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Verschüttete Erinnerungen

Kurt Hofmann

Zur Viennale 2024

14.10.2024

Auch in Ihrer zweiundsechzigsten Ausgabe bietet die Viennale, der Höhepunkt des österreichischen Kinojahres, wieder ein hochwertiges und variantenreiches Programm. Neben Filmen der „üblichen Verdächtigen“ wie Assayas, Carax,Cronenberg, Hong Sansoo, Lav Diaz... ist viel Entdeckenswertes zu sehen.

Die diesjährige Retro im Österreichischen Filmmuseum ist Robert Kramer gewidmet: „Aus dem Schmelztiegel radikal linker Politik geboren, entwickelte sich Kramers Kino innerhalb und jenseits des militanten Kinos.“ schreibt Benjamin Crais über Kramer im Viennale-Katalog.
Das Filmarchiv Austria steuert ein Programm unter dem sorgfältig gewählten Titel: „Helene Thimig: (K)Eine Filmkarriere“ bei und deutet damit an, dass es sich bei dieser Reihe um ein Porträt der großen Theaterschauspielerin Helene Thimig handelt, nur einmal – bei „Strangers in the Night“ – ist sie in einer Hauptrolle zu sehen. Den Mimen flicht die Nachwelt bekanntlich keine Kränze, umso schöner, wenn der Film Erinnerungen an sie bereithält, die auch nachfolgenden Generationen einen Blick auf sie ermöglicht.

Wie immer bietet die Viennale auch zahlreiche Sonderreihen an, z.B. zur Darstellung der japanischen Kolonialzeit im koreanischen Kino. Mehr darüber, zu den Terminen sowie den Einzelheiten des Kartenverkaufs: www.viennale.at

Die Viennale findet heuer vom 17.-29.Oktober im Metro, Gartenbau, Österreichischen Filmmuseum, Stadtkino sowie in der Urania statt. Not to be missed.

Ein Picknick am See. Romantische Stimmung. Eine Sternschnuppe zeigt sich. Hans fragt Hilde, was sie sich wünsche. Nach kurzem Zögern antwortet sie ihm: „Zum Beispiel, keine Angst mehr zu haben.“ Hilde, das ist die spätere Widerstandskämpferin Hilde Coppi, so wie ihr Freund Hans wird sie als Teil der Schulze-Boysen-Gruppe, von den Nazis später denunziatorisch als „Rote Kapelle“ bezeichnet, tätig sein. Aber diese Hilde, wie sie Andreas Dresen in „In Liebe, Eure Hilde“ zeigt, stößt nicht als politisch Versierte zur Gruppe, sondern vielmehr durch die Überwindung ihrer Angst, durch die Hoffnung auf ein anderes – das bessere – Leben. Eine „Unpolitische“ ist sie deshalb nicht, sondern eine, die instinktiv weiß, was sie zu tun hat und dieses „innere“ Wissen durch den Kontakt mit der Gruppe „verfeinert“...
„In Liebe, eure Hilde“ definiert sich über subtil gezeichnete Charaktere und die Vermeidung von Klischees. Wer keine Angst mehr haben will, muss sich denen, welche die Angst verbreiten, entgegenstellen. So entscheidet sich Hilde Coppi in Zeiten des hitlerfaschistischen Terrors, unter Einsatz ihres Lebens.

