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Im Zeichen des Neustarts

Kurt Hofmann

Zum Festival in Locarno, Ausgabe 2021

17.08.2021

„Cinema is back“– diesen Leitsatz für seine erste Saison als Direktor des Filmfestivals in Locarno ließ dessen neuer Chef Giona A. Nazaro flächendeckend plakatieren. War es in diesem Zusammenhang nun ein Zufall oder ein (programmatischer) Unfall, dass ausgerechnet ein Film des Streamingdienstes Netflix das Festival eröffnete? „Beckett“ (Italien 2021; Regie: Fernando Cito Filomarino; Piazza Grande), mit shooting star John David Washington in der Titelrolle, spielt mit der Doppelbedeutung des Wortes „accident“ im Englischen und schildert, wie das Opfer eines Autounfalls (durch Sekundenschlaf) plötzlich „accidentally“ von VerschwörerInnen gejagt wird, weil er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war...

„Cinema is back“: Dass ein – von ferne an Hitchcocks „North by Northwest“ orientierter – (Durchschnitts-)Thriller aus dem Hause Netflix das Festival eröffnete und so dessen selbstgewähltes Motto konterkarierte, hinterließ einen schalen Beigeschmack. Überhaupt schien so manches in Nazzaros erster Saison „accidentally“, es mangelte des stringenten Konzepts, der Unverwechselbarkeit, die Locarno unter seinem früheren Leiter Carlo Chatrian in den Status eines A-Festivals beförderte und so mischte sich viel Durchschnittliches mit einigen raren Höhepunkten.

„accidentally“ schien auch die Juryentscheidung für „Seperti Dendam, Rindu Harus Dibayar Tuntas“ (Vengeance is Mine, All Others Pay Cash; Indonesien 2021; Regie: Edwin; Concorso internazionale) als Siegerfilm des Wettbewerbs zu sein, denn die Erzählung über einen Fighter, der unablässig den Zweikampf sucht, weil er damit seine Impotenz kaschieren will und schließlich einer Frau unterliegt (in die er sich prompt verliebt), verliert sich von einer Satire auf Männlichkeitsrituale in eine abstruse Rachegeschichte.

Ein selbstbewusstes Festival setzt auf ein mündiges Publikum, muss es nicht vorsätzlich warnen, dass es sich möglicherweise erschrecken könnte. „This film features scenes that could shock the sensitivity of some viewers“: das ist ein unnötiger „Beipackzettel“, aber dieser vorsorgliche Hinweis findet sich im Katalog ausgerechnet bei einigen der herausragenden Filme, wie z.B. dem nachstehend besprochenen Film „Medea“. Derlei gouvernantenhafte Behütungsversuche wirken – wir schreiben 2021 – doch aus der Zeit gefallen und deplaciert.

Die Zeit ist aus den Fugen: In einem Jahr, nicht ferne den pandemischen Zeiten, ist JJ, ein führender US-Militär, damit beschäftigt, die Welt zu retten. Das geht nicht ohne Kollateralschäden... JJ's Bruder ist ein Widerstandskämpfer (beide werden von Ethan Hawke verkörpert), welcher in einem Verlies gefangengehalten und gefoltert wird. Bewaffneter Sachzwang vs. Gesinnung: davon erzählt Abel Ferrara in seiner Dystopie Zeros and Ones (Deutschland/GB/USA 2021; Concorso internazionale) und lässt an seiner Skepsis über den Zustand der Welt keinen Zweifel.
Der gefangene Bruder kann geortet werden, er ist klar im Bild zu erkennen. Wenn JJ auf seinem Smartphone mitverfolgt, wie der wesensfremde Bruder Verhören unterzogen und misshandelt wird, ist das ein großer Moment in Ferraras Film. Zwar ermöglicht es ausgefeilte Technik (Satellitenbeobachtung des Feindes) zu sehen, was geschieht, doch das unmittelbare Eingreifen ist JJ versagt. Gewohnt, maschinenhaft für vage benannte Ziele zu agieren, sieht er da einem zu, der weiß, weshalb er in Gefangenschaft ist und kann ihm, dem Bruder, weder helfen noch ihn verstehen...

