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Das Minoritäre des essayistischen Kinos

Kurt Hofmann

Die Linke unterstützt den nachfolgenden aktuellen Hinweis der Vierteljahresschrift "Brot & Spiele"
Ein wichtiger Kino-Tipp: In der Nullnummer von „Brot & Spiele“ besprach Gunnar Landsgesell Peter Grabhers Buch „Hier und anderswo / Palästina – Israel im essayistischen Film“. („Brot & Spiele§ 0/S. 66-67, Mai 2023) Nun ist ein ausgewähltes Programm der in diesem Buch besprochenen Werke im Österreichischem Filmmuseum zu sehen, Gerald Weber hat für Brot & Spiele 1/2025 Peter Grabher zu Buch und Filmreihe interviewt. (hier vorab zu lesen)

11.03.2025

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Gerald Weber (GW): 2021 hast Du dein Buch „Hier und Anderswo. Palästina-Israel im essayistischen Film (1960-2010)"1 herausgebracht – einige Filme, die Du darin analysierst werden im März im Österreichischen Filmmuseum gezeigt.2 Auf den ersten Blick scheint es hier um die Schnittmenge von zwei Themenfeldern zu gehen, die beide auf ein größeres verweisen: Einerseits ein spezifisches Filmgenre als Spielform des dokumentarischen Kinos, der essayistische Film, andererseits die Beschäftigung mit einem seit Jahrzehnten andauernden geopolitischen Konflikt. Was war der Ausgangspunkt für Dein Projekt?

Peter Grabher (PG): Wenn ich den Anfang datieren soll, komme ich auf den Film "Ici et ailleurs", „Hier und anderswo“, von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville aus dem Jahr 1976. Diesen Film hatte ich ein paar Mal gesehen und er hat mich immer wieder mit einer gewissen Ambivalenz zurückgelassen. Diese Ambivalenz hat sich wiederum mit einer allgemeinen Befangenheit getroffen, über Israel und Palästina zu reden. Begonnen hat meine Auseinandersetzung mit diesem Film im Frühjahr 2000. Historisch markiert war diese Zeit durch den Besuch des damaligen israelischen Premiers Ariel Sharon auf dem Tempelberg, was die zweite Intifada ausgelöst hat, während wir hierzulande gegen die erste schwarz-blaue Regierung protestiert haben.

Es gab also dieses „Hier“. Es war dabei klar, dass der Blick auf Israel-Palästina, wenn man ihn von Österreich aus wirft, ganz bestimmte Voraussetzungen hat, die es zu reflektieren gilt. Auf der anderen Seite eben dieses „Anderswo“: Israel-Palästina. Meine Idee war es, durch die Beschäftigung mit diesem Film starke kognitive Dissonanzen zu bearbeiten und dadurch zu einer größeren Klarheit im eigenen Sprechen und Handeln zu kommen. Das passte dazu, dass Godard und Miéville in dem Film etwas ganz ähnliches versuchten, nämlich in einem Moment über ein Anderswo zu reden, das gerade in die Ferne gerückt schien. Der Film war ja 1969 zuerst eine Auftragsarbeit der Fatah und der Arabischen Liga gewesen, da gab es eine rückhaltlose Identifikation mit der palästinensischen Sache, auch mit dem bewaffneten Kampf gegen Israel, der als Kampf gegen eine Kolonialmacht gedacht wurde, am Modell des algerischen Befreiungskampfs gegen das koloniale Frankreich. Diese recht einfache Perspektive auf den Nahen Osten ist nach dem „Schwarzen September“ 1970 zerbrochen, aber auch durch die Ereignisse der Münchner Geiselentführung 1972 und des Oktober-Kriegs 1973. Das Ende des „Roten Jahrzehnts“ war gekommen, der Hintergrund, vor dem die Filmemacher:innen sich mit dem kolonial unterdrückten Palästina identifiziert hatten, war verschwunden. Godard und Miéville sind daher zu einer essayistischen Form übergegangen, die sich von dem Agitprop-Film der ursprünglichen Konzeption stark unterschieden hat.

GW: Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit der kinematografischen Form des Essayfilms, der du ein sehr ausführliches Kapitel widmest. Godard ist dabei eine zentrale Figur, aber auch Chris Marker, der in den 1960er-Jahren als eine Art Erfinder des Essayfilms gilt. Du beschreibst das als eine ganz bestimmte Form des Blicks auf die Welt, der irgendwie verschoben wird. Möchtest du diesen Begriff des Essayistischen im Kino ein wenig umreißen?

