Wenn das Spiel kippt
Kurt Hofmann
Zum Filmfestival in Locarno 2025
19.08.2024
„Was für das Auge ist, soll keine bloße Verdoppelung dessen sein, was für das Ohr ist.“ schreibt Robert Bresson in seinen „Notizen zum Kinematographen“ (Alexander-Verlag, S.52) Den Ansprüchen des Kinos gerecht zu werden: das ist die Herausforderung für jedes Festival, erst recht für ein ambitioniertes Filmfest wie Locarno, das heuer in seine 78.Saison ging.
Masha will Model werden. In der Modelschule in Weißrussland, die sie besucht, ist sie der Star. Viele ihrer Mitstudierenden hassen sie deswegen und schicken ihr anonyme Botschaften. Aber Masha sieht halt auch so aus, wie Zeitschriften Models anpreisen: blond, schlank, eine fahle, blasse Haut – ein ätherisches Wesen... Und Masha tut alles, um den Anforderungen zu genügen: sie will perfekt sein. Dafür nimmt sie auch private „Sonderwünsche“ der Agenturchefin in Kauf und steht dann eben in der „pole position“... Aber Perfektion hat ihren Preis: Masha bezahlt ihn mit Depressionen, die immer wieder ein Aussetzen nötig machen.
Ist beides möglich: erfolgreich und auch zufrieden zu sein? Masha trifft bei ihrer Suche nach einer Antwort auf Misha, der als Leichenbeschauer arbeitet, auf engstem Raum mit seiner Mutter wohnt und heimlich Bilder verstörender Gewalt anfertigt. Nichts an Misha „passt“ zu Masha, schon gar nicht sein unperfektes, chaotisches Leben. Trotzdem oder – gerade deshalb – interessiert sie sich für ihn...
„White Snail“ (Österreich/Deutschland 2025; Concorso Internazionale), der erste Spielfilm des österreichisch-deutschen Regieduos Elsa Kremser und Levin Peter, wurde in Locarno gleich mit Preisen überhäuft. Er erhielt nicht nur den „Spezialpreis der Jury“, sondern auch den (heuer geteilten) Preis für die beste schauspielerische Leistung, der an die Masha/Misha-Darsteller Marya Indro und Mikhail Senikov erging.
Anspruch auf Perfektion: den konnte nicht nur das Model Masha im Film erheben, auch Kremser/Peter waren in Licht, Kadrierung, Schnitt, Ton... auffällig um Perfektion bemüht. Trotzdem ist es kein steriler Film geworden, vielmehr einer, der Menschen in ihren Widersprüchen und Verzweiflungen zeigt. Und: leise, vorsichtig, im Rahmen eines Telefonats, das Masha mit ihrem Vater führt und von diesem gemahnt wird, ja kein falsches Wort zu sagen, wird doch auch die politische Situation in Weißrussland angesprochen...
Der Film, welcher wohl das größte Interesse vorab erweckte, war Rado Judes „Dracula“ (Rumänien 2025; Concorso Internazionale).
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ verkündet der Theaterdirektor im Vorspiel von Goethes „Faust I“, doch der „Dracula“ von Rado Jude tendiert eindeutig zu „Faust II“, um beim gewählten Vergleich zu bleiben. Keine durchgehende Geschichte, vielmehr auseinanderstrebende Geschichten, in 14 Episoden aufgeteilt. Vieles ist (bewusst) trashig, alles ist mit Ironie und klugen Assoziationen durchsetzt. Méliés wird von Rado Jude ebenso als Referenz genannt wie Ed Wood. Auch das unvermeidliche Thema AI kommt zur Sprache und prompt wird eine AI-Dracula-Pornoversion in Auftrag gegeben... Dass der wie stets kapitalismuskritische Rado Jude die Bemerkungen von Karl Marx zum vampiristischen des Kapitals ins Spiel bringt, ist klar, aber auch die Bibel darf eine Vorlage liefern...
Es gibt auch eine Rahmenhandlung, die in einem auf Touristenfang angelegten Varieté spielt, mit zwei armen Teufeln, die für eine geringe Gage ein Vampirspaar mimen, um dann im Anschluss von den mit Spießen ausgerüsteten Touristen quer durch die Stadt gejagt zu werden. Irgendwann kippt das Spiel in blutigen Ernst: die Spießer benützen ihre Spieße...