Die ehemalige Kampfsportlerin Sarah erhält nach dem Karriereende ein überraschendes Angebot: sie soll – unter bestmöglichen finanziellen Voraussetzungen – von Wien ins jordanische Amman übersiedeln, um dort drei Töchter einer reichen Familie zu trainieren. Deren Bruder hat sie engagiert, um diese in Martial Arts zu unterweisen.
Aber die verzogenen Gören erweisen sich zunächst als wenig motiviert, schauen lieber Soaps, oder widmen sich, stets begleitet von Bodyguards, dem Shoppen.
Als die drei allerdings, in ihrem „Goldenen Käfig“ stets beobachtet und reglementiert, feststellen, dass sie in Sarah eine Freundin haben könnten, schmieden sie einen riskanten Plan, für dessen Gelingen Sarahs Mithilfe unabdingbar ist...
„Mond“ ist Kurdwyn Ayubs erster Film, der nicht in ihrem Umfeld angesiedelt ist oder auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Eine Konstruktion also, der man das bisweilen auch anmerkt. Da sind die Nöte der armen reichen Mädchen und da ist Sarah, überzeugend verkörpert von Tanztheater-Superstar Florentina Holzinger, die ein anderes Frauenbild repräsentiert und sich nicht korrumpieren lässt... „Mond“ erzählt vom Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten – das produziert unvermeidlicherweise auch Klischees, aber „Es geht um Schwestern, egal woher sie kommen und um Käfige, egal wo sie stehen“ (Kurdwyn Ayub), also, in der Folge, um das genaue Hinsehen, um den präzisen Blick auf die Verhältnisse...
Zhili ist innerhalb Chinas als die „Metropole der Kinderkleidung“ bekannt. In der Stadt, die in der Provinz Zhejiang liegt, haben 14.000 Firmen ihren Sitz, die jährlich 1,45 Milliarden Kleidungsstücke für den nationalen und internationalen Markt produzieren.
Aber wie, unter welchen Bedingungen, die Kleidung in den Textilwerkstätten hergestellt wird das ist die andere Seite der Medaille, für die sich Wang Bings Doku „Qing chun (Ku)“ (Youth-Hard Times) interessiert. Eines ist es , den Zustand der Werkstätten und die häufig veralteten und fehleranfälligen Maschinen (es soll „möglichst günstig“ produziert werden...) in Anschein zu nehmen, ein anderes, wie die Arbeiter:innen, häufig aus entlegenen Provinzen kommend und meist im jugendlichen Alter, von ihren Vorgesetzten behandelt werden. Aber was passiert, wenn der Chef samt Kasse verschwindet und die Arbeiter:innen um die (ohnedies schon Monate ausstehenden) Löhne geprellt werden? Zunächst nichts, so zeigt uns „Quing chun (Ku)“, denn die Partei wiegelt ab und die herbeigerufene Polizei, als sie denn endlich kommt, interessiert sich mehr für die protestierenden Arbeiter:innen (unbotmäßig...) denn für den mit der Kasse verschwundenen Chef. Der Versuch der Selbstorganisation ist trotz heftiger Diskussionen in Versammlungen schwierig, weil die Angst vor Konsequenzen Entscheidungen behindert. Schließlich soll die Einrichtung der Werkstätte verkauft werden, doch die Käufer:innen erweisen sich als gewieft im Drücken der Preise...
Wang Bing vermittelt mit „Qing chun (Ko)“ (Frankreich/Luxemburg/Niederlande 2024) eine erschreckende Bilanz der Lage der Arbeiter:innen in China. Diese sind rechtlos, schlecht bezahlt, die Arbeits- und (nicht zu vergessen) Wohnbedingungen sind „improvisiert“, die Solidarität für die Mitverschworenen häufig angesichts des äußeren Drucks brüchig... Ein Desaster, dokumentiert durch den unbestechlichen Blick der (Hand-)Kamera. Erstaunlich, wie (und dass) es Wang Bing gelungen ist, das Vertrauen der jugendlichen Protagonist:innen zu erringen und – dies teilweise wohl den chaotischen Verhältnissen vor Ort geschuldet – Dreherlaubnisse zu erhaschen, im Zweifelsfall diese mögliche Hürde wohl auch ignorierend...

Verschüttete Erinnerungen: Als zum Geburtstag von Karens Mann Markus der „Rest der Familie“, angeführt von Karens Schwester Jule eintrifft, long time no see, platzen alte Wunden auf: an eine Kindheit, die alles andere als idyllisch war, an Eltern, die vor den Kindern Geheimnisse hatten, an ein Haus als Festung im Geschlechter – und Generationenkrieg ... Die Feierstunde wird zur Abrechnung, nicht nur zwischen den Kindern von gestern, sondern auch zwischen den Generationen, die hier aufeinander treffen: auch die Nachgeborenen fühlen sich verraten...
Eine dystopische Familie, in der jede/r den/die Anderen hasst: passenderweise hat sich Ramon Zürcher als Anlass dieser Schlacht in „Der Spatz im Kamin“ (Schweiz 2024) eine Geburtstagsfeier ausgesucht und als deren Ort ein Haus, aus dem es kein Entkommen gibt...
Diese keineswegs neue Konstruktion nicht in Klischees abgleiten zu lassen, gelingt Zürcher durch zahlreiche Perspektivwechsel sowie durch die Beimengung surrealer Elemente. Das schauspielerische Atout des Films ist – inmitten eines hervorragenden Ensembles – aber einmal mehr Maren Eggert, die Meisterin des Uneindeutigen, der Zwischentöne (auf der Bühne wie vor der Kamera). Obgleich sie in „Der Spatz im Kamin“ in ihrer Rolle als alle und jede/n beherrschende Hausherrin scheinbar festgelegt ist, gelingt es ihr, Schicht um Schicht ihrer Figur freizulegen, hinter deren Dominanz deren Verletzlichkeit zu zeigen. „Der Spatz im Kamin“ aber interessiert sich frei nach Karl Kraus, für die Familien-Bande: wehe, wenn sie losgelassen...