PG: Ja, ich würde ich sagen, Essayfilme verschieben tatsächlich den Blick und zwar von der Welt auf den Blick selbst. Es sind Filme, die nicht so tun, als ob die Kamera die Welt wirklich abbilden könnte. Diese Vorstellung der Abbildung ist ja so naheliegend und uns so geläufig, dass wir fast nicht anders können, als an das Bild in irgendeiner Weise zu glauben. "Seeing is believing" ist die Grundformel des Kinos und der audiovisuellen Medien überhaupt. Die Wahrnehmungspsychologie und die Erkenntnistheorie belehren uns aber darüber, dass dieser Glaube eben nur ein Glaube ist und dass wir eigentlich nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn sehen. Das essayistische Kino ist ganz einfach ein Kino, das sich auf der Höhe dieser Feststellung bewegt. Es sagt den Betrachter:innen: „Ich zeig' Dir jetzt ein Bild. Aber Vorsicht: Es ist nur ein Bild der Welt, nicht die Welt selbst." Der Film öffnet kein transparentes Fenster in die Wirklichkeit, sondern ist ein Anlass für Interpretationen, die wiederum durch den Blick der Betrachter:innen geformt sind.

Marker bezog sich in seiner Arbeitsweise auf einen Text von Alexandre Astruc von 1948 über die sogenannte "Caméra-stylo"3, also die Kamera als Schreibstift, in dem er fordert, dass der Film zu einem Werkzeug werden soll, um Gedanken Ausdruck zu verleihen. Weiters schreibt er, dass dieses neue Kino einer bestimmten Sorge um die Zukunft verpflichtet sei. Diese beiden Bestimmungsmerkmale des Kinos enthalten etwas zutiefst Humanistisches, indem sie den Gegenstandsbereich des Kinos auf die Subjektivität selbst ausweiten. Anders gesagt ist für Astruc (und Marker) nicht die Abbildung von Wirklichkeit Aufgabe des Films, sondern die Produktion von Gedanken und Gedächtnis, von Subjektivität und Subjektivierungsprozessen.

In Markers Essayfilm zu Israel "Beschreibung eines Kampfes", heißt es also nicht: „Israel ist so und so“, sondern: „Ich nehme hier dieses und jenes wahr, aber ich nehme diese Wahrnehmungen nicht als einfache Wahrheit, sondern als Zeichen.“ Es ist sehr interessant, zeitgleiche Filme anzuschauen, die in eine Art filmischen Realitätsrausch verfallen, heute aber ganz altbacken, oberflächlich und propagandistisch wirken, während sich Markers Film heute als taufrisch und aktuell erweist. Marker liest seine Gegenwart als eine Konstellation von Zeichen. Die gefilmte Gegenwart wird als Momentaufnahme eines Werdensprozesses verstanden. Auf diese Weise sollen mögliche Zukünfte entziffert werden. Astrucs Sorge um die Zukunft ist in Markers Film in jeder Einstellung deutlich zu spüren.

GW: Vielleicht ist es auch eine Qualität des essayistischen Kinos, dass es eine andere Form von Realität repräsentiert. Jenseits der Abbildung öffnet es mehrere Schichten der Wirklichkeit und gibt ihr dadurch mehr Tiefe als eine einfache Spiegelung.

PG: Ja, der Essayfilm zielt auf etwas Unsichtbares. Die menschliche Wirklichkeit wird nicht als griffige Objektivität, sondern als eine Mischung von Realem und Imaginärem verstanden. Es geht um eine Idee, die schon bei Eisenstein und seiner dialektischen Montage angelegt ist, nämlich dass man dem Kino das Denken beibringen kann, indem man durch die Verbindung von zwei Bildern etwas Drittes entstehen lässt, was über das Sichtbare hinausweist. Der Essayfilm verwendet neben der Montage verschiedenste Strategien, um da hinzukommen, so etabliert er ein nicht-hierarchisches, quasi demokratisches Verhältnis zwischen Bild und Ton und spielt mit den Interferenzen, die zwischen Visuellem und Sprachlichem auftauchen. Auf dieser dritten Ebene erfolgt die Lektüre des Wirklichen.