Kroatien, im frühen 20.Jahrhundert: Plötzlich taucht da eine auf, ganz in Schwarz gekleidet, und verlangt Zugang in eine abgeschlossene (Männer-)Gemeinschaft. Sie sei die Witwe eines nach Chile ausgewanderten Hirten, eines Bruders der abgeschieden Lebenden. Hier, in den Bergen, ist alles, was in den Tälern schon in Bewegung geraten sein mag, noch so, wie es seit ehedem war. Die Frauen sind auf ihren Platz verwiesen und folgen den männlichen Anordnungen. Doch Teresa, die Witwe, stammt aus dem fernen Chile, für die Hirten das andere Ende der Welt...
Die „Stumme“, auf welche Teresa als erstes trifft, haben die Hirten ausgestoßen und abseits ihres Lebensbereiches zu den niedrigsten Diensten verpflichtet. Diese junge Frau kann sprechen, doch hat sie sich wohl zu wenig angepasst und wurde deshalb von der Gemeinschaft zum Schweigen verdammt. Ihr vertraut Teresa und wird für die „Stumme“ der erste Mensch, dem sie vertrauen kann.
Zu den Hirten geführt, erkennen diese sofort, dass Teresa nicht bereit ist, die alten Regeln anzunehmen. Da ist eine, deren Präsenz sich nicht ignorieren lässt. Andererseits lockt das Erbe des in der Ferne verstorbenen Bruders. Wer die Witwe für sich gewinnen kann, gewinnt auch das vorerst brachliegende Land des Toten und dessen Haus.
Teresa spielt mit den Erwartungen der Hirten und rückt immer mehr ins Zentrum der Gemeinschaft. Auch die Frauen verfolgen mit Interesse, wie da eine die Verhältnisse durcheinanderbringt....
„Bog nece pomoci“ (God Will Not Help; Kroatien 2025; Regie: Hana Jusic; Concorso Internazionale) ist eine kroatische „Teorema“-Variante. Wie in Pasolinis Film ist da der (diesmal weibliche) Eindringling, der alles durcheinanderbringt, durch dessen Faszination das zuvor Wohlgeordnete ins Wanken gerät. Da werden Begehrlichkeiten unterschiedlicher Art geweckt und Spuren gelegt, die sich später als trügerisch erweisen...
Für diese Konstruktion braucht es eine starke Protagonistin, die Regisseurin Hana Jusic mit Manuela Martelli gefunden hat. Dass diese, gemeinsam mit Ana Marija Veselcic, der Darstellerin der „Stummen“ den (diesmal geteilten) „Preis für die beste schauspielerische Leistung“ erhalten hat, ist folgerichtig und verdient.
Olivia, ein Kind im Körper einr jungen Frau, lebt mit ihrem Vater in the middle of nowhere. Sie hat ein Faible für Insekten, die sie für ihre Sammlung penibel aufgespießt hat. Als der Vater heimkommt, findet sich auf einem seiner weißen Stiefel ein kleiner, aber unübersehbarer Blutfleck. Das Weiße der Stiefel ist das einzig Helle im Dunkel des Hauses, bloß die Konturen von Olivias stets angstvollen Gesichtszügen sind sonst erkennbar. Als Olivia ein Fenster öffnet, wird der Blick auf den in düsteren Farben gekleideten Horizont gerichtet. „Werden wir alle verbrennen?“ fragt Olivia. Und der Vater antwortet: „Nein, wir könnten auch alle erfrieren...“ Das klingt wie eine Pointe, ist es aber nicht, denn der Vater hat Olivia in ruhigem, überlegten, völlig unironischen Ton geantwortet – es geht dem Ende zu, soviel steht fest...
Eines Tages ist der Vater verschwunden. Olivia vermutet ihn hinter einer verschlossenen Tür und nimmt eine Axt, um sie einzuschlagen. Wie sie mit dieser Axt verfährt, wie sich ihre Gesichtszüge plötzlich verändern, lässt ein (Film-)Bild wieder auftauchen: es stammt aus Kubricks „The Shining“...
Auf der Suche nach ihrem Vater verlässt Olivia das Haus, ein Hexenhaus ohne Hexe. Wenn sie um Hilfe bei ihrer Suche bittet, wird sie nach des Vaters Nachnamen gefragt und bringt doch nur ein kindliches „Papa“ als Antwort zustande... Aber Olivia vermeint zu wissen, dass der Vater im Schlachthaus arbeitet. Dort verbirgt sie sich, um Näheres über dessen Verbleib zu erfahren. Plötzlich rast eine Herde der zum Tod verurteilten Tiere auf sie zu...