Auf einer geteilten Leinwand ist der Tagesablauf eines älteren Ehepaars zu sehen. Der Mann, ein Schriftsteller und Filmkritiker, arbeitet an seinen Lebenserinnerungen, seinem opus magnum. Die Frau steht ratlos in einem Laden, weiß nicht, wo sie ist und was sie dort will. Später wird der Mann, als er ihr Verschwinden bemerkt hat, sie ins Haus zurückholen. So sehr er weiß, dass sie im Vergessen versunken ist, genügt es ihm zu wissen, dass sie noch weiß, wer er ist... Das ändert sich, als er entdeckt, dass sie sein Manuskript im Klo hinuntergespült hat... Der hinzugezogene Sohn schlägt eine Heimunterbringung der Mutter vor, doch der Vater will, ungeachtet der Konsequenzen, nichts am Status quo ändern... Vielfach sei die Mutter schon getestet worden, es gebe Atteste, ihre Krankheit betreffend, bescheidet er dem Sohn auf dessen Fragen, als dieser insistiert, wird offenbar, dass der Vater lügt... Nichts sehen, nichts hören, nichts reden: der Schriftsteller ist ein Ignorant aus Liebe, erfindet sich eine Geschichte der Kontinuitäten, wo nur noch Leere ist.
Caspar Noé verschließt sich in seinem Alzheimer-Drama Vortex (Frankreich 2021; Piazza Grande), anders als Michael Haneke in „Amour“, einem dramaturgisch feinziselierten Aufbau. Da sind Leerstellen, die nicht ausgefüllt, Wunden, die nicht verschlossen werden. Da ist ein unsichtbarer Feind, der nicht besiegt werden kann ...

In den 1980er Jahren: Qiu Fu kommt der Welt abhanden und übersiedelt, geleitet von Wächtern der Unterwelt, in eine Stadt der Geister. Auf dem Weg dorthin begegnet er alten Bekannten, die ihn, der einst ein berühmter Clown im Ensemble des „New New“ Theaters (der Sezuan-Oper verpflichtet und formal der Armee zugeordnet) war, an den Wandel der Zeiten seit Gründung des „New New“ Theaters in den 1930er Jahren erinnern, sowie daran, wie er sich, seinen Ensemblekollegen gleich, bei jeder politischen Wandlung, aufs Neue verbogen hat in Richtung der jeweils aktuellen Parolen... Jia ma tang hui (A New Old Play; Hongkong/Frankreich 2021; Concorso internazionale) erzählt über ein Theaterensemble, das sich anpasst, doch zugleich treu bleibt, denn der Erhalt der Form geht über alles. Was Regisseur Qiu Jiongjiong in „A New Old Play“ gelingt, ist die Aufhebung der Trennung zwischen Dargestelltem und Erlebten; auch die jeweiligen Machthaber mit ihren stets neuen Forderungen, etwa jener nach Selbstkritik, verschwinden in der Szenerie: ob außen (politische Realität) oder innen (Bühnenrealität) bleibt dabei für die ZuschauerInnen offen, denn gespielt wird immer, auch wenn scheinbar neue Spielregeln gelten... Im Mittelpunkt steht der theatrale Vorgang, dem alles, auch die Integrität und das private Glück geopfert wird... Offen sprechen könn(t)en die Geister, aber da in der chinesischen Tradition die Geisterwelt beinahe ebenso lax von der realen Welt getrennt ist wie sich im Spiel der „New New“-Akteure das „Außen“
(scheinbar) auflöst, tut Qiu Fu gut daran, auch als Geist wortkarg zu bleiben...