Hannah Arendt hat hierzu etwas sehr wichtiges in ihrem Aufsatz über "Wahrheit und Politik"4 geschrieben, ohne dabei an den Film zu denken: Die Wirklichkeit sei nicht einfach die Summe eindeutiger Fakten. Für die Menschen seien diese Fakten nämlich immer schon Teil einer erzählbaren Geschichte, in der sie eine Bedeutung erhalten, die menschlich sinnvoll sei. In den audiovisuellen und digitalen Medien und teilweise auch im Dokumentar- und Spielfilm findet man ja überall diese Fetischisierung des Faktischen. Demgegenüber sind Essayfilme zurückhaltend. Sie sind Vertreter eines "langsamen Denkens", um mit Daniel Kahneman5 zu sprechen. Sie nehmen sich Zeit für die kognitive und affektive Verarbeitung, und stemmen sich so gegen die Macht psychischer Automatismen. Dieses langsame Denken besteht auch in der Hemmung, direkt in die Aktion überzugehen, die etwa durch die scheinbare Beweiskraft eines Bildes ausgelöst wird – im schlimmsten Fall ein Angriff auf den Anderen, der schuld an meiner Angst, Trauer oder Wut ist, der vermeintlich mein Leben bedroht. In der Geschichte Israel-Palästinas haben Bilder im Mindset von Akteuren und Akteurinnen immer wieder diese Rolle gespielt.

Es gibt also keine einfachen "facts on the ground“ und es ist ideologisch, aufgrund von "Tatsachen", die scheinbar für sich selbst sprechen, Sichtweisen oder Taten zu rechtfertigen. Das klingt nach dem 7. Oktober 2023 vielleicht etwas provokant. Andererseits ist es auch kein Zufall, dass es bisher noch keine Filme gibt, die die mit diesem Datum verbundenen apokalyptischen Ereignisse in essayistischer Weise bearbeiten.

GW: Du erwähnst die Sorge um die Zukunft, von der Astruc spricht und auf die ja auch Chris Marker referiert. Seine „Beschreibung eines Kampfes“, wie sein Film über Israel 1960 nach einer Erzählung von Kafka heißt, hat durchaus optimistische Züge, was natürlich auch mit der Zeit seiner Entstehung zu tun hat.

PG: Chris Marker ist 1959 von Lia und Wim van Leer in Moskau eingeladen worden, eine Art "Lettre de Tel-Aviv" zu machen, analog zu seinem Film "Lettre de Sibérie"6, den die beiden in Moskau gesehen haben und von dem sie tief beeindruckt waren. Marker ist auf das Angebot eingegangen und hat nach einer Recherche-Reise mit Vespa und Fotoapparat dann tatsächlich diesen Film gemacht. Er drehte im ganzen Land von Eilat bis in zum Golan. Wim van Leer meinte, es sei für ihn unvorstellbar gewesen, wie aus diesen Bruchstücken ein Film werden sollte. Die Cutterin Eva Sora erzählt sehr schön, wie der künstlerische Prozess dann in äußerst konzentrierter Form in einem Pariser Schnittstudio vonstatten gegangen ist.

Aus den gefilmten Bruchstücken ist ein, wie ich finde, bis heute faszinierendes Porträt eines jungen Staates geworden, dem eine gewisse Utopie eingeschrieben war. Das war sicher auch Markers Motiv, dieses Filmprojekt zu realisieren, weil er ja auf der Suche war nach konkreten Utopien, heterotopen Orten, die während des Kalten Krieges eine Alternative darstellten, jenseits des liberalen Kapitalismus auf der einen und dem bürokratischen Staatssozialismus auf der anderen Seite. Auch aufgrund seiner Geschichte als Résistance-Mitglied, Antifaschist und gewiss auch Freund Israels ging er das mit einer positiven Grundhaltung an, das merkt man dem Film in jedem Moment an. Aus heutiger Sicht verniedlicht er den israelischen Staat bisweilen, aber der Film bleibt trotzdem ein spannender audiovisueller Entwurf, weil er in der sichtbaren Wirklichkeit Israels nach den Spannungen und Bruchlinien sucht, die dieses kollektive Gefüge bestimmen, kurz nach dem Suezkrieg und genau in dem Moment, als mit dem Eichmann-Prozess der Holocaust im öffentlichen Bewusstsein verankert wurde.