„Olivia“ (Argentinien 2025; Regie:Sofia Petersen; Concorso Cineasti Del Presente), war die Überraschung des Festivals. Wohl dem Horror-Genre zuzurechnen (manche sprachen von einem Märchen), fehlt doch die konkrete Bedrohung. Es sind Versatzstücke, die Bedrohliches sichtbar machen. Je länger Olivias Suche nach dem Vater dauert, umso mehr nimmt die Geschichte eine überraschende Wendung – und wieder wird dabei Kubricks „The Shining“ zitiert...
Wie Sofia Petersen allein mit filmischen Mitteln, konkret mit einer 16mm-Ektachrome-Kamera, eine assoziative „Geschichte“ ohne Anspruch auf Erklärung, ihr Interesse einzig auf Wechselwirkung von Licht und Dunkel sowie auf Momente der Suspense richtend, erzählt, das war innerhalb des diesjährigen Festivals beispiellos.
Da ist Sangershausen, eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. In DDR-Zeiten wird deren „kulturelles Erbe“ betont, immerhin hat hier einst der Dichter Novalis über Jahre hinweg gelebt und auch sonst erinnern „steinerne Zeugen“ an historisch - zumindest erwähnenswerte – Ereignisse. Doch mit dem Kulturtourismus ist es nun längst vorbei, Sangershausen erscheint ebenso abgewertet wie die DDR. Jetzt zählen nur mehr Stichworte wie Erfolg und Effektivität. Was freilich gleich geblieben ist: das Verhältnis von denen da oben zu denen da unten. Und. Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere...
Da ist Jutta, die als Bedienstete den großen Novalis zur Hand geht und selbst poetische Neigungen verspürt... Da ist – Zeitensprung – Ursula, die zwei Jobs angenommen hat, um sich über Wasser zu halten. Als ihre Chefin, in deren Gaststätte mit zu vermietenden Zimmern eine durchreisende Sänger*innentruppe hofiert, schließt sich Ursula den „coolen“ Frauen der Crew an, erledigt Aufträge für diese, in der Hoffnung, erst Freund*innen zu finden und danach – endlich – Sangershausen entfliehen zu können...
Und da ist Neda, deren Asylstatus einer Karriere als Schauspielerin im Wege steht und die sich deshalb als „Travel-Influencerin“ versucht. Ausgerechnet mit Berichten über die Attraktionen Sangershausens versucht sie Follower*innen zu finden – ein schwieriges Unterfangen...
Die unten sind, wollen nach oben, die Frauen in den Diensten der Herr-schaft haben ihre Sehnsüchte, wider die – Jahrhunderte überdauernden – „ehernen Gesetze“...
Julian Radlmaiers „Sehnsucht in Sangershausen“ (Deutschland 2025; Concorso Internazionale) entwickelt anhand der scheiternden Frauen ironische Miniaturen, aber es ist eine liebevolle Ironie, den Scheiternden, die sich im „Besser Scheitern“ (Beckett) versuchen, zugeneigt.
„Sehnsucht in Sangershausen“ ist detailgenau und bedient sich dabei auch der „steinernen Zeugen“ in Sangershausen. Als Ursula mit den „coolen Frauen“ (die sich später als Betrügerinnen erweisen...) herumzieht, steckt eine von diesen einer steinernen Figur als Gag eine Kirsche in die deren Mund markierende Öffnung. Später schleicht sich Ursula, (nunmehr alleine und unbeobachtet), die es sich nicht leisten kann, Kirschen zu kaufen, an die Figur im Denkmal heran und holt sich die Kirsche... Eine allen Tourist*innen, die sich nach Sangershausen verirrt haben, erzählte Tradition aus vergangenen Zeiten ist jene der Steineschlucker, die als „Zirkusnummer“ vor Publikum Steine verzehrten. Was den armen Schluckern bleibt: Steine...
Wenn Ursula und die „Travel-Influencerin“ Neda aufeinander treffen, zwei, die nicht weiter so leben wollen wie bisher, haben diese immer noch Sehnsucht nach Anderem: aus dem, was sie einander erzählen, könnte, im Tauschhandel der Gefühle, ein (gemeinsamer) Plan werden. Scheitert der, gibt es immer noch das Besser Scheitern...