Die junge Lehrerin Juci trifft in „Fekete pont“ (Lesson Learned; Ungarn 2024; Regie: Balint Szimier) auf demotivierte Schüler:innen und Lehrer:innen, die „Dienst nach Vorschrift“ anstelle pädagogischer Bemühungen betreiben. Dass Juci andere Unterrichtsmethoden einführen will, wird nicht gerne gesehen. Alles soll bleiben, wie es ist, Vorschriften und Rituale sind einzuhalten... Schon bald wird klar, dass „Fekete pont“ kein Schulfilm ist. Die Unbeweglichkeit, die Verbissenheit, mit der alles Ungewohnte abgelehnt wird, wie selbst eine streunende Katze, die alle Kinder lieben (und füttern) von einer älteren Lehrerin zur drohenden Infektionsgefahr erklärt und heimlich vergiftet wird und ein despotischer Schulwart absurde Regeln aufstellt, an die sich alle zu halten haben, macht klar: was hier gezeigt wird, ist keine Schule, sondern ein erstarrtes Land, das sich nach innen wie außen abschottet...
„Lessons Learned“ heißt Balint Szimiers Film im englischen Titel: nichts geht mehr – die Schule als Exempel.

Nur eines hat den jungen Sergeanten Johnny Meadow während der Zeit im Lazarett am Leben gehalten: die Briefe eines Mädchens, von dem er nichts weiß außer dem Namen und der Adresse.
Auf dem Weg zu seiner Rosemary trifft der gesundete Soldat im Zug auf eine junge Ärztin, die sein Interesse weckt...

An Klippen steht ein Haus, für dessen Abgeschiedenheit von der restlichen Welt die Hausherrin sorgt. Sie heißt Hilda Blake und hat noch eine ihr in Unterwürfigkeit und „Freundschaft“ verbundene Haushälterin neben sich. Die Tochter, präsent durch ein übergroßes Porträt, ist abwesend, soll aber, will man Hilda Blake glauben, bald eintreffen...
Irgend etwas stimmt da nicht: dieses Gefühl hat auch Johnny, als er eingeladen und zugleich von der omnipräsenten Hausherrin wieder ausgeladen wird. Seine Freundin aus dem Zug, die ausgerechnet im nahe gelegenen Ort ihre erste Praxis aufmacht, bestärkt ihn darin...
Dieser Hilda Blake, einer düsteren Erscheinung auf Krücken, widerspricht man besser nicht: „Strangers in the Night“, ein Thriller des Westernregisseurs Anthony Mann, entstanden 1944, entwickelt eine perfekte Mischung aus Angst, Geheimnissen und unheimlicher Atmosphäre. Dass die Vorlage für „Strangers in the Night“ von Philip MacDonald, dem Drehbuchautor von Hitchcocks „Rebecca“ stammt, ist dem Film deutlich anzumerken und ein Atout, das andere ist die Konzentration auf die Protagonistin, welche, einer Spinne gleich, ihr Netz ausbreitet...
Ohne die alle Facetten ihrer Figur unnachahmlich entwickelnde Helene Thimig würde wohl manches Schablonenhafte in „Strangers in the Night“ deutlicher sichtbar werden, doch der Blick der Zusehenden bleibt – in der Erwartung dessen, was die mysteriöse Hilda Blake als nächstes vorhat – an der überragenden Helene Thimig haften...

Kurt Hofmann