GW: Über 40 Jahre nach „Beschreibung eines Kampfes“ produzierte der israelische Filmemacher Dan Geva eine Art Hommage an Markers Film oder nennen wir es besser eine Revision?

PG: Dan Geva hat Markers Film als Bub in den 1970er-Jahren gesehen und hat, wie er sagt, diese Bilder nie vergessen. Sein eigener Film "Description of a Memory" ist nach jahrelangen Recherchen und Dreharbeiten 2006 herausgekommen, er bildet zusammen mit Markers Film ein ziemlich einmaliges Diptychon. Geva hat Markers Methodik übernommen und erneuert. Wie auch Marker verwendet er die Kamera als Instrument zur Spurensuche, als eine Art Röntgengerät, man könnte fast sagen: als eine Art diagnostischen, prophetischen Apparat, mit dessen Hilfe im Sichtbaren Zeichen gelesen werden, die darauf hindeuten, welche Zukunftsoptionen möglich sind. Geva will wissen, was in den Jahrzehnten seit Markers Film passiert ist. Wie sind die Fragen zu beantworten, die Marker 1960 gestellt hat? Was ist aus den Hoffnungen der Menschen geworden, die in Markers Film auftauchen? Geva begab sich auf die Suche nach diesen Personen, jüdischen und arabischen Israelis, und berichtet im Film dann über teilweise sehr traurige Begegnungen.

Dann gibt es noch eine andere Ebene in Gevas Film, die aus heutiger Sicht natürlich sehr interessant ist: 2005 ließ Ariel Sharon die jüdischen Siedlungen in Gaza räumen. Geva begleitet einen ehemaligen Jugendfreund, der sich zum nationalreligiösen Siedler gewandelt hat und nun sein Haus räumen muss. Das sind die Ingredienzien für diesen Essayfilm, der im Gegensatz zu Markers Film geradezu dystopisch wirkt und eine recht bittere Bilanz zieht in Bezug auf die Hoffnungen und Utopien, denen Marker auf der Spur gewesen war.

GW: Auch Yvann Yagchis Film "There was Nothing here before" von 2024 dreht sich um die Geschichte einer Freundschaft: Yagchi, selbst als Kind palästinensischer Eltern in der Schweiz aufgewachsen, besucht einen ehemaligen Freund aus jüdischer Familie, der inzwischen ebenfalls ein radikaler Siedler in den Westbank geworden ist. Sein Film entwickelt sich dann zu einer Spurensuche nach seiner eigenen palästinensischen Identität und einer Auseinandersetzung mit einem zentralen Narrativ der israelischen Staatsgründung. Sowohl bei Geva als auch bei Yagchi sind Freundschaften der Ausgangspunkt der filmischen Erzählung.

PG: Ja, und ich denke, das ist kein Zufall. Es ist eine häufige Strategie im Essayfilm, dass sie sich signifikanten Anderen zuwenden. Das Gespräch mit diesen bekommt eine tragende Funktion, es befreit den filmischen Diskurs vor der Gefahr, in einem rein subjektiven Monolog zu enden. In der Auseinandersetzung mit dem Anderen werden intersubjektive Prozesse und kollektive Makrostrukturen sichtbar. Solche Dialogsituationen können auch kontroversiell sein, sie können auch dort anknüpfen, wo es Entfremdung gab, wie in den beiden Fällen, die du angesprochen hast. Oft steht auch der Dialog mit prägenden Personen, wie dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter im Zentrum, wie in den Filmen von Udi Aloni, Ula Tabari oder Elia Suleiman, die alle diese Ebene einer intergenerationellen Konversation enthalten. Der Andere kann auch nur vorgestellt sein wie im Film von Yvann Yagchi, der in einen fiktiven Dialog mit seinem früh verstorbenen Großvater tritt, einem palästinesischen Intellektuellen, der nach Beirut vertrieben wurde und dort bald danach verstarb. Die eigene Identitätskonstruktion verläuft immer über diese Begegnung mit dem Anderen.

GW: Schon in „Ici et ailleurs“ von Godard/Miéville war die Begegnung mit dem Anderen ein zentrales Thema. Könnte man das Essayistische also auch in dieser Perspektive fassen?

