Es gibt auch eine Rahmenhandlung, die in einem auf Touristenfang angelegten Varieté spielt, mit zwei armen Teufeln, die für eine geringe Gage ein Vampirspaar mimen, um dann im Anschluss von den mit Spießen ausgerüsteten Touristen quer durch die Stadt gejagt zu werden. Irgendwann kippt das Spiel in blutigen Ernst: die Spießer benützen ihre Spieße...