„Wo isser denn, der Teufel?“ fragt Johannes, ein ausgewachsener junger Mann mit dem Gemüt eines Kindes. Der Teufel ist bekannterweise schwer zu fassen, aber vielleicht steckt er ja im Detail, wie uns die rot angezeichneten, zum Tod durch baldige Fällung bedrohten Bäume, die in der Anfangssequenz von Luzifer (Österreich 2021; Regie: Peter Brunner; Concorso internazionale) zu sehen sind, vermuten lassen (könnten). Johannes wohnt mit seiner Mutter in einer Almhütte, einem durch einen (zahmen) Adler bewachten Fort der Natur. Da darf keiner hinein, allenfalls der durch die Mutter von Johannes stetig beschworene Herrgott. Aber ob er's denn auch ist, wenn da einer kommt? Fest steht nur, dass der Teufel nicht schläft und es auf die Beiden abgesehen hat. Die Mutter von Johannes, eine fromme Frau, hat mit Johannes so ihre Rituale. Etwa, wenn sie seine Hände auf ihre nackten Brüste legt. An Johannes ist es da zu sagen: „Mama, Rhythmus!“ Wie sich die Beiden aufeinander zubewegen, das ähnelt einer (Zweipersonen-)Sekte mit speziellen Bräuchen. Die Almhütte ist freilich in Österreich verortet und der Teufel, welcher ja vielerlei Gestalt annehmen kann, erscheint zunächst als die Hütte umkreisende Drohne, die ein Angebot für das unverkäufliche und, wie Johannes und seine Mutter mutmaßen, auch uneinnehmbare Fort abwirft, danach steht der Teufel vor der Tür und kommt gleich im Plural, unmissverständlich auf Abriss und Landschaftsverschandelung pochend. Wenn der Teufel aber so mächtig in vielerlei Gestalt auftritt, ist ja vielleicht auch die Mutter der Teufel, schlussfolgert Johannes und beginnt mit einer Austreibung...

Peter Brunner, der mit „To the Night“, 2018 in den USA gedreht, einen formidablen Independent-Film vorlegte, hat sich nun mit Ulrich Seidl als Produzenten einem Heimat-Horror-Western gewidmet, der alle Ingredienzien des österreichischen Wahnsinns enthält. Von der durchgeknallten Religiosität der Mutter zur inzestiösen Mutter-Sohn-Beziehung, von der wahrhaft teuflischen Zerstörung der Natur durch SpekulantInnen zur Ausgrenzung und Bedrohung aller, die am großen Ausverkauf nicht teilnehmen wollen. Nicht zufällig wohl, dass der unbedarfte Sohn Johannes („der Täufer“) heißt und sein Exorzismus originellerweise Assoziationen an die Wiener Aktionisten zulässt... Keinesfalls zufällig, vielmehr dem Hang zum „Authentischen“ (wie in Ulrich Seidl-Produktionen nicht unüblich) geschuldet, ist die Besetzung der Mutter mit Susanne Jensen, einer Pastorin und Performerin, die in ihren Auftritten ebenso wie ihre Filmfigur (die damit einiges erklärt) über Missbrauch in ihrer Kindheit spricht ...
In der Besetzungsliste von „Luzifer“ findet sich nur ein einziger Profi, Franz Rogowski als Johannes, der einmal mehr seine Ausnahmestellung im deutschsprachigen Film behauptet.
Inmitten eines Festivals, welches sich mit wenigen (großteils hier besprochenen) Ausnahmen bemühte, vor allem „publikumsfreundlich“ zu sein, erregte dieser „ungezähmte“ Film Aufsehen – zu Recht.

Lera lebt mehrere Leben: Tagsüber studiert sie Soziologie und interviewt nach den Vorlesungen in heruntergekommenen Vierteln von der Gesellschaft vergessene Existenzen zu „gesellschaftlich relevanten Themen“. In ihrer Wohnung wartet die depressive Mutter auf sie, die regelmäßig unangekündigten Besuch von einem Alkoholiker und Schläger erhält – Leras Vater ... Abends verdient sie als „Gerda“ das Geld für Miete und Studium in einer Bar an der Stange tanzend.
Für eigene Wünsche und Bedürfnisse bleibt da keine Zeit. Jeder Tag wird „absolviert“ und abgehakt, immerhin wieder überlebt...
Unter ihren Kolleginnen in der Bar ist sie die Außenseiterin, die sich konsequent lukrativen „Übereinkünften“ mit Kunden verweigert. Als Lena doch einmal zustimmt, sich für ein exorbitantes „Salär“ gemeinsam mit einer anderen Barfrau in einem Hotelzimmer mit einem Haufen betrunkener und sabbernder „Freier“ zu treffen, verliert die Andere wegen einer Überdosis Koks das Bewusstsein.
„Gerda“ improvisiert, um nicht in die Fänge der kaum mehr zu haltenden Bande zu geraten, steigt auf ein Bett und beginnt, ein Lied vorzutragen, kaum hörbar mit brechender Stimme, und es ist nicht dessen sinnbefreiter Text, der die Männer zum Schweigen bringt, vielmehr, wie deren potentielles Opfer, über das sie eben herfallen wollten, seine Ausgeliefertheit vermittelt...
Es sind Momente wie dieser, welche Gerda (Russland 2021; Regie: Natalya Kudryashova; Concorso internazionale) vor einem larmoyanten Porträt der geschundenen Frau bewahren. Lera kann sich Sentimentalität nicht leisten, will auch keineswegs so wie ihre Mutter zu einer werden, die sich in alles fügt.
Für Wut und Aufbegehren reicht es dennoch nicht, da ist allenfalls ein Sich-Verkrampfen. Irgendwann aber ist es zu viel. Das kündigt sich schon an, als „Gerda“ entgegen der vorgeschriebenen Choreographie, ihren Tanz nackt und ekstatisch, doch nicht lasziv, sondern voll sichtbarer Verachtung darbringt (wieder einer dieser Momente in „Gerda“) und wird am Ende sichtbar, als Lera aus der alltäglichen Misere eine Konsequenz zieht, die unabsehbare Folgen haben kann...

Um den Alltag im abgeschiedenen Landleben auszuhalten, ist Alkohol dringend vonnöten. Abstinenz ist bei allen, die rund um Jans Bauernhof leben und arbeiten, unbekannt. Insbesondere Christin, Jans Freundin, greift, wiewohl deren Vater der traurige Fall eines rettungslosen Säufers ist, regelmäßig in unbeobachteten Augenblicken zur Flasche, anders würde sie es nicht aushalten. Christin fühlt sich in ihrer Umgebung wie ein Alien, nur die Gespräche mit ihrer besten Freundin helfen ihr darüber (gelegentlich) hinweg. Alle Männer vor Ort, längst auch Jan, haben sich Muster ohne Wert erwiesen, neigen zu latenter Gewalt, einer hat sogar Kontakte zur Naziszene.
Die selbstbewusste und unangepasste Christin verhält sich stoisch, „macht ihr Ding“ und hat erst genug, als sie der Mann in mittleren Jahren aus dem urbanen „Draußen“, der erfahrene Liebhaber, beim Sex mit einer Zigarette brandmarkt wie eine Kuh – das kennt sie schon...
Niemand ist bei den Kälbern (Deutschland 2021; Regie: Sabrina Sarabi; Concorso Cineasti del presente) erzählt Christins Geschichte knapp und reduziert im Stil der „Berliner Schule“, nur eben im (engsten) ländlichen Raum angesiedelt. So wie sich Christin verhält, ist das in ihrer Umgebung nicht vorgesehen, doch nur als Alien kann sie überleben.

Der klassische „Medea“-Stoff lässt sich bekanntermaßen auf vielfache Weise interpretieren. Pasolini hat seiner Verfilmung (mit Maria Callas) eine antikolonialistische Richtung gegeben, den Aspekt des Fremden betont. In Alexander Zeldovichs Medea (Rußland 2021; Concorso internazionale), einer zeitgenössischen Version, ist „Jason“ ein kalter Erfolgstyp, dem seine Versprechungen gegenüber Medea nichts, die weitere Anhäufung seines Vermögens aber alles bedeuten. Wenn sich schließlich auch diese Medea zum finalen, schrecklichen Kindermord entschließt und auf eine entfernte Anhöhe zurückgezogen hat, muss der stets auf großem Fuß Lebende Touristen um Kleingeld anbetteln, um durch das Fernrohr zu sehen, was seine einstige Geliebte geplant und auch durchgeführt hat – ein brillanter Regieeinfall von Regisseur Alexander Zeldovich, der sich auch zuvor nicht bemüht, Sympathien für seine Medea, Verständnis für deren Motivation zu erheischen. Diese Medea ist ihrem „Jason“ (der so im Film nicht heißt) ebenbürtig, hat sich entschlossen, nicht Opfer, sondern Täterin zu sein, lange vor ihrer letzten, dann doch verzweifelten Tat.
Die Uhr, in der die Zeit rückwärts läuft (und somit alles wieder „im Lot“ wäre), sucht Medea allerdings vergebens, da kann ihr auch ein alter, weiser Uhrmacher nicht helfen ...