PG: Genau, denn wenn man, wie es gern geschieht, sagt, dass der Essayfilm subjektivistisch sei, dann geht es dabei auch darum, die Subjektivität des Anderen in den Blick zu bekommen. Irgendwo schreibt der phänomenologische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, dass alle politischen Probleme daher rühren, dass wir Subjekte sind, die anderen aber nur als Objekte behandeln, so als wären sie nicht genauso Subjekte wie wir selbst. Die Perspektive der Intersubjektivität, die hier gemeint ist, dass ich also immer auf der Basis des Wissens handle, dass du ein Subjekt bist wie ich, ist nicht selbstverständlich, ihr muss Substanz gegeben werden und sie muss aufrechterhalten werden.

In Israel-Palästina haben wir eine Situation, in der aus der Negierung des Anderen als Objekt eine apokalyptische Perspektive geworden ist, die jede wünschbare Zukunft blockiert. Das ist natürlich kein speziell nahöstliches Problem. Wenn ein Drittel der Leute in Österreich die FPÖ wählt, dann geht es dabei auch um die Abschaffung einer bestimmten Andersheit, einer anderen Subjektivität, die als Bedrohung erlebt wird und die zum Verschwinden gebracht werden soll.

GW: Ich möchte gerne auf einige der Filmautor:innen zurückkommen, deren Filme auch im Filmmuseum gezeigt werden: Das sind Ula Tabari, palästinensische Filmemacherin im Pariser Exil und Udi Aloni, ein israelischer Filmemacher, der in New York lebt. Mir scheint, dass beide einen Innenblick mit einem Außenblick verschränken.

PG: Ula Tabari und Udi Aloni gehören zur gleichen Generation, die durch das Scheitern des Osloer Friedensprozesses geprägt wurde. Eine weitere von Dir angesprochene Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie sich als Künstler:innen in der Diaspora verorten. Udi Aloni sagt am Ende von "Local Angel", er fühle sich eigentlich nirgends mehr zu Hause, sein Zuhause sei gedanklicher, symbolischer Art. Er affirmiert damit eine bestimmte jüdische Tradition, die mit den Begriffen Exil und Diaspora verknüpft ist. Sowohl Aloni als auch Tabari sind im Verhältnis zu ihren jeweiligen sozialen Kollektiven in einer ziemlich einsamen Position. Sie sind nicht Teil irgendeiner Bewegung, sondern agieren weitgehend unabhängig. Ihre Filme sind relativ marginal, obwohl sie die Dinge mit enormer Präzision und Radikalität in den Blick nehmen. Beide treten in einen Dialog mit ihren Eltern und entwickeln daraus eine Investigation, die nicht nur nur im geopolitischen, sondern auch im psychogeographischen Raum stattfindet, in der Subjektivierungslandschaft, der Traumazone Palästina-Israel.

Für Ula Tabari, die als Akteurin der Recherche in ihren Filmen selbst auftritt, ist das Thema der Subjektivität als israelische Araberin bzw. palästinensische Israelin prioritär, weil sie – anders als Palästinenser:innen im Exil oder in den besetzten Gebieten – als in Nazareth geborene und aufgewachsene Person im Schulsystem und in Form staatlicher Inszenierungen eine ganz bestimmte staatliche Identitätspolitik über sich ergehen lassen musste. Tabaris "Private Investigation" ist daher ihre eigene filmische Unabhängigkeitserklärung.

Die moderne Form des politischen Kinos ist nach Gilles Deleuze7 ein filmischer Modus, in dem es nicht mehr darum gehen kann, das "Volk" anzurufen, die Massen zu visualisieren und sich als historisches Subjekt zu inszenieren. Das moderne, wie Deleuze sagt: kleine, minderheitliche oder minoritäre politische Kino geht vom Unerträglichen aus. Die künstlerische Arbeit entsteht inmitten von Widersprüchen, Aporien, Unmöglichkeiten – für israelische Araber:innen bzw. palästinensische Israelis etwa die Aporie, im eigenen Land "exiliert" zu sein, also einerseits zu wissen: „Ich bin von hier“, anderseits: "Ich gehöre hier nicht her". Die palästinensische Bevölkerungsgruppe besitzt, obwohl 20% der Bevölkerung Israels, nur noch 2% des Landes. Das Spektrum der Widersprüche ist groß.

Ein Detail, das mich an diesen palästinensischen und israelischen Filmemacher:innen fasziniert, wie eben Udi Aloni und Ula Tabari aber auch Elia Suleiman oder Ariella Azoulay, die alle nationalen Narrativen und hegemonialen Erzählungen gegenüber kritisch sind, ist, dass für sie alle Kafka eine große Rolle spielt, der Autor des Unmöglichen, des Unerträglichen. Für palästinensische Menschen ist die Welt, die Kafka beschrieben hat, ja sehr realistisch, sehr real. Auch bei Edward Said, dem wichtigen palästinensischen Intellektuellen gibt es immer wieder Bezüge zu Kafka. Einmal bezeichnete er eine Reihe von israelischen Gesetzen, die in den 1950er-Jahren dazu dienten, Palästinenser:innen dauerhaft von ihrem Land fernzuhalten als "juristische Fiktion von Kafkaesker Subtilität".8 Nach dem 7. Oktober fiel mir immer wieder eine Bemerkung des arabischstämmigen Germanisten Atef Botros ein, der ein schönes Buch über die Kafka-Rezeption im arabischen Raum geschrieben hat. Er meinte sinngemäß, dass man nach dem Scheitern des panarabischen Traums Anfang der 1970er-Jahre entweder Kafka las oder Islamist wurde.9 Ich denke, dass die Traumata der israelisch-palästinensischen Geschichte immer wieder in solche Verzweigungen gemündet sind, auf beiden Seiten.

Auch Deleuze stützt sich ja auf Kafka, um das minoritäre Kino zu bestimmen, das ein "kleines" Kino ist, so wie die "kleinen Literaturen" über die Kafka bekanntlich einen Vortrag verfasst hat, also über die jüdische Literatur in Prag und Warschau und das jiddische Theater.10 Die Charakteristika und das Potential dieser minderheitlichen Literatur liegen auf einer ganz anderen Ebene als das, was Mehrheit ist. Da handelt es sich nicht um ein quantitatives Verhältnis, sondern um eine andere Qualität. Majoritär, mehrheitlich zu sein, bedeutet, in eine Matrix von hierarchischen Merkmalen eingefasst zu sein, einfach gesagt z.b. weiß, männlich, heterosexuell zu sein. Es gibt dann aber immer Differenzen zu dieser Mehrheitsnorm, die man in sich unterdrücken, auslöschen muss. Der Wunsch, den Anderen in seiner Andersheit zu markieren, ihn verschwinden zu machen, gehört zur majoritären Norm dazu. Dagegen definiert Deleuze Minderheit als etwas Dynamisches, als transgressive, grenzüberschreitende Bewegung entlang von offenen Fluchtlinien. Während der Wunsch, majoritär zu sein letztlich immer etwas Imaginäres bleiben muss, verwirklicht sich das Minoritäre in immer neuen partikularen Begehrensformationen.

Das klingt sehr abstrakt, aber in den Beispielen des essayistischen Kinos werden diese unterschiedlichen Logiken immer wieder neu miteinander ins Spiel gebracht. Georg Seeßlen hat einmal gemeint, dass jeder Essay den heterotopen Keim einer sozialen Bewegung enthalte.11 Das ist eben die Hoffnung, die diese Kunstwerke weiter tragen, auch heute noch, wo die Sorge um Zukunft scheinbar kaum mehr Halt in der Gegenwart findet.

1Grabher, Peter: Hier und anderswo. Palästina-Israel im essayistischen Film (1960-2010), Marburg: Schüren 2021.

2Programmschwerpunkt "Hier und Anderswo. Nachdenken über Israel–Palästina im Essayfilm", 13. bis 20.3.2025, Österreichisches Filmmuseum, https://www.filmmuseum.at/

3Astruc, Alexandre: "Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter", in: Blümlinger, Christa und Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen.Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992.

4Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, in: ds.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/Zürich: Piper 1972, S. 89.

5Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München: Siedler 2012.

6Markers "Lettre de Sibérie" (1957) porträtierte die soziale Wirklichkeit während der sowjetischen Tauwetter-Periode mit den Mitteln des Filmessays.

7Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild (Kino 2), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.

8Edward Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 116f.

9Die Zeit, 5.5.2010.

10Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976.

11Seeßlen, Georg: "Der Essayfilm als politische Geste", in: Basaran, Aylin, Julia B. Köhne und Klaudija Sabo (Hg.): Zooming in and out. Produktionen des Politischen im neueren deutschsprachigen Dokumentarfilm, Wien: Mandelbaum